27. Oktober 2019

Karl Marks sucht neue Heimat

Dirigenten aus Lettland sind derzeit in vielen Ländern der Welt bekannt: sei es Andris Nelsons, Mariss Jansons, Sigvards Klava oder Andris Poga.
Jansons, der in München das Symphonieorchester und den Chor des Bayerischen Rundfunks dirigiert, bekam kürzlich den "Opus Klassik" für sein Lebenswerk - das Große Bundesverdienstkreuz mit Stern, den Ernst von Siemens Musikpreis und den Bayerischen Maximiliansorden hat er bereits. Poga, Musikdirektor des lettischen Nationalorchesters Riga, ist eine Art "Deutschlandreisender": als Gastdirigent in Dresden, beim Deutschen Symphonie-Orchester Berlin, beim NDR Elbphilharmonieorchester, dem WDR Sinfonieorchester Köln.

Mit Lettland verbunden ist aber auch Karel Mark Chichon. (in lettischer Schreibweise = "Karels Marks Šišons"). Der 1971 in London als Kind gibraltarischer Eltern geborene Chichon war von 2011 bis 2017 Chefdirigent der Deutschen Radio Philharmonie Saarbrücken Kaiserslautern; als er diesen Posten damals wegen Einsparungen beim Saarländischen Rundfunk unter Protest aufgab, bezeichnete ihn die Presse als "heißblütigen Briten mit Wohnsitz Malaga" (Saarbrücker Zeitung). 2017 sagte Chichon allerdings rückblickend, er habe in Saarbrücken bereits lange vorher gewusst dass er nicht verlängern werde (NRA). Gleichzeitig sprach er im Interview mit der "Neatkarīgā Rīta avīze" deutschen Orchestern ein gewisses Maß an "Vituosität" ab - der emotionale Kontakt zum Orchester sei einfach nicht so eng gewesen.

Königin Elisabeth II ernannte Chichon 2012 zum „Officer of the British Empire“. Im Jahr 2016 wurde er in Anerkennung seiner Verdienste zum "Fellow der Royal Academy of Music" ernannt. Nun soll er die Staatsbürgerschaft Lettlands, ein hohes Gut nach dem immer noch viele Tausende Einwohner Lettlands vergeblich streben, verliehen bekommen - ehrenhalber (lsm / LA). Eine Reaktion auf den "Brexit"? Chichon ist britischer Staatsbürger.

Nun ja, Chichon hat 2006 erfolgreich eine Lettin geheiratet: die auch in Deutschland bekannte Opernsängerin Elīna Garanča. Aus dieser Ehe sind bisher zwei Kinder hervorgegangen: gemäß lettischer Schreibweise sind es Katrīna Luīze Šišona (geb. 30.9.2011) und Kristīna Sofija Šišona (10.1.2014). Diese beiden Kinder allerdings sind bereits lettische Staatsbürgerinnen.

Wird das Ehepaar Šišona-Garanča nun also zukünftig in Lettland leben? Darauf deutet eigentlich nichts hin. Zwar war Chichon 2009 - 2012 unter anderem auch Chefdirigent und Künstlerischer Leiter des Lettischen Nationalen Symphonieorchesters, aber ein ähnlicher Job steht momentan nicht in Aussicht. Im vergangenen Jahr konzertierte Chichon u.a. zusammen mit dem lettischen Pianistengenie Vestards Šimkus (Šišona un Šimkus paralēles). In einem Interview mit LSM bekannte er: "Ich freue mich in Lettland zu sein, hier fühle ich mich zu Hause, und die Energie, die den Orchestern Lettlands zu eigen ist, die ist wirklich besonders, und gleiches würde ich vielen anderen Orchestern wünschen." Also: Heimat in Lettland, aber jedenfalls in der Nähe von Orchestern. Im Lettischen Radio klingt Chichon wesentlich nüchterner: "Ich bin nicht gekommen um mich zu verbrüdern, sondern zu arbeiten."

In einem Interview bei "Diena" kommentiert Chichon einen Teil seiner bisherigen Arbeitsorte: "Auf Gran Canaria habe ich einen Konzertsaal von Weltklasse-Niveau - so etwas hätte ich mir in Saarbrücken gewünscht." DIENA-Journalistin Inese Lūsiņa fragt noch weiter: "Und was ist das Allerwichtigste bei der Arbeit dort?" Chichon unverhohlen: "Der enge Kontakt zur Regierung. Wenn ich Geld brauche, dann gibt die Regierung es mir. Ich kann anrufen und sagen 'hier ist ein Problem, bitte lösen Sie es' - und es wird gemacht."

Nun ja, mit dieser Herangehensweise wird er vermutlich genau der richtige Staatsbürger Lettlands werden. Über die Vereinbarkeit von internationalen Engagements und Familie sagt Chichon: "der Schlüssel dazu ist ein präzise logistische Planung; wenn unsere Kinder in unserem Haus in Malaga sind, dann bin ich zusammen mit Elīna in Las Palmas oder in Wien. Immer wenn ich zwei Wochen weg war, dann versuche ich die nächsten zwei Wochen zu Hause zu sein. Die Mädchen wissen immer, entweder ist Papa oder Mama da. Und wenn wir beide auf Tournee sind, hilft auch mal meine Mutter aus." (Diena) Also: bisher ist das nicht Lettland. Aber vielleicht zählt die lettische Regierung das Künstlerehepaar längst zur "lettischen Diaspora"?

Elīna Garanča selbst sagte einmal auf die Frage, was sie an Lettland am meisten liebt: "Den Sommer. In Spanien ist der Sommer sehr, sehr heiß, die Sonne verbrennt alles, die Landschaft wird gelbbraun. Dann sehnte ich mich sofort nach etwas Grün, der Heimat! In Österreich ist es zwar grün, aber rund herum sind Berge. Das ist auch nicht meins - von Kind auf bin ich gewohnt, dass ich noch allen Seiten den Horizont sehen kann."  (delfi)

Demnächst wird eine spezielle Kommission des lettischen Parlaments über Chichons "Ehren-Staatsbürgerschaft" entscheiden. Die Befürworter, unter denen sich Abgeordnete nahezu aller im Parlament vertretenen Parteien befinden, argumentieren damit, Chichon habe über die enge Zusammenarbeit mit dem Lettischen Nationalen Symphonieorchester hinaus sich auch für die Verbreitung der Musik verschiedener lettischer Komponisten wie Ādolfs Skulte, Emīls Dārziņš, Raimonds Pauls, Andris Dzenītis und Ēriks Ešenvalds eingesetzt. (LA)

19. Oktober 2019

Geboren in Lettland

Es war eine juristische Spitzfindigkeit, geboren aus der hitzigen Diskussion um die Einbürgerung von Russischsprachigen in Lettland, die keine Staatsbürger/innen Lettlands sind oder sein wollen: wer in Lettland geboren wird, war bisher von der Entscheidung der Eltern abhängig, ob eine lettische Staatsbürgerschaft zuerkannt wird oder nicht - wenn die Eltern lieber einen Nichtstaatsbürgerpaß behalten wollen, als Sprachprüfungen und andere Mühsal auf sich zu nehmen, dann konnten sie auch bisher bestimmen, dass ihr Kind ebenfalls keine lettische Staatsbürgerschaft bekommt. Von freiem Willen des Kindes kann ja bei Neugeborenen noch keine Rede sein.

Nun wird das anders: am 17. Oktober beschloss das lettische Parlament, die Saeima, mit den Stimmen von 60 der 100 Abgeordneten, diese bisherige Regelung abzuschaffen; ab dem 1. Januar 2020 bekommen alle in Lettland geborenen Kinder automatisch die Staatsbürgerschaft Lettlands zuerkannt (lsm/saeima). Eine Ausnahme gibt es allerdings noch: wenn die Eltern entscheiden, dass ihr Kind die Staatsbürgerschaft eines anderen Landes - zum Beispiel Russland - bekommen soll, dann wird dem entsprechend verfahren. Doppelte Staatsbürgerschaften sind in Lettland weiterhin die große Ausnahme.

In der Praxis wird die neue Regelung voraussichtlich jedoch nur geringe Auswirkungen haben, bzw. wenige Kinder betreffen: im Jahr 2016 47 Kinder, im Jahr 2017 waren es 51 Kinder. Im Jahr 2018 betraf es 33 Kinder. In den vergangen fünf Jahren waren es etwa 300 Neugeborene, die nicht zu Staatsbürgern wurden, da ihre Eltern diese bereits bestehende Option nicht wahrnahmen. Nun wird es also nur noch zwei Möglichkeiten geben: wer nicht bei Geburt die Staatsbürgerschaft eines anderen Landes bekommt, wird Lette bzw. Lettin.

Der Anstoss zur Neuregelung war noch von Präsident Vejonis gekommen, der bis Juli 2019 im Amt war, dessen Vorschläge aber das bis zur Wahl am 6.Oktober 2018 im Amt befindliche Parlament immer abgelehnt hatte. Zuletzt war die Regelung für in Lettland Neugeborene 2013 erleichtert worden: bis dahin war noch die Zustimmung beider Eltern verpflichtend vorgeschrieben, um einem Kind die lettische Staatsbürgerschaft zusprechen zu können.

Die Zahl der Einwohner Lettlands mit dem "Ausnahmestatus", im Besitz eines Passes der Republik Lettland zu sein, mit dem dann aber der Status des sogenannten "Nichtstaatsbürgers" festgeschrieben ist, sinkt seit Jahren. 1995 waren es noch 731.078 Personen, im Jahr 2000 582.175; 2019 sind es noch 205.565 Menschen (csb) der inzwischen 1.919.986 Einwohner. Teil dieser Einwohnerschaft sind heute noch 60.896 Bürger eines anderen Staates (also Ausländer, davon 41.480 mit russischem Pass), und 164 tatsächlich "Staatenlose" - also Menschen ohne Pass irgendeinen Landes.
Der Anteil lettischer Staatsbürger an der Gesamtbevölkerung beträgt gegenwärtig 86,11%, der Anteil ethnischer Lett/innen unter den Einwohnern beträgt 62,32%.

13. Oktober 2019

Frau Krampa auf Reisen

Zweimal wurden in Lettland in den vergangenen Jahren traditionelle Wollhandschuhe in größerer Anzahl verteilt: am 18. November 2018, als Geschenk an alle Neugeborenen dieses Tages, dem 100.Geburtstag Lettlands (lv100.lv). Noch bekannter aber war die Wollhandschuh-Aktion von 2006, als alle Teilnehmer/innen des ersten NATO-Treffens auf dem Gebiet eines Ex-Sowjetstaates zwei Stück Kunsthandwerk in Geschenkschachtel erhielten - 4500 Paare Wollhandschuhe. "Der Handschuh ist nicht nur ein rituelles Objekt, sondern stellt alle wichtigen Momente unseres Lebens dar" - so formulierte es die Kampagne "Lettland100".

Welche Gastgeschenke Annegret Kramp-Karrenbauer (Annegrēta Krampa-Karrenbauere), Deutschlands "Greta" also, diesmal in Riga überreicht worden sind, ist nicht überliefert. Ein wenig fühlen wir uns erinnert an den Besuch des lettischen Präsidenten Vejonis zu Anfang diesen Jahres: in Deutschland muss er erst noch seinen Namen bekannt machen, in Lettland wurde längst über seine Nachfolge diskutiert (Blogbeitrag).

Jedenfalls ist "AKK" in Lettland noch nicht in erster Linie als potentielle Nachfolge-Angela auf dem Schirm. Seit 2006 veranstalten die lettischen Gastgeber jetzt den "Riga Summit", und legen das Thema "Sicherheit" auch bedeutend weiter aus, als es die deutsche Regierungssichtweise gerne hätte - während für Kramp-Karrenbauer schon die Stationierung deutscher Soldaten in Litauen als Nachweis für "Deutschland übernimmt Verantwortung" läuft (siehe Ministerium),

Während die deutsche Ministerin betont, der "größte Truppensteller" zu sein, und herausstellte, das deutsche "Engagement" in Litauen sei "nicht zeitlich begrenzt", tauchen in der lettischen Berichterstattung zunächst ganz andere Themen auf. "Deutsche Ministerin: Nord-Stream ist wohl nicht mehr zu stoppen", schreibt lsm. Auch Kramp-Karrenbauers Befürwortung einer Erhöhung des deutschen Beitrags zu NATO in Richtung der 2% findet überall Erwähnung; "so wie es auch Trump fordert", schreibt lsm. In sofern ist es konsequent, dass die deutsche "FAZ" in ihrem Betrag betont, "drüben werde mitgehört" - gemeint sind hier allerdings eher die Fake-News-Produzenten auf russischer Seite.

Medial läuft die deutsche "Versicherungsministerin" auch am zweiten Konferenztag dem Kanzlerthema hinterher - in Person der in den lettischen Medien gern immer wieder gezeigten grinsenden Begeisterung von Ex-Kanzler Schröder, mit der er seinen lupenreinen-Demokraten-Freund Putin in den Arm nimmt (Panorāma). Diese Zusammenarbeit - und damit wieder beim Thema Nord-Stream angekommen - scheint den lettischen Medien immer noch um einiges gewichtiger zu sein als "Frau Krampa" in Riga.

Auch der US-Präsident war ja zuletzt durch "Strickmoden" aufgefallen: sein kurdisches Muster nach dem Motto "Einen links, einen rechts, einen fallen lassen" erzeugt nicht überall Begeisterung. Aus der lettischen Perspektive ist nicht nur deshalb die Frage der Zuverlässigkeit von NATO-Zusagen um einiges gewichtiger als mögliches Interesse für die Feinheiten deutscher Innenpolitik. Auch am 4. Februar 2019 hielt sich eine deutsche Verteidigungsministerin schon einmal zu einem Besuch in Riga auf - um kurz danach auf völlig anderem Gebiet Schlagzeilen zu machen. Wie lange wird Kramp-Karrenbauer den Militärs erhalten bleiben? Bisher wirkt vieles eher als "Ministerin der Ausflüchte". Erneut auf das Nord-Stream-Projekt angesprochen, ein AKK-Zitat: "Unter Leitung von Kanzlerin Merkel versucht die gegenwärtige Regierung in Gesprächen zu erreichen, dass die Sicherheitsinteressen der Ukraine und anderer Staaten beachtet werden. Aber wenn man insgesamt betrachtet, wie weit das Projekt schon entwickelt ist, da ist ein Abbruch ziemlich unrealistisch." (bnn)

Vielleicht gibt es da also doch Gemeinsamkeiten von Sicherheitslage und deutscher Innenpolitik: Kramp-Karrenbauer als das Modell "lass weiterlaufen, was einmal so schön am Laufen ist." Was sich daraus für die Sicherheitslage Lettlands und der baltischen Staaten ergibt - vermutlich wird Deutschland hier nicht der entscheidende Faktor sein. In wenigen Tagen wird der ukrainische Präsident Zelenski in Riga erwartet.