16. April 2020

Wo liegt das Land "Diaspora"?

Diaspora - der Gläubige im Land der Ungläubigen. So könnte es der gewöhnliche (gläubige) Mensch verstehen, oder? Für die katholische Kirche in Deutschland, in diesem Fall in Paderborn, liegt die Diaspora unter anderem in .... Lettland und Estland (Domradio). In Litauen natürlich nicht, denn da leben ja die Katholiken - jedenfalls den Statistiken zufolge.

eine Grafik zur lettischen Sendung
"der globale Lette" (lsm)
Wer die eigentliche Wortherkunft ergründen will, greift vielleicht zum Lexikon - oder sieht nach bei Wikipedia. Der dortigen Definition zufolge ist Diaspora "die Existenz religiöser, nationaler, kultureller oder ethnischer Gemeinschaften in der Fremde, nachdem sie ihre traditionelle Heimat verlassen haben". Paderborner in Lettland?

Die Bundeszentrale für politische Bildung weist auf einen Bedeutungswandel des Begriffes hin (altgriechisch διασπορά "Verstreutheit"). Lange Zeit habe der Begriff immer nur im Zusammenhang mit den nach der Zerstörung des Tempels von Jerusalem vertriebenen Jüdinnen und Juden Verwendung gefunden. In den 1960iger und 70iger Jahren seien dann andere "Vertreibungsgeschichten" hinzugekommen - von der Versklavung der Afrikaner*innen, über die Auswanderung der Ir*innen, über das Schicksal der Armenier, die Palestinenser in Israel bis hin zu den "deutschen Ostgebieten".

Nun sind ja die Lettinnen und Letten eigentlich sehr begierig, auch neu eingeführte Fremdworte ("svešvārdi") gleich zu "lettisieren", also neue, aber lettische Worte dafür zu schaffen - als Beispiel dafür mag schon die Einführung der europäischen Währung gelten, die in der lettischen Sprache eigentlich niemals hätte "Euro" heißen dürfen (oder "Eiro"), viel lieber "Eura" oder "Eira". Oder, anderes Beispiel: Liebhaber*innen des Lettischen reden auch nie beim "einkaufen gehen" von "šopings" – sondern von "iepirkšanās".
Der Begriff der "Diaspora" hat aber alle Wirren überstanden. Aus lettischer Sicht ist die "Diaspora" immer dort, wo Lettinnen und Letten fern der Heimat leben (müssen). Eines ist klar: die Angst, das eigene Heimatland wieder zu verlieren, ist aufgrund der Sowjetzeit in Lettland viel frischer als in Deutschland. Dennoch - die "Corona-Krise" hat auch hier Änderungen gebracht.

Bisher, also seit spätestens 1991, war ja eher das "Weggehen" fast zur Selbstverständlichkeit geworden. Zuerst vielleicht zur Pilzernte nach Irland, seit 2011 dann war auch der deutsche Arbeitsmarkt offen (auf den aktuellen Notstand an Pflegekräften braucht ja wohl nicht extra verwiesen zu werden). Die Umfragen waren immer eindeutig: fast ein Drittel aller jungen Lettinnen und Letten konnten sich vorstellen, Arbeit im Ausland zu suchen. Da bleibt dem Rest nur noch, rückhaltlos neidisch zu sein (mangels eigener Möglichkeiten), oder Arbeitsmigrant*innen als eine Art "Vaterlandsverräter" zu brandmarken.

Nun geht es also anders herum. Kaum war die Corona-Krise aufgebrochen, steckten Hunderte Lettinnen und Letten auf dem Weg zurück nach Lettland auf Flughäfen, an Grenzen und Meeresufern fest. Glücklich "zu Hause" angekommen, soll es Fälle gegeben haben, wo die Einwohner*innen von Dörfern auf dem Lande sich geweigert haben, diese "Rückkehrer" wieder in ihr Dorf zu lassen, und Betroffene erst mal in Hotels in Riga sich einmieten mussten.

Plötzlich auch gern online im Direktkontakt:
Lett*innen außerhalb Lettlands
Aber es gibt auch positive Beispiele. Waren bisher alle möglichen Gerüchte im Umlauf, dass Bekannte und Verwandte durch irgendwelche Tricks im Ausland plötzlich reich geworden seien (und die Betroffenen erzählten zu Hause lieber nicht allen, wie es wirklich war), so hat nun ein ganz neues Interesse eingesetzt, wie es Lettinnen und Letten eigentlich geht, die in anderen Ländern leben. Jetzt, wo doch "dīkstāve" (Stillstand) herrscht. Überall. Auch im lettischen Radio und Fernsehen ist das inzwischen gewohnte Bild der "Home-Office-Sendungen" nun häufig genutzt. Die Sendung "Globalais Latvietis" (der globale Lette) schaltete kürzlich live ins "Homeoffice-Zimmer" von Lettinnen in Spanien, Italien, Frankreich und Deutschland - mit Ton und Bild.

Zu hören und zu sehen sind hier allerdings auch teilweise seltsame Thesen. So hätten es die Letten im Ausland angeblich leichter, mit dem Virus umzugehen, weil sie "schon wissen wie es ist in Isolation zu leben". - "Ich kann schon seit 16 Tagen nicht mehr auf die Straße gehen", berichtet Natalija aus Spanien.
"Aber wir haben hier gehört," so die Frage aus dem Studio in Riga, "dass in großen Mehrfamlienhäusern bei euch schon alle Leute anfragen mit dem einen Hund rausgehen zu dürfen, den es im ganzen Haus gibt, nur damit sie mal einen Grund haben rausgehen zu können!" - "Ja, die Leute hier entwickeln einen sensationellen Sinn für Humor," schallt es aus dem digitalen Raum zurück. "Aber nein, bei uns werden noch keine Hunde vermietet."

"Wir dürfen nicht mehr als dreimal die Woche einkaufen gehen", erzählt Elena aus Italien. "Und wir dürfen die Haustiere 200m weit ausführen, also etwas weiter als in Spanien. Und, damit die Leute verstehen, das es kein Spaß ist: alles wird mit Drohnen überwacht." Liene, in Frankreich wohnend, aber in Genf arbeitend, muss die Regeln von gleich zwei Ländern beachten und berichtet von scharfen Grenzkontrollen. "Was ich hinzufügen kann," so kommt es von Elina aus Berlin, "ich bin nun tatsächlich Hausfrau, Hauslehrerin, Heimarbeiterin und Hauspsychologin in einem!" - Und nach dem Durchhaltevermögen gefragt, ergänzt Elena aus Italien: "Wir haben jetzt zu Hause sogar angefangen, Nudeln und Süßigkeiten selbst herzustellen, und abends tanzen wir zusammen - das erhält die gute Laune!"
Während der Sendung muss das lettische Radio sich auch durch ein paar technische Schwierigkeiten kämpfen - europaweit gleiche Leitungsqualität ist noch eine Illusion. Aber Lettinnen und Letten in Europa miteinander verbinden - die Krise bringt es offenbar voran.

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