29. Oktober 2024

Mehr als ein 0:1

Was Sportbegegnungen zwischen Lettland und Deutschland angeht, so sind vor allem Basketball und Eishockey im Gedächtnis deutscher Sportfans: als Deutschland 2023 überraschend Weltmeister im Basketball wurde, gab es im Viertelfinale den "Thriller in Manila", den knappen 81:79 Sieg Deutschlands, mit einem verworfenen Dreier der Letten in letzter Sekunde. Und obwohl im Eishockey meistens Deutschland bei den Länderspielen gegen Lettland die Oberhand behält (eine WM-Begegnung gewann Lettland zuletzt 2012), sind es doch immer Spiele auf Augenhöhe. Als 2023 Deutschland sensationell Eishockey-Viceweltmeister wurde, gewann Lettland - mindestens ebenso sensationell - die Bronzemedaille

Bollwerke und Zwerge

Aber Fußball? Wer alt genug ist, sich zu erinnern, muss vielleicht an "Rumpelfußballer", ein Begriff der um die Jahrtausendwende herum aufkam, denken. Und beim 0:0 im Spiel gegen Lettland bei der EM des Jahres 2004 schien nichts besser geworden zu sein. "Gescheitert am lettischen Bollwerk", so schrieb der "Spiegel" damals. "Blamage" war wohl eine häufig verwendete Vokabel für die Leistung der Deutschen, galt doch Lettland als "Fußball-Zwerg" (sport1). Im Vorfeld des Spiels war Torhüter Oliver Kahn als "Viertel-Lette" bezeichnet worden, was einigermaßen Aufsehen erregte (Kahn: "Meine Großmutter ist Lettin und mein Vater wurde dort geboren“). Teil der lettischen Mannschaft damals: der lettische Rekord-Nationalspieler Astafjevs ebenso wie Stürmer Māris Verpakovskis, von dem es hieß, dass er die deutsche Abwehr "in Angst und Schrecken versetzte". 

Rigas Schule für Europa

Bankett für die Gäste: die lettische Fußball-Delegation in Frankfurt

Nun spielt also eine lettische Mannschaft aus Riga in der UEFA Europa League - und wer die drei Buchstaben RFS aufzulösen und zu deuten vermag, wird es mit "Rigas Fußball-Schule" übersetzen. Also ein Nachwuchs-Team? Eigentlich nicht. Wichtig vielleicht der Unterschied zwischen "RFS" (Rigaer Fußballschule) und FK RFS (Fußball-Klub Rigaer Fußballschule). Und wer ist Generaldirektor beim lettischen Europaleague-Teilnehmer? Der "alt bekannte" Māris Verpakovskis. "Uns fehlt natürlich noch ein wenig die Erfahrung, in solchem Rahmen und vor solchem Publikum zu spielen", gibt er zu (IR). So ging das erste Spiel in Bukarest mit 1:4 verloren, aber beim Heimspiel gegen Galatasaray aus der Türkei wurde immerhin ein 2:2 Unentschieden erreicht (kicker). Und zu Gast bei Eintracht Frankfurt "nur" 0:1 zu verlieren, erscheint ebenfalls als sehr respektable Leistung. 

Seltene Gelegenheiten

Schon 15 Jahre ist es her, dass ein lettischer Klub in der UEFA-Europa-League spielen konnte - damals war es FK Ventspils (der inzwischen, nach einigen Skandalen, nicht mehr existiert). 2009 gab es noch eine Aufteilung in Gruppen, und Ventspils spielte unter anderem einmal Unentschieden gegen Hertha BSC.  Der "Kicker" schrieb als Spielbericht: "Viel Krampf, wenig Spektakel: den biederen Letten genügten die Grundtugenden, um indisponierte Berliner in Schach zu halten." Die "BILD" schrieb von "lettischen Nobodys". 

Nach dem Spiel von RFS gegen Frankfurt fallen die Berichte doch etwas anders aus, und es wurde sorgsam registriert, dass 56.600 Zuschauern im Stadion waren (die größte Zuschauermenge, vor der RFS bisher je gespielt hatte), und dass auch 600 Letten dabei waren (RFS).Und, siehe da: auch von einem "lettischen Bollwerk" war wieder die Rede (sportschau). Fünf Millionen Euro habe RFS allein schon für das Erreichen der Europa-League von der UEFA eingenommen, verrät Manager Verpakovskis, und für ein Unentschieden gibt es immerhin noch einmal 150.000 Euro (IR)

Homeground im Winter

Spezielle Vorbereitungen wird der Rigaer Fußballklub unternehmen müssen, um laut UEFA-Spielplan am 23. Januar 2025 das Europaleague-Spiel gegen Ajax Amsterdam in Riga austragen zu können. Im Stadion Daugava in Riga sei kürzlich aber eine Rasenheizung verlegt worden, die Ende November in Betrieb gehen werde, meint Verpakovskis. Zusätzlich wolle man den Platz rechtzeitig vorher gegen Schnee abdecken (IR). Die UEFA-Regeln schreiben vor, dass gespielt wird, solange die Außentemperatur nicht unter -15 Grad fällt. In der obersten lettischen ersten Fußball-Liga (Virsliga) dauert der Spielbetrieb in der Regel von Mitte März bis Anfang November - aktuell führt Rīgas FS zwei Spieltage vor Schluß die Tabelle mit sechs Punkten Vorsprung an (Kicker).

Was wird passieren, wird Verpakovskis gefragt, wenn trotz aller Mühen ein Fußballspiel in Riga im Januar nicht möglich sein wird? - Wir schauen uns schon nach Möglichkeiten in Tallinn oder Vilnius um, so die Antwort. "Und wenn das nicht geht, spielen wir in einem anderen neutralen Land." Und dann erinnert sich der Ex-Goalgetter doch tatsächlich an die Qualifikationsspiele zur Teilnahme an der Europameisterschaft 2004. "Da haben wir ein Länderspiel in Riga gegen die Türkei Mitte November gehabt. Der Boden war gefroren, das kannten die Türken nicht". Lettland gewann 1:0, das Rückspiel endete 2:2. Torschütze in beiden Spielen: Māris Verpakovskis. (IR)

27. Oktober 2024

Unheilig

Es gibt Wallfahrtsorte in Lettland - mindestens einen. Jedes Jahr zum Maria-Himmelfahrt-Tag im August versammeln sich Tausende Pilger in Aglona, rund 45 km nordöstlich von Daugavpils gelegen.

In der 1780 fertiggestellten Kirche des 1700-Einwohner-Ortes Aglona befindet sich das Heiligenbild  „Die Gottesmutter Wundertäterin von Aglona”, das nur zu den feierlichen Anlässen während der religiösen Feste hervorgeholt wird und dem Gläubige heilende Kräfte zusprechen. Aglona gilt als "Herz des Katholizismus in Lettland" (Latgale-Travel), Noch zu Sowjetzeiten wurde 1986 hier der 800. aJahrestag des Christentums in Lettland gefeiert.
Kurz vor dem Besuch von Papst Johannes Paul II. in Lettland wurde 1993 der gesamte Vorplatz der Kirche planiert und gepflastert, Bäume abgeholzt und eine als "heilig" geltende Quelle nebenan ganz in Beton eingefasst, auf dass alles für die Massennutzung vorbereitet sei. Der Papst verlieh der Kirche den Titel einer "kleinen Basilika", und 2018 besuchte auch Papst Franziskus den Ort. Und für Gruppen bis zu 53 Personen hält die örtliche katholische Gemeinde jederzeit Übernachtungsmöglichkeiten und Catering bereit. 

Aglona, ein Sehnsuchtsort? 

Zwar ist die Einwohnerzahl der 1995 gegründeten katholischen Diözese Rēzekne-Aglona stark rückläufig (im Jahr 1999 noch 400.000 Menschen, 2022 nur noch 276.000), aber mit 28,7% ist der Anteil der Katholiken konstant und einer der höchsten in Lettland. Die Anzahl der katholischen Priester ist im selben Zeitraum dort sogar von 53 auf 60 gestiegen. Aber die Kirche in Aglona macht inzwischen auch ganz andere Schlagzeilen.

Pāvils Zeiļa, geboren 1945, als Priester ordiniert 1977, ist seit 2005 sogar Ehrenbürger der Stadt Rēzekne. Anfang 2019 wurde Zeiļa jedoch von seinen Aufgaben als Priester der Gemeinden "Unsere lieben Frauen" in Rēzekne, der Mariengemeinde in Dugstigala und der Simon-und-Juda-Gemeinde in Prezma entbunden - aus gesundheitlichen Gründen, wie es hieß.  

Kurz darauf, am 7. März 2019, erhob die lettische Staatsanwaltschaft Anklage in einem Strafverfahren wegen sexueller Gewalt und Menschenhandel - mit Priester Zeiļa als einem der Verdächtigen. Die ersten Presseberichte waren schon 2018 aufgetaucht: ein Mann in "hilflosem Zustand" sei sexuell missbraucht worden, insgesamt gäbe es drei Verdächtige, darunter der Priester. Auch von "Menschenhandel" war die Rede. Zeiļa verbrachte einige Zeit in Untersuchungshaft, wurde jedoch später gegen eine Kaution von 5.000 Euro freigelassen. Mehr als fünf Jahre später, am 27. September 2024, erging endlich ein Urteil: Zeiļa wurde  zu einer Gefängnisstrafe von sechs Jahren und zehn Monaten verurteilt. 

Knast für den Sittenwächter

Hat das Strafverfahren Aufklärung gebracht, was da genau passiert ist?  Anfangs hatten noch Priesterkollegen, so wie Dainis Kašs, Zeiļa in Schutz nehmen wollen. "Gemeindemitglieder rufen mich weinend an und sagen, das ist nicht wahr!" Zeiļa können nicht einmal mit einem Computer umgehen, so Kašs, und habe zu Hause lediglich einen Fernseher. "Ich kenne ihn schon 30 Jahre, und halte ihn für absolut vertrauenswürdig", so Kašs (lsm). Katholische Gläubige schrieben 2018 sogar einen offenen Brief an den damaligen Ministerpräsidenten Kučinskis und seinen Innenminister Kozlovskis in dem sie die Verhaftung des Pfarrers als "Provokation gegenüber Latgale" bezeichneten - Ziel sei es, "ganz Latgale kurz vor dem Pabstbesuch zu erniedrigen" (LA / Jauns) Papst Franziskus wurde Ende September 2018 zu einem Kurzbesuch in Lettland erwartet (vatikannews). Valdis Tēraudkalns, Professor der Theologie an der Universität Lettlands in Riga, sah die Sache gelassener: "Etwas derartiges war doch zu erwarten," sagte er, "warum soll es in Lettland anders sein als in anderen Ländern der Welt? Je offener wir darüber sprechen, desto besser wird es für die Kirche sein." (IR)

Ein Jahr später allerdings berichtete das lettische Fernsehen LTV, der angeklagte Priester halte weiterhin Gottesdienste und nehme auch Gläubigen die Beichte ab. (TvNet) Jānis Bulis, Bischof der Diözese Rēzekne-Aglona, zog sich damals auf die Aussage zurück, Zeiļa sei eben nicht bei der Diözese, sondern der Marianischen Kongregation angestellt (mariani.lv). Kurz darauf bestätigte Bulis aber, Zeiļa sei inzwischen "in Rente" gegangen, also nicht mehr aktiv (delfi).

Im August 2021 erschien in der Zeitschrift "IR" ein Interview mit Pāvils Zeiļa. Ein Kloster in Italien habe die Kaution für seine zwischenzeitliche Freilassung bezahlt, gab er an (IR); die gegen ihn erhobenen Anschuldigungen bezeichnete er als "Fantasien". 

In Angesicht des Eisbergs

Nun also sechs Jahre und zehn Monate Gefängnis - und noch vier Jahre und sechs Monate "Bewährung unter Aufsicht" oben drauf. Der 79-jährige Pāvils Zeiļa wurde der sexuellen Gewalt (einer Gruppe von Personen) gegen einen geistig behinderten Mann für schuldig befunden. Ein weiterer Angeklagter erhielt neun Jahre und zehn Monate Gefängnis und fünf Jahre Bewährungsaufsicht. Ihm wird sexuelle Gewalt gegen ein weiteres, damals minderjähriges Opfer vorgeworfen. Ein dritter Angeklagter ist inzwischen verstorben. 

Von Seiten der katholischen Kirche Lettlands gibt es nur spärliche Kommentare. „Bis zu einem endgültigen Urteil des Gerichts verzichtet die Kirche auf weitere Kommentare“, heißt es immer noch. Auch Priesterkollege Dainis Kašs, ebenso wie Zeiļa ein Marianer, gibt keine weiteren Interviews. Zwei bisher nicht benannte Personen kommen ins Spiel: Ieva Leimane-Veldmeijere leitet eine Organisation, die der betroffene behinderte Mann um Hilfe bat. Und dem Anwalt Uldis Lapiņš werden mehrere Versuche vorgeworfen, den Mann von einer Aussage vor Gericht abzuhalten. Leimane-Veldmeijere erklärt den Grund für die Einwilligung, ihren Namen jetzt öffentlich zu nennen, so: "Ich möchte allen Verschwärungsgerüchten und -theorien entgegentreten, die bezüglich dieses Falles im Umlauf sind." Eigene Beschuldigungen habe ihre Organnisation keine erhoben: "Das ist alles Ergebnis polizeilicher Ermittlungsarbeit." Oft wüssten eben Betroffene nicht, wohin sie sich wenden sollten, und da viele Fälle gar nicht zur Anzeige gelangen, sei der Fall des Priesters Zeiļa "nur der sichtbare Teil des Eisbergs". (IR)

Priester Zeiļa wurden Fälle sexueller Gewalt vorgeworfen, beide Male traf er das Opfer im Pfarrbüro in Rēzekne. Er ist aber nicht der einzige und nicht der erste Geistliche in Lettland, dem sexuelle Gewalt vorgeworfen wird. 2023 wurde ein anderer katholischer Priester wegen des Verdachts des sexuellen Missbrauchs eines Kindes verhaftet, und ein Geistlicher einer baptistischen Gemeinde wurde wegen Gewalt gegen fünf Mädchen (das jüngste Opfer sieben Jahre alt) zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt. (IR)

Ein anderer Fall war 2010 der Fall eines katholischen Pfarrers, der erst zur evangelischen Kirche übertrat und dann im Verdacht des sexuellen Missbrauchs von minderjährigen Waisenhausschülern stand. Die damaligen Untersuchungen endeten 2015 nach dem Tod des Beschuldigten. 

Von kirchlicher Seite wurde angekündigt, dass nunmehr alle Personen in Diensten der Kirche, die mit Kindern umgehen, zur Teilnahme an Seminaren zum Thema Kinderschutz verpflichtet werden sollen. "Fahren sie nicht allein mit einem Kind im Auto oder halten sich in geschlossenen Räumen ohne die Anwesenheit von Erziehungsberechtigten auf", heißt es da, "schützen Sie sich selbst und setzen Sie sich nicht unnötigen Verdächtigungen aus." (IR)