10. Oktober 2020

Grenzenlose Digitalexperimente

Seitdem Lettland wieder ein eigenständiger Staat ist, hat es im Austausch mit Deutschland schon sehr unterschiedliche Regelungen gegeben. Wir erinnern uns noch an die Hunderte Meter langen Menschenschlangen vor den Gebäuden in Riga, die Anfang der 1990iger Jahre provisorisch als deutsche Botschaft fungierten, und die den Ruf Deutschlands als perfekt durchorganisierter Bürokratenstaat zementieren halfen - ein Reisevisa wurde damals nur nach teilweise wochenlanger Prüfung der schriftlich (analog, natürlich) eingereichten Unterlagen erteilt. 

Bis 2010 dauerte es, dass Deutschland dem EU-Mitglied Lettland (Beitritt 2004) gleiche Rechte bei der Arbeitnehmerfreizügigkeit gewährte. 

Und heute? Niemand, der die erwähnten Zeiten erlebt hat, hätte sich wohl vorstellen können, dass einmal Bayern Gäste aus Bremen, oder Kieler Gäste aus Hessen ablehnen würden. Nein, es sind keine neuen Ausweise eingeführt worden, und alle Genannten gelten weiterhin als EU-Bürger*innen. Entscheidende Klippe für Austausch, Besuche und Tourismus sind jetzt: Testergebnisse und Riskoampeln. Von Deutschland nach Lettland, oder umgekehrt - es scheint momentan fast komplizierter als alle früheren Visaregelungen. Vor allem auch deshalb, weil Hin- und Rückreise völlig unterschiedlich ablaufen könnten. 

alles rot? Nur noch wenige Einreise-
möglichkeiten bleiben (hier eine
Übersicht des Flughafens Riga, 10.10.20)

Was machen diejenigen, die reisen müssen? Da gibts einerseits die Sportler*innen. Bei manchen klingen die Planungen noch ganz einfach, wie im Autoland Deutschland eben: "Es gibt zwei Weltcups, die nicht wirklich in Autonähe sind. Der eine ist in Sigulda", so wird die bayrische Rodelqueen Natalie Geisenberger zitiert (Sport1). Ihre Sportler-Kolleg*innen aus Austria haben sich gleich einen eigenen Tourbus organisiert: "wie die Popstars, Madonna oder AC/DC", urteilte die österreichische Presse (Kurier). 

Ab dem 12. Oktober wird es in Lettland ein neues System mit dem Namen "Covidpass" geben. Das soll Einreisende dazu bewegen, bereits 48 Stunden vor Erreichen der lettischen Grenze auf der entsprechenden Webseite einen Fragebogen beantwortet zu haben. Dieser schließt Fragen nach dem Reiseverhalten in den vergangenen 14 Tagen ebenso ein wie die Zusendung eines QR-Codes, der dann gegenüber den lettischen Behörden vorgezeigt werden soll - ebenfalls vor dem Einsteigen in ein Flugzeug. Bei Verstößen gegen diese Regeln können Geldstrafen bis zu 2000 Euro verhängt werden (mk.gov.lv / Info der AHK). 

Tja, ganz ähnlich war es zu Sowjetzeiten, erinnern wir uns (wer sich so weit zurück erinnern kann). Nur, dass im neuen lettischen Fragebogen nicht nach eventuellem Waffenbesitz oder Schmuck gefragt wird. Andere Zeiten, andere Sitten - heißt es ja sonst immer. Hier muss wohl gelten: alte Sitten kommen immer wieder (wenn nur die Umstände es zu erfordern scheinen). 

Und was sagt die Deutsche Botschaft dazu? Dort wird inzwischen ein weiteres Tool angeboten zum Umgang mit den Umständen. Es heißt "elektronische Erfassung von Deutschen im Ausland" (abgekürzt ELEFAND). Dort wird versucht nahezulegen, dass nur die Eintragung aller erforderlichen Daten "effektive konsularische Hilfe" ermögliche. Also doppelte Mühen: bei den lettischen Behörden per "Covidpass", und dann sich schnell noch als "ELFAND" registrieren. Das war's? 

Ach, wer will schon nach Lettland - so hören wir schon den einen oder die andere seufzen. Wenn wir den Zahlen der Seite "EU-Info" glauben können, arbeiten gerade mal 200 Deutsche in Lettland. Zwischen 2008 und 2017 sollen 851 Deutsche nach Lettland emigriert sein - aber 890 zogen wieder zurück (auswandern-info.com). 2017 lebten offiziell 387 Deutsche in Lettland. Es gibt aber, außer Sportler*innen, Politiker*innen und Beamten, noch eine Gruppe, die freie Reisemöglichkeiten zwischen Deutschland und Lettland sehr begrüßen würde: Ärzte und Studierende der Medizin. Nein, damit sind nicht die lettischen Ärzte aus Wien, Paris und Berlin gemeint, deren digitalen Meinungsaustausch die lettische Botschaft im April 2020 organisierte (sogenannte: Diaspora-Ärzte). 

Es sind vor allem die deutschen Medizinstudent*innen in Riga. Die "Rīgas Stradiņa universitāte" (RSU) sei eine der wenigen Universitäten, die einen Studienstart auch zum Sommersemester anbietet, also zum Februar 2021. Bewerbungsschluß: 1. Dezember. Auf einer eigenen, deutschsprachigen Webseite wirbt die Uni um Interessierte aus Deutschland, die das schöne Gefühl genießen möchten, Medizin ohne Numerus Clausus studieren zu dürfen. Kostenlose Beratung inklusive. Von den insgesamt 7.700 Studierenden an der RSU kämen 1.600 aus dem Ausland; davon über 40 % aus Deutschland, so steht es hier zu lesen. Also: zumindest diese Deutschen werden sicher darauf warten, dass die hinderlichen Corona-Umstände auch mal wieder wegfallen.