Es gibt Wallfahrtsorte in Lettland - mindestens einen. Jedes Jahr zum Maria-Himmelfahrt-Tag im August versammeln sich Tausende Pilger in Aglona, rund 45 km nordöstlich von Daugavpils gelegen.
Kurz vor dem Besuch von Papst Johannes Paul II. in Lettland wurde 1993 der gesamte Vorplatz der Kirche planiert und gepflastert, Bäume abgeholzt und eine als "heilig" geltende Quelle nebenan ganz in Beton eingefasst, auf dass alles für die Massennutzung vorbereitet sei. Der Papst verlieh der Kirche den Titel einer "kleinen Basilika", und 2018 besuchte auch Papst Franziskus den Ort. Und für Gruppen bis zu 53 Personen hält die örtliche katholische Gemeinde jederzeit Übernachtungsmöglichkeiten und Catering bereit.
Aglona, ein Sehnsuchtsort?
Zwar ist die Einwohnerzahl der 1995 gegründeten katholischen Diözese Rēzekne-Aglona stark rückläufig (im Jahr 1999 noch 400.000 Menschen, 2022 nur noch 276.000), aber mit 28,7% ist der Anteil der Katholiken konstant und einer der höchsten in Lettland. Die Anzahl der katholischen Priester ist im selben Zeitraum dort sogar von 53 auf 60 gestiegen. Aber die Kirche in Aglona macht inzwischen auch ganz andere Schlagzeilen.
Pāvils Zeiļa, geboren 1945, als Priester ordiniert 1977, ist seit 2005 sogar Ehrenbürger der Stadt Rēzekne. Anfang 2019 wurde Zeiļa jedoch von seinen Aufgaben als Priester der Gemeinden "Unsere lieben Frauen" in Rēzekne, der Mariengemeinde in Dugstigala und der Simon-und-Juda-Gemeinde in Prezma entbunden - aus gesundheitlichen Gründen, wie es hieß.
Kurz darauf, am 7. März 2019, erhob die lettische Staatsanwaltschaft Anklage in einem Strafverfahren wegen sexueller Gewalt und Menschenhandel - mit Priester Zeiļa als einem der Verdächtigen. Die ersten Presseberichte waren schon 2018 aufgetaucht: ein Mann in "hilflosem Zustand" sei sexuell missbraucht worden, insgesamt gäbe es drei Verdächtige, darunter der Priester. Auch von "Menschenhandel" war die Rede. Zeiļa verbrachte einige Zeit in Untersuchungshaft, wurde jedoch später gegen eine Kaution von 5.000 Euro freigelassen. Mehr als fünf Jahre später, am 27. September 2024, erging endlich ein Urteil: Zeiļa wurde zu einer Gefängnisstrafe von sechs Jahren und zehn Monaten verurteilt.Knast für den Sittenwächter
Hat das Strafverfahren Aufklärung gebracht, was da genau passiert ist? Anfangs hatten noch Priesterkollegen, so wie Dainis Kašs, Zeiļa in Schutz nehmen wollen. "Gemeindemitglieder rufen mich weinend an und sagen, das ist nicht wahr!" Zeiļa können nicht einmal mit einem Computer umgehen, so Kašs, und habe zu Hause lediglich einen Fernseher. "Ich kenne ihn schon 30 Jahre, und halte ihn für absolut vertrauenswürdig", so Kašs (lsm). Katholische Gläubige schrieben 2018 sogar einen offenen Brief an den damaligen Ministerpräsidenten Kučinskis und seinen Innenminister Kozlovskis in dem sie die Verhaftung des Pfarrers als "Provokation gegenüber Latgale" bezeichneten - Ziel sei es, "ganz Latgale kurz vor dem Pabstbesuch zu erniedrigen" (LA / Jauns) Papst Franziskus wurde Ende September 2018 zu einem Kurzbesuch in Lettland erwartet (vatikannews). Valdis Tēraudkalns, Professor der Theologie an der Universität Lettlands in Riga, sah die Sache gelassener: "Etwas derartiges war doch zu erwarten," sagte er, "warum soll es in Lettland anders sein als in anderen Ländern der Welt? Je offener wir darüber sprechen, desto besser wird es für die Kirche sein." (IR)
Ein Jahr später allerdings berichtete das lettische Fernsehen LTV, der angeklagte Priester halte weiterhin Gottesdienste und nehme auch Gläubigen die Beichte ab. (TvNet) Jānis Bulis, Bischof der Diözese Rēzekne-Aglona, zog sich damals auf die Aussage zurück, Zeiļa sei eben nicht bei der Diözese, sondern der Marianischen Kongregation angestellt (mariani.lv). Kurz darauf bestätigte Bulis aber, Zeiļa sei inzwischen "in Rente" gegangen, also nicht mehr aktiv (delfi).
Im August 2021 erschien in der Zeitschrift "IR" ein Interview mit Pāvils Zeiļa. Ein Kloster in Italien habe die Kaution für seine zwischenzeitliche Freilassung bezahlt, gab er an (IR); die gegen ihn erhobenen Anschuldigungen bezeichnete er als "Fantasien".
In Angesicht des Eisbergs
Nun also sechs Jahre und zehn Monate Gefängnis - und noch vier Jahre und sechs Monate "Bewährung unter Aufsicht" oben drauf. Der 79-jährige Pāvils Zeiļa wurde der sexuellen Gewalt (einer Gruppe von Personen) gegen einen geistig behinderten Mann für schuldig befunden. Ein weiterer Angeklagter erhielt neun Jahre und zehn Monate Gefängnis und fünf Jahre Bewährungsaufsicht. Ihm wird sexuelle Gewalt gegen ein weiteres, damals minderjähriges Opfer vorgeworfen. Ein dritter Angeklagter ist inzwischen verstorben.
Von Seiten der katholischen Kirche Lettlands gibt es nur spärliche Kommentare. „Bis zu einem endgültigen Urteil des Gerichts verzichtet die Kirche auf weitere Kommentare“, heißt es immer noch. Auch Priesterkollege Dainis Kašs, ebenso wie Zeiļa ein Marianer, gibt keine weiteren Interviews. Zwei bisher nicht benannte Personen kommen ins Spiel: Ieva Leimane-Veldmeijere leitet eine Organisation, die der betroffene behinderte Mann um Hilfe bat. Und dem Anwalt Uldis Lapiņš werden mehrere Versuche vorgeworfen, den Mann von einer Aussage vor Gericht abzuhalten. Leimane-Veldmeijere erklärt den Grund für die Einwilligung, ihren Namen jetzt öffentlich zu nennen, so: "Ich möchte allen Verschwärungsgerüchten und -theorien entgegentreten, die bezüglich dieses Falles im Umlauf sind." Eigene Beschuldigungen habe ihre Organnisation keine erhoben: "Das ist alles Ergebnis polizeilicher Ermittlungsarbeit." Oft wüssten eben Betroffene nicht, wohin sie sich wenden sollten, und da viele Fälle gar nicht zur Anzeige gelangen, sei der Fall des Priesters Zeiļa "nur der sichtbare Teil des Eisbergs". (IR)Priester Zeiļa wurden Fälle sexueller Gewalt vorgeworfen, beide Male traf er das Opfer im Pfarrbüro in Rēzekne. Er ist aber nicht der einzige und nicht der erste Geistliche in Lettland, dem sexuelle Gewalt vorgeworfen wird. 2023 wurde ein anderer katholischer Priester wegen des Verdachts des sexuellen Missbrauchs eines Kindes verhaftet, und ein Geistlicher einer baptistischen Gemeinde wurde wegen Gewalt gegen fünf Mädchen (das jüngste Opfer sieben Jahre alt) zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt. (IR)
Ein anderer Fall war 2010 der Fall eines katholischen Pfarrers, der erst zur evangelischen Kirche übertrat und dann im Verdacht des sexuellen Missbrauchs von minderjährigen Waisenhausschülern stand. Die damaligen Untersuchungen endeten 2015 nach dem Tod des Beschuldigten.
Von kirchlicher Seite wurde angekündigt, dass nunmehr alle Personen in Diensten der Kirche, die mit Kindern umgehen, zur Teilnahme an Seminaren zum Thema Kinderschutz verpflichtet werden sollen. "Fahren sie nicht allein mit einem Kind im Auto oder halten sich in geschlossenen Räumen ohne die Anwesenheit von Erziehungsberechtigten auf", heißt es da, "schützen Sie sich selbst und setzen Sie sich nicht unnötigen Verdächtigungen aus." (IR)
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