28. Oktober 2011

Würmer, Panzer, und die Legende von Kangars

Der brave Valdis -
bei der nächsten
Krise bald
"allein zu Haus' "?
Am 25.Oktober 2011 begann die dritte Amtszeit von Regierungschef Valdis Dombroskis, indem das neue Regeriungskabinett von einer Parlamentsmehrheit bestätigt wurde. Alles scheint normal, unscheinbar und geordnet weiterzulaufen in Lettland - zumindest für diejenigen, die in erster Linie eine "griechische Krankheit" in Lettland befürchten würden. Dombrovskis steht für bescheidenes Auftreten, zur Einhaltung einer strikten Sparpolitik werden notfalls ganzen Berufsgruppen kurzfristig die Löhne gekürzt, und die Steuern werden besonders für Investoren aus dem Ausland niedrig bleiben. Lediglich die Finanzierungstrategien der EU über 2014 hinaus wurden öffentlich kritisiert und als für Lettland unzureichend bezeichnet. Damit kann Europa - angesichts der vielen anderen europäischen Themen, die zur Zeit viel beunruhigender klingen, ganz gut leben, so scheint es. Dombrovskis - kühler Kopf mit eisernem Willen (European Online). "Schöne Frauen, dämonische Fratzen" - ach nein, dieser Beitrag von letzter Woche in der "Süddeutschen Zeitung" bemühte sich um die Niederungen der lettischen Politik erst gar nicht, gemeint ist hier der Jugendstil in der Architektur.

Verheilen oder vernarben?
einen schönen Herbstspaziergang beispielsweise im
Gaujatal zu machen - viele Letten werden das erheblich
lieber machen als die alltäglichen Politstreitereien
im Detail zu verfolgen
In einigen wenigen deutschsprachigen Medien ist Besorgnis nachzulesen, dass die stärkste Parlamentsfraktion der "Saskaņa" nicht an der neuen Regierung beteiligt wurde - obwohl sie doch bereit war, mit ihren 31 Mandaten einen Regierungschef Dombrovskis inklusive seiner Finanzpolitik anzuerkennen (der mit seiner „Vienotība“ nur über 20 Mandate verfügt). Die "Saskaņa" mit all ihren verschiedenen Fraktionen allerdings als "Russenpartei" zu bezeichnen, wie es die Neue Züricher Zeitung tut, wird ihr nicht gerecht: es gibt keine doppelte Staatsbürgerschaft in Lettland. Spätestens wer die lettische Staatsbürgerschaft und damit auch das Wahlrecht erlangt hat, sollte auch das Recht haben als "Lette" bezeichnet zu werden (lettischer Staatsbürger, russischstämmig, selbstverständlich). Langfristig sind solche Letten nicht anders zu behandeln als zum Beispiel polnisch-stämmige Letten, die heute auf den ersten Blick oft nur noch anhand von Namen mit etwas anderem Ursprung von anderen Letten unterschieden werden können. Zwei lettische Parlamentsabgeordnete hielten ihre Ansprachen bei der Parlamentseröffnung übrigens in "Latgalisch" (wenn ich das hier mal so bezeichnen darf) - auch hier ist die Staatsbürgerschaft keine Frage (die beiden verlangen aber ein gleiches Recht überall Latgalisch öffentlich sprechen zu dürfen). In sofern sind ein Wahlerfolg von 28% der Wählerstimmen nicht gleichzusetzen mit "Russen, die in Lettland leben" oder "Nicht-Staatsbürgern" (die weder den einen noch den anderen Pass anzunehmen bisher bereit waren).

Bedauern von halblinks
Am stärksten wirkt das Bedauern über die Nicht-Regierungsbeteiligung der "Saskaņa" offenbar bei den sozialdemokratisch gesinnten Politikern nach. Die SPD-Bundestagsfraktion gab dazu sogar eine eigene Pressemitteilung heraus (SPD 26.10.2011), und die Ausgabe des "VORWÄRTS" vom 27.10.11 legt nach mit: "Neonazis in der Regierung". Damit ist die zweite Sorge benannt, die schnell eine möglicherweise wirtschafts- und finanzpolitisch solide Regierungsarbeit Dombrovskis überlagern könnte. Bereits vor Beginn der Koalitionsverhandlungen hat Nationalistenführer Raivis Dzintars verkündet: auch in der Regierung werden wir den 16.März feiern! Dieser Tag gilt all denen als heilig, die das Gedenken an lettische SS-Legionen noch höher stellen als den Stolz auf die militärische Geschichte und Verteidigungsbereitsschaft Lettlands (für letzteres wäre der Gedenktag der 11.November, der Lāčplēsis-Tag ausreichend). Seit Dombrovskis dann zur Bedingung für Minister seines Kabinetts das Gebot bekannt gab, nicht an Feiern zum 16.März teilzunehmen, verlangte Dzintars dann plötzlich nur noch 2 Ministerposten für seine Partei - und drängte eher auf die Positionen der Staatssekretäre in der zweiten Reihe (für die Dombrovskis Benimm-Regel wohl nicht gelten wird): tatsächlich erreicht haben hier die Nationalisten dann noch nur einen derartigen Posten, und zwar im Umweltministerium. Die Zuständigkeit für die Integrationsaufgaben dagegen wurden der (jetzt nationalistischen) Kulturministerin weggenommen und dem (von der Zatlers-Partei ZRP geführten) Ministerium für Bildung und Wissenschaft zugeschlagen.

Umweltpolitik im Kompetenzloch
Umweltminister
ohne Kompetenz-
nachweis:
Edmunds Sprūdžs
Die Zukunft der Umweltpolitik in Lettland dagegen muss als sehr unklar bezeichnet werden. Minister wurde hier Edmunds Sprūdžs von der ZRP, der von Ex-Präsident und Partei-Namensgeber Zatlers vor den Wahlen überraschend zum Kandidaten für das Amt des Minsterpräsidenten ernannt worden war. Mühsam musste auch die lettische Presse daraufhin Informationen einsammeln, wer dieser in der lettischen Politik bisher nicht in Erscheinung getretene Sprūdžs eigentlich ist. Wer heute auf der Seite des Ministeriums nachschaut, findet unter "Ausbildung" nur zwei Jahre am 1.Gymnasium der Stadt Riga (kann man ein lettisches Gymnasium innerhalb von zwei Jahren abschließen?), plus eine Ausbildung am "Robert-Kennedy-Collage" in Zürich (dort mit dem Vermerk versehen: "andauernd"). Ein College-Student als Minister also? Das Studium dort dauere in der Regel drei Jahre, ist auf der Webseite der Schweizer zu lesen, koste etwa 8000 Euro pro Jahr (zuzüglich Unterbringungskosten). Von einer Ausbildung als Umweltspezialist ist hier allerdings nichts zu finden. Sprūdžs habe dort "teils als Fernstudent, teils mit persönlicher Präsenz" studiert, ist bei DELFI.lv nachzulesen. Dort steht auch eine für College-Studenten in diesem Fall außergewöhnliche Aufnahmeprozedur nachzulesen: als Student akzeptiert nach einem Gespräch mit dem Rektor, unterstützt von "speziellen Empfehlungen". Bleibt die Frage, welcher Art diese "speziellen Interessen" sind, mit deren Hilfe Sprūdžs offenbar als Politiker aufgebaut wird. Als 2010 am Züricher Collage alle MBA-Module eingestellt wurden, stellte man die verbleibenden Studierenden vor die Wahl: entweder den akademischen Grad MBA zu erlangen, oder eine Dissertation zu schreiben um den Grad eines MSc (Master of Science) zu erlangen. Diese Dissertation wollte Sprūdžs zum Thema Unternehmensführung im Bereich der IT-Systeme in Lettland schreiben - Abgabetermin Januar 2012. Da wird dem Kandidaten seine Erfahrung als Verkaufsleiter bei Hansaworld, dem lettischen Ableger einer schwedischen Softwarefirma, sicher zu Gute kommen.

Was aber macht die Umweltpolitik und der Naturschutz in Lettland einstweilen? Werden sie Einars Cilinskis, der einzig seine langjährige Parteitreue bei den Nationalisten als Karriereleiter nutzen konnte, überlassen? Außer seinem Ausbildungsabschluß als Chemiker (Abschluß 1986) und einer Tätigkeit als Laborgehilfe weist Cilinskis viele Merkmale dessen auf, was politisch seit Jahren in Lettland als "grün" durchgeht: Mitglied des "Vides Aizsardzības Klubs" (Umweltschutzklub, VAK) und der lettischen "Volksfront" seit deren Gründungszeiten, schon 1990 Mitglied des Lettischen Obersten Sowjets ("ich stimmte am 4.Mai 1990 für die Unabhängkeit!"). Statt Wahlerfolgen war Cilinskis in den 90er Jahren lediglich kurzfristig eine untergeordnete Position in der Rigaer Stadtverwaltung beschieden (1993 als Kandidat einer "Grünen Liste" nicht ins Parlament gewählt, 1997 und 2001 nicht mehr in den Rigaer Stadtrat gewählt, 1998, 2002 und 2006 auch nicht ins Parlament gewählt, 2004 und 2009 erfolglos für das Europaparlament kandidiert). Nachdem er 2009 bei "„Tēvzemei un Brīvībai/LNNK”" nach 20 Jahren Mitgliedschaft austrat, um sich "Visu Latvijai" ("Alles für Lettland") anzuschließen, die mit ihren jungen, radikalen Nachwuchskräften bessere Wahl- und Karrierechancen boten, kommt er jetzt also nach der Vereinigung beider nationalistischer Kräfte wieder ins Kandidatenboot zurück und gilt offenbar als "erfahrener Politiker". - Eher ein grauer Dinosaurier aus dem Gruselkabinett braun-grüner Ideologen, als kompetenter Fachmann. Konsequenz: in der Regierungserklärung ist viel von Umwelt (lettisch "Vide") zu finden, aber in ganz anderem Sinne: "Uzņēmējdarbības vide" (Unternehmertätigkeit), "lauku vides saglabāšanai" ("Rettung des Landlebens"),  "Vide un dabas kapitāla saglabāšana" ("Bewahrung des Naturkapitals"), "Latvijas kultūrvides uzturēšanu" (Erhalt des kulturellen lettischen Umfelds). Einzige konkrete Aussage ist die Absicht, umweltfreundliche Verkehrsmittel fördern zu wollen. Gleichzeitig soll aber die "Mobilität der Bewohner auf dem Lande" gefördert werden, was ja wohl nur Straßenbau und Autopolitik bedeuten kann. Eine lettische Abfallverwertungssystematik soll eingeführt werden (waren die bisherigen Maßnahmen so wertlos?), und auch die Energieversorgung soll "effektiver" werden - mit welchen Maßnahmen, bleibt unklar. Als lettische Maßnahme gegen Klimaerwärmung werden Verbesserungen in der Waldwirtschaft angeboten. Das wars schon.

Einziger - aber zweifelhafter - Trost: auch die linke Variante der "Saskaņa" hätte, in all ihrem Einklang, keinen potentiellen fachlich kundigen Kandidaten auf dem Felder der Umweltpolitik aufzubieten gehabt.

Populismus auf allen Seiten
Solchen absehbaren Schwächen der politischen Strategie stehen aber die Schlagworte der öffentlich so gerne geführten lettischen Diskussion gegenüber. Da steht das "Lettisch sein" oder "Russisch sein" eben scheinbar sinnbildend über allem. Ex-Präsident Zatlers gab zeitweise vor, die starren Lager aufbrechen zu wollen, fügte statt dessen aber der politischen Diskussion lediglich ein paar weitere Anekdoten hinzu. "Würmer brauchen wir nicht!" - so lehnte er eine Erweiterung der Regierungsmannschaft auf die "Grünen und Bauern" (ZZS) ab, und meinte wohl die "Untergrabung" durch Kräfte der bisher so einflußreichen Oligarchen. Auch Zatlers vorschnell geäußerter Satz "nur Panzer werden uns von unserer Haltung abbringen, mit 'Saskaņa' eine Koalition einzugehen" wird sich ebenso in das Gedächtnis des Wahlvolkes eingebrannt haben - so, oder so. Die einen (fast Verschmähten) wie die anderen (dann doch allein Gelassenen) müssen in der angeblichen Leitfigur Zatlers einen unsicheren Kantonisten sehen. Und im Zweifel - nicht umsonst heißt es ja: zwei Letten, drei Meinungen - ist derjenige, dessen andere Meinung als absolut unannehmbar hingestellt werden soll, dann ein "Kangars", eine mythische Figur aus dem Epos von "Lāčplēsis" (Bärenreißer) von Andrejs Pumpurs. Während die einen sich selbst gern die Rolle des "Lāčplēsis" verleihen (kämpfend gegen alle Feinde von außen, seien es die Bolschewiken oder deutsche Gutsherren), paktiert Kangars mit den fremden Missionaren und verrät das Geheimnis von Lāčplēsis' übermenschlicher Stärke an die Feinde. Letten verlieren also nur, weil es in den eigenen Reihen "Kangari" gibt, so die Logik dieser vermeintlichen Volksweisheit.
Und diejenigen, die mit der ihrer Meinung viel zu lettisch-freundlichen Haltung der "Russen-Partei" "Saskaņa" nicht einverstanden waren (zumindest nicht mit den Kompromißvorschlägen der SC in den vergangenen Koalitionsverhandlungen), auch diese Kräfte beginnen sich jetzt wieder zu regen. Keine Zeit des gemütlichen Durchregierens, Herr Dombrovskis. Auch wegen den Merkwürdigkeiten in den eigenen Reihen.

Weitere Infos:
Text der Regierungserklärung von Valdis Dombrovskis (lettisch)
Text der Koalitionsvereinbarung (lettisch)

25. Oktober 2011

Regierung Dombrovskis zum Dritten

Mit 57 zu 38 Stimmen (2 Abgeordnete waren nicht anwesend) wurde heute im lettischen Parlament (Saeima) bereits zum dritten Mal eine Regierung unter Führung von Valdis Dombrovskis bestätigt. Damit ist Drombrovskis der erste Regierungschef Lettlands, der dreimal hintereinander im Parlament eine Mehrheit fand (erstmals am 12.3.2009).

Gleichzeitig unterstützte die Mehrheit der Parlamentarier damit folgende Liste der zu ernennenden  Ministerinnen und Minister:
Minister für Verteidiung: Artis Pabriks (V)
Finanzminister: Andris Vilks (V)
Gesundheitsministerin: Ingrīda Circene (V)
Wohlfahrtsministerin; Ilze Viņķele (V)
Außenminister: Edgars Rinkēvičs (ZRP)
Wirtschaftsminister: Daniels Pavļuts (ZRP)
Innenminister: Rihards Kozlovskis (ZRP)
Minister für Bildung und Wissenschaft: Roberts Ķīlis (ZRP)
Minister für Umwelt und Regionalentwicklung: Edmunds Sprūdžs (ZRP)
Ministerin für Kultur: Žaneta Jaunzeme-Grende (VL-TB/LNNK)
Justizminister: Gaidis Bērziņš (VL-TB/LNNK)
Landwirtschaftsministerin: Laimdota Straujuma (V)
Verkehrsminister: Aivis Ronis (parteilos)
(V = "Vienotība", ZRP = Zatlers Reform Partei, VL-TB/LNNK = "nationaler Block").
Dem Ministerkabinett gerhören damit 10 Männer und 4 Frauen an.

Der Abgeordnete Ingmārs Līdaka (Liste der Grünen und Bauern, ZZS) hatte bereits vor der Abstimmung angekündigt, ebenfalls mit der Regierung stimmen zu wollen.
Die Regierungsparteien nehmen damit gegenwärtig nur 50 der 100 Sitze im Parlament ein; über 20 Sitze verfügt die rechtskonservative "Vienotība" von Regierungschef Dombrovskis, 16 Sitze haben die Vertreter des Parteienneulings "Zatlers Reform Partei" ZRP, und 14 Sitze werden von der "nationalen Vereinigung" eingenommen, ein Zusammenschluß rechtsnationalistischer Parteien. Am Morgen hatten auch die sechs vor wenigen Tagen von der ZRP abgespaltenen Abgeordneten eine Koalitionsvereinbarung mit unterschrieben, so dass diese Vereinbarung nun von 56 Parlamentariern unterstützt werden kann.
Die Rolle der Opposition im Parlament bleibt nun für die vom "lettischen Oligarchen" Aivars Lembergs unterstützte "Vereinigung der Grünen und Bauern" ZZS und die "Saskaņa" (was übersetzt werden müsste mit "Einklang" oder "Ausgleich", oft aber in Deutsch "Harmonie" genannt wird), die sich vor allem für die Interessen der russischsprachigen / -stämmigen Bürger Lettlands einzusetzen vorgibt.

19. Oktober 2011

Rote Linien

Das Maximum des Parteiprogramms in konkrete Politik umsetzen - das mag vielleicht ein Leitgedanke vieler Politikerinnen und Politiker in Europa sein, die als Folge von mehr oder weniger erfolgreichem Werben um Wählerstimmen am Ende ihre Mandate zusammenzählen und sich überlegen, in eine Regierung einzutreten oder nicht. Anders in Lettland: hier scheinen die konkreten Zahlen von errungenen repräsentativen Mandaten und die sich daraus ergebenden Machtverhältnisse und Kooperationsmöglichkeiten zwischen den Parteien immer aufs Neue alle völlig zu überraschen.
Nachdem wir das demokratische Experiment, ein ganzes Parlament einfach mal so per Volksabstimmung zu entlassen, nun hinter uns haben muss die Frage erlaubt sein, ob die politische Praxis oder die Arbeit des Parlaments sich nun verbessert hat. Aber die zurückliegenden Koalitionsverhandlungen mit dem Ergebnis, dass Präsident Bērziņš Valdis Dombrovskis heute mit der Regierungsbildung beauftragte, zeigen wohl vor allem eines: die individuelle Lust, vermeindlichen Gegnern und Andersdenkenden einen Erfolg gezielt zu verderben ist wesentlich ausgeprägter als die Genugtuung, gemeinsam mit anderen etwas zu erreichen was vielleicht (mit weniger öffentlicher Aufmerksamkeit) nur einen ersten Schritt auf dem richten Weg darstellen könnte.

Ein Volk von Tugendwächtern
Vieles von dem, was in Lettland an Meinungen und Stellungnahmen zur politischen Situation in diesen Tagen zu lesen und zu hören ist, klingt fast wie in alten "Gutsherren-Tagen" - nur mit umgekehrten Vorzeichen. Der allein bestimmende Gutsherr (das Volk) entließ alle seine hohen Angestellten auf einen Schlag, gab vermeintlich neuen Nachwuchskräften eine Chance, meint aber gleichzeitig das Recht zu haben schon mit der Peitsche in der Hand hinter der Scheune zu warten, falls diese auch nur eine Handlung unternehmen die nicht in seinem Sinne ist.Und diese neuen Angestellten selbst - im vollen Bewußtsein darüber, dass jemand mit der Peitsche drohen könnte - tun alles um sich selbst als die besten, ehrlichsten und tugendhaftesten Interessenvertreter darzustellen, im Gegensatz natürlich zu allen anderen Kolleginnen und Kollegen.
Welche Rahmenbedingungen sind es die verursacht haben, dass so wenig Vertrauen besteht in einen Ausgleich zwischen verschiedenen Interessengruppen in Lettland? Warum meinen einzelne Politiker, durch kurzfristig Schlagzeilen machende Aktionen dem Interesse des eigenen Landes mehr dienen zu können als durch ein offenes Ohr für Interessen anderer, die dann schrittweise gemeinsam erreicht werden könnten?
Eines wurde aber vor allem weit verfehlt: diejenigen, die im Bewußtsein endlich auch mal mitbestimmen zu können das alte Parlament entlassen haben beobachten mit Grausen, wie dieser mögliche Gewinn an demokratischem Bewußtsein von vielen der neuen Amtsträger wieder diskreditiert wird.

Es geht jedenfalls um mehr als nur um das international so viel diskutierte Recht von russischstämmigen Letten (denn um Russen geht es hier ausdrücklich NICHT) auf Mitbestimmung der Geschicke des Landes. Im Vergleich zu den Verhandlungen nach den Wahlen im Oktober 2010 wurden jetzt erheblich mehr Zwischenergebnisse von Gesprächsthemen öffentlich, aus denen durchaus der Wille erkenntlich war Beweglichkeit zu zeigen, den Spielraum eigener Einstellungen zu erweitern und gemeinsame Positionen mit anderen zu suchen. Die Spiegelung dieser verschiedenen Handlungsoptionen in der lettischen Öffentlichkeit zeigt aber, dass viele den politischen Akteuren lieber keinen Handlungsspielraum zubilligen möchten. Ein Mißverständnis der Vorstellungen von "direkter Demokratie"? Möge meine persönliche politische Grundüberzeugung möglichst direkt von den Politikern umgesetzt werden, scheinen sich die meisten zu wünschen - und dabei viel mehr Lust zu empfinden an vermeintlichen Gegensätzen zu anderen, statt das Maß an möglichen Gemeinsamkeiten möglichst offen und ehrlich bei allen demokratisch denkenden Kräften wirklich auszuloten. Es wird diskutiert, als wäre die Frage "Was ist Demokratie?" in den vergangenen 20 Jahren noch unbeantwortet geblieben, und als sie eng verknüpft mit der anderen Frage: "Gibt es Demokratie überhaupt, und wenn ja, was nützt sie mir?"

Vergebene Chancen
Vorerst bleibt nur, ein wenig den Scherbenhaufen zusammenzukehren, der bereits angerichtet worden ist. Das gegenwärtige Hin und Her bei der Regierungsbildung hat genug Bemerkenswertes gebracht, um es zumindest in Erinnerung zu behalten, je nach dem wie die weitere Entwicklung in Lettland läuft. Einige Eindrücke, der Reihe nach.

Saskaņas Centrs und die Karte Ušakovs
Die Verhandlungen zur Beteiligung der Partei mit den meisten Wählerstimmen (28,4%) bezüglich einer Beteiligung an der lettischen Regierung waren diesmal so ernsthaft wie nie zuvor. Zwar endete alles im bloßen Konjunktiv, aber einiges deutete sich an, was besonders der auf seine Popularität als Riger Bürgermeister setztende Nils Ušakovs mit in die Waagschale zu geben bereit war:
- eine Koalitionsvereinbarung nur durch die Partei "Saskaņa", also ohne die lettischen Sozialistische Partei - die nur Teil der gemeinsamen Liste Saskaņas Centrs (SC) ist - wäre möglich gewesen (von den 31 neu gewählten Abgeordneten der SC sind nur drei Sozialisten). Damit wäre Alfred Rubiks, einer der erklärtesten Gegner eines unabhängigen Lettland - denn mit seinem Beharren auf dem sowjetischen als dem besseren System wird er als solcher in Lettland angesehen - außen vor geblieben und seine extremen Positionen könnten nicht mehr mit der Politik der "Saskaņa" identifiziert werden. Kaum begannen derartige Verhandlungspositionen in der lettischen Presse durchzusickern, beeilte sich Rubiks gegenüber der russischen Presse (sic!) von Ušakovs zu distanzieren.
- Ušakovs hatte kurz vor den Wahlen, anläßlich eines (englischsprachig durchgeführten) Diplomatenemfpangs, erstmals von einer "Okkupation Lettlands" gesprochen. Auch das wurde als Schritt in Richtung einer Kompromißbereitschaft in Richtung lettisch-orientierter Parteien gewertet, denn diese hatten eine Anerkennung des ihrer Meinung nach "historischen Faktums" der Okkupation Lettlands zwischen 1940 und 1990 als Vorbedingung für jegliche Zusammenarbeit genannt. Auch wären dann Ewig-Getrige wie Rubiks im Abseits verblieben, nach dessen Ansicht "die sowjetische Armee 1940 auf Bitten der lettischen Regierung" einmarschierte.
- bei den Gesprächen zwischen dem SC-Tandem Ušakovs/ Urbanovics und der Zatlers Partei bzw. Vienotība hatte es kaum inhaltliche / sachliche Differenzen gegeben. Die SC hatte lediglich auf ihrer Rentenkonzeption als eines ihrer Schwerpunktthemen bestanden, aber war bereit Dombrovskis als Ministerpräsident und eine Fortsetzung der strikten Finanzpolitik (für die Dombrovskis steht) mitzutragen.

Zatlers und die doppelte Zurückweisung
Kurz nach den Wahlen konnte sich Ex-Präsident Valdis Zatlers noch als Wahlsieger fühlen: alle "Oligarchen-Parteien" abgestraft, er selbst ging als Verhandlungsführer aller denkbaren Koalitionsvarianten in die Gespräche. Nun bleibt ihm gar nichts. Vielleicht ist ihm noch abzunehmen ernsthaft versucht zu haben einen konstruktiven Weg abseits eingeretener Pfade und Sackgassen finden zu wollen. Aber ein Zwischenergebnis der Gespräche mit dem Satz "davon bringen uns nur noch Panzer ab" zu charakterisieren und sich damit angreifbar zu machen, erinnert wieder an die Zeit als etwas unbeholfen und etwas hölzern agierender, mäßig populärer, durch undurchsichtige Parteiabsprachen ins Amt gekommener Präsident. Überrascht von den Protestaktionen des lettischen Elektorats schwenkte er dann doch auf die "nationale Seite" um und spaltete durch diese Vorgehensweise seine gerade erst frisch gegründete Partei.
Die Jung-Nationalisten dagegen, denen sowohl die auf offener Bühne erfolgende Diskreditierung des alten Parlaments, die Möglichkeit von dessen Entlassung im Rahmen einer "Volksbewegung", wie auch die Stimmung gegen die "Oligarchen-Parteien" viel Wasser auf die eigenen Mühlen gab und die ihre Kandidaten sämtlich in weißen Westen gekleidet präsentierten, sehen das öffentliche Hochjubeln und Niederschreiben sicherlich mit Befriedigung - ein demokratischer Held war Zatlers nicht. Zatlers dagegen saß am 17.Oktober fast an denselbem Platz im Parlament wie am 2.Juni - und erlebte zum vierten Male seine Nicht-Wahl (Bērziņš wurde im 2.Wahlgang mit 53 Stimmen gewählt, gegen 41 Stimmen für Zatlers). Die nun ins Auge gefasste Koalition war bei der ersten Sitzung des neuen Parlaments nicht in der Lage, mit ihren 56 Stimmen ihren Kandidaten Zatlers auch zum Parlamentspräsidenten zu wählen, und nach zweimaliger Nicht-Wahl bekam dann Kandidatin Solvīta Āboltiņa mit 51 Stimmen eine knappe Mehrheit. Was nun? Für Zatlers bleibt außer dem Fraktionsvorsitz (die ihm ja sowieso nicht folgt, wie der Austritt von 6 frisch gewählten Abgeordneten zeigt) nichts mehr übrig, und Finanzkungler Lembergs lachte sich schon am 2.Juni ins Fäustchen mit seiner Aussage: "Zatlers ist der Nachfolger von Nero, der Rom selbst niederbrannte".

Geübte Uneinigkeit: "Vienotība" als Platzhirsch
Auch "Vienotība" vereinigte sich erst vor wenigen Wochen, gebildet von drei Parteien. Nach den Wahlen zunächst als Verliererin dastehend, hat sie sich nun erfolgreich gegen die neue Konkurrenz der "Zalters Partei" behauptet und wird voraussichtlich - wenn auch mit viel Abstimmungsglück - den nächsten Regierungschef, den Finanzminister, und die Parlamentspräsidentin stellen. Zudem ist Klāvs Olšteins, der "Wortführer" der sechs Abtrünnigen der Zatlers Partei, ein ehemaliger Vienotība-Mann und nach Ansicht einiger Kommantatoren immer noch ein "U-Boot" derselben. Olšteins, dessen Frau lange als Mitarbeiterin im Büro von Solvīta Āboltiņa arbeitete, der mit Tränen in den Augen noch am 2.Juni sein Abgeordnetenmandat niederlegte - angeblich aus Protest gegen die Nicht-Wahl Zatlers - hat nun selbst den Erfolg von Zatlers an entscheidender Stelle torpediert. Allerdings wird der Erfolg der Vienotība nun ganz davon abhängen, wie erfolgreich die Regierung Dombrovskis nicht nur die Finanzen stabilisiert, sondern auch andere dringende Themen wie soziale Fragen, Verkehr, Familienpolitik, Gesundheitspolitik und Regionalpolitik in den Griff bekommt und sich gegen die geschlossenen Reihen der Saskaņas Centrs, die keine radikalen und möglicherweise populistischen Posititionen für eine Regierungsbeteiligung aufgeben musste, wird behaupten können.

7. Oktober 2011

Ein Schwede mit lettischen Vorlieben

Tomas Tranströmer ist der diesjährige Nobelpreisträger für Literatur. Ein Mann, der in Lettland nicht unbekannt ist und hier viele Freunde hat. Tranströmer ist auch ein Künstler, der die Bezeichnung "Ostseedichter" verdient hätte. Glücklicherweise sind Texte seiner "Östersjöar", geschrieben in den 70er Jahren, durch das Projekt "Baltic Sea Library" in mehreren ("Ostsee"-)Sprachen verfügbar.
Dass er auch ein Bewußtsein für die Nachbarn Schwedens an den übrigen Ostseeküsten hatte, zeigen vielleicht Zeilen wie diese:
Es handelt von Orten, wo die Bürger unter Kontrolle stehen,
wo die Gedanken mit Notausgängen gebaut werden,
wo ein Gespräch unter Freunden wirklich zum Test wird für das, was Freundschaft bedeutet.

 aus: "Östersjöar", übersetzt von Hanns Grössel
Auch die lettische Kulturszene reagiert sehr erfreut auf die Würdigung von Tranströmers Werk durch den Nobelpreis. Denn der Schwede war fast sein Leben lang befreundet mit einer der bekanntesten lettischen Schriftstellerinnen, Vizma Belševica, und er pflegte auch enge Kontakte zu einem anderen Veteranen der lettischen Literatur, Knuts Skujenieks. Schon in drei Wochen - so die bisherige Planung - plante Tranströmer einen Besuch in Lettland. Trotz des nach einem Schlaganfall gesundheitlich sehr angeschlagenen Gesundheitszustands ist der Besuch ein lang gehegter Wunsch des Schweden.

Im Mansards Verlag in Lettland ist Tranströmers Gedichtsammlung zu haben, übersetzt von Juris Kronbergs und Guntars Godiņš. Der Verlag schreibt in seiner Presseinfo zu diesem Buch: "Als 1998 die schwedische Gemeinde Västerås beschloss einen Literaturpreis zu schaffen, der herausragenden Dichterpersönlichkeiten im Ostseeraum zuerkannt werden sollte, da waren Vizma Belševica und Knuts Skujenieks die ersten Preisträger. Auf die Frage, was die Dichtersprache von anderen Sprachen unterscheide, antwortete Tranströmer damals: 'Die Dichte. Gedichte sind, unter anderem, die verdichtetste Art Informationen mitzuteilen. Trugbilder, Intuitionen, Erinnerungen, Standpunkte - dort ist das alles.' " (in Västerås lebte Tranströmer 35 Jahre lang, und die Stadt zeigt sich in einer Pressemitteilung ebenfalls sehr stolz auf den Preisträger).

In Lettland wird nun gebangt, dass weder Tranströmers angeschlagene Gesundheit, noch die mit der Preisverleihung zusammenhängenden Prozeduren seinen geplanten Lettland-Besuch verhindern. Bekannt ist die große Verbundenheit des Nobelpreisträgers zu einigen Plätzen in Lettland, wie zum Beispiel Jūrmala. Bereits im Jahre 1970 besuchte der Schwede erstmals Lettland - seine lettischen Gesprächspartner von damals (Belševica, Skujenieks) bezeichnen das in der Rückschau als "konspiratives Treffen". Tranströmer selbst schrieb damals in einem Brief an einen Freund in den USA: "Mein Übersetzer [Zigurds Elsbergs, mit Vizma Belševica verheiratet] war nicht darauf vorbereitet mit den Strukturen der Machthaber zusammenzuarbeiten, daher kündigte er seine Arbeit und spielt jetzt Geige in einem Orchester."

Tomas Tranströmer in der "Baltic Sea Library"