18. Juni 2020

Fünf für August

Nein, eigentlich wirkt "Corona" für den Stadtrat Riga nicht wie die größte Krise. Es begann bereits mit den Europawahlen 2019, als der langjährige Rathauschef Nils Užakovs, durch einen Skandal bei den Öffentlichen Verkehrsbetreiben bereits unter Beschuß geraten, es vorzog sich ins Europaparlament zu verabschieden (Beitrag).
Es folgten kurze Amtszeiten von Personen, die zwar ambitioniert, aber ohne dauerhafte Mehrheit agierten (Beitrag). Bis Juris Pūce als zuständiger Minister durch ein neues Gesetz den Stadtrat auflösen ließ, da dieser nicht in der Lage sei einen Haushalt zu beschließen und die Abfallentsorgung neu zu regeln (Beitrag / Gesetz). Anfang 2020 schien die Lage klar: es muss baldige (außerordentliche) Neuwahlen geben. Bis dahin wurde eine Übergangs-Verwaltung ernannt. Dann kam Corona.

Diese mehrfach verschobenen und verzögerten Neuwahlen sollen nun am 29. August 2020 stattfinden.Teilweise haben sich in Vorbereitung dazu die politischen Landschaften ganz neu sortiert - wie es seit 1990 vor Wahlen in Lettland schon oft der Fall war. Schon die Parteigruppierungen gaukeln ja wie gewöhnlich fantasievolle Ideen vor: "Harmonie", "Ehre Riga zu dienen", "Einheit", "die Progressiven", "neue Konservative" oder "für Entwicklung". Die Wahllisten der Stadtrats-Kandidat*innen müssen bis zum 20. Juli eingereicht werden. - Auch die übrigen Gemeinden Lettlands müssen auf ihre regulären Wahltermine nicht mehr lange warten: sie sind für den Juni 2021 vorgesehen.

Fünf Kandidaten (Frauen sind bisher nicht darunter) stellte die "Latvijas Avize" kürzlich vor.

Der Ambitionierte
Oļegs Burovs, Spitzenkandidat von "Ehre Riga zu dienen" (Gods kalpot Rigai), hielt sich selbst für den naturgegebenen Nachfolger des langjährigen Amtsinhabers Užakovs. Er organisierte sich eine Stadtratsmehrheit, um den zunächst gewählten Nachfolger Turlajs im August 2019 wieder abwählen zu lassen und war bis Februar 2020 Stadtratsvorsitzender. In jahrelanger Arbeit kämpfte er sich durch die Bürokratie vieler Instutionen nach oben ist gilt als Kandidat "mit Netzwerk".
Die Partei schreibt in ihrem Wahlmanifest, Riga konkurrenzfähig auf einer Ebene mit Berlin, Kopenhagen und Stockholm machen zu wollen. Wählerinnen und Wähler liegen wohl nicht falsch, wenn dies vor allem durch "gute Geschäfte" erreicht werden soll. Wenig bescheiden sicherte sich Burovs auch schon im Internet einen seiner Meinung nach gebührlichen Platz unter der Domain "themayor.eu". Zuletzt gerieten seine Mehrheiten im Stadtrat aber wieder ins Wanken.

Der Aufsteiger
Der in Tukums geborene Kurländer Mārtiņš Staķis (“Attīstībai/Par”) baut auf steigende Umfragewerte unter den Rigenserinnen und Rigensern. Im Mai wies er bei einer vom Institut "Faktum" durchgeführten Umfrage die positivsten Werte aller Kandidaten auf. Seine Partei, die gegenwärtig nur 8 der 60 Stadtratssitze einnimmt und als wirtschaftsliberal gilt, baut für die Stadtratswahlen auf eine gemeinsame Liste mit den "Progressiven", (Progresīvie) unter deren Flagge sich Europafreund*innen und Unterstützer*innen "moderner westlicher Werte" wie Geschlechtergleichheit, Minderheitenschutz, klimafreundliches Wirtschaften versammelt haben - alles nach dem Vorbild Skandinaviens, so die "Progressiven".
Auch Unternehmer Staķis begann seine Karriere mit nordischen Partnern: als Marketingchef bei der Kiosk-Kette Narvesen. Sein Parlamentsmandat hat Staķis inzwischen bereits niedergelegt. Ob er auch sein Amts als parlamentarischer Staatssekretär im Verteidigungsministerium ruhen lassen will, ist vorerst noch unklar.
Beide Parteien äußerten sich dahingehend, Riga zu einer umwelt- und menschenfreundlichen, sozial verantwortlich handelnden Stadt machen zu wollen, und sprechen sich für eine Bekämpfung von Korruption aus. Außerdem setzen sie sich für die Herabsetzung des Wahlalters auf 16 Jahre ein.

Die Welle
Vilnis Ķirsis, einer der vielen Ökonomen in der lettischen Politik, musste als Spitzenkandidat der "Neuen Einigkeit" (Jaunā Vienotība) schon Spott von Karikaturisten ertragen: da sein Vorname gleichbedeutend mit "Welle" übersetzt werden kann, wurde mit Blick auf die Corona-Krise spitz formuliert: "Wir haben Angst, dass im Herbst die zweite Welle kommt!". Die Partei selbst wirbt mit dem Slogan: "Kur Ķirsis, tur kārtība" ("wo Ķirsis ist, da ist Ordnung") und geht offenbar davon aus, dass Wählerinnen und Wähler drohende Unordnung als größtes Problem ansehen. Ķirsis bezeichnet Ex-Bürgermeister Ušakovs schon mal als "Gesicht der Korruption im Stadtrat" - Ušakovs klagte dagegen wegen Ehrverletzung, und unterlag.
Programmatisch orientiert sich die Partei gegenwärtig an Regierungschef Krišjānis Kariņš und EU-Kommissar Valdis Dombrovskis. Aber während die nun neu formierte "Neue Einigkeit" noch immer große Popularitätseinbrüche hinzunehmen hat, wurde Ķirsis durch eine Wahlkampagne nur für sich selbst bekannt - ohne es mit der Partei abzustimmen, aber erfolgreich (delna).
Die Parteifarbe ist hellgrün - und als Wahlziel steht geschrieben, für jede*n Neugeboren*e in Riga einen Baum pflanzen zu wollen. Ķirsis führte schon 2017 die Wahlliste seiner Partei an, holte damals 4 der 60 Ratssitze (6,26%). Im Vorwahlkampf schreibt die lettische Presse derzeit noch mehr über Elīna Zvaigzne, Ärztin und Möchtegern-Bürgermeisterbraut, die er in der Corona-Krise erst so richtig näher kennengelernt haben will - aber noch nicht heiraten mag, da in der gegenwärtigen Krise "niemand zur Hochzeit eingeladen werden kann."


Der Erbe
ZZS-Kandidat Viktors Valainis ("Zaļo un Zemnieku savienība", ein Zusammenschluss der Grünen mit der Bauernpartei) ist sogar noch 6 Jahre jünger als Kollege Ķirsis und hat mit ihm gemeinsam, auf keinen Fall mit Ušakovs "Saskaņa" (Harmonie) oder Burovs "Gods kalpot Rigai" zusammenarbeiten zu wollen - so wurde es von beiden Parteien 2017 gemeinsam unterschrieben. Damals aber waren noch beide Parteien Teil der Regierungskoalition des Landes - inzwischen aber regiert nur noch "Vienotība" mit. Bis 2019 besetzte die ZZS beide höchste Staatsämter Lettlands (Präsident Vejonis, Regierungschef Kučinskis). 
Valainis, gebürtig in Jelgava und dort auch schon mal in einem Musikclub an der Theke zu finden, stürzte sich direkt vom Gymnasium aus auf das Immobiliengeschäft. Eigentlich galt Ex-Minsterpräsident Māris Kučinskis, der auch schon mal Stadthaupt von Valmiera war, als Kandidat seiner Partei auch für Riga (diena) - das meinte sogar Valainis, der 2019 als Kandidat für ein Mandat im Europaparlament vergeblich kandidierte. Aber im Jahr zuvor hatte Valainis es geschafft ein Parlamentsmandat zu erobern - der langjährigen Partei- und Fraktionschef Augusts Brigmanis dagegen blieb draußen. Valainis ist auch bereits Geschäftsführer der "Vereinigung großer Städte" ( „Latvijas Lielo pilsētu asociācija” LLPA - außer Riga mit weiteren acht Mitgliedern:Daugavpils, Jelgava, Jēkabpils, Jūrmala, Liepāja, Rēzekne, Valmiera, Ventspils). Also ist Valainis der wahrscheinliche Kandidat der ZZS, die sonst eher durch ein starkes Netzwerk in den kleineren lettischen Gemeinden bekannt ist und im Stadtrat Riga bisher nicht viel Durchsetzungskraft gezeigt hat. Er hat also viel zu erben, oder viel zu verlieren. In der Presse waren zuletzt Vorschläge zur Wohnungsfrage in Riga und zum Ausbau des Radverkehrs zu finden (LA).

Der National-Bürokrat
Einārs Cilinskis, Geburtsjahrgang 1963 und Bürgermeisterkandidat des rechtsnationalen Flügels des lettischen Parteienspekturms (Nacionālā apvienība NA), ist wohl allen ein Begriff, die sich in den vergangenen 30 Jahren irgendwie mit dem lettischen Bürokratie-Apparat haben herumschlagen müssen. Zwar wirkt er oft blass, ja fast meinungsschwach - aber politisch gilt er jedenfalls nicht als wankelmütig.
Dace Melbārde, zuletzt einige Jahre lang recht beliebt als Kulturministerin und 2017 in Riga auch Bürgermeister-Kandidatin, verabschiedete sich 2019 ebenfalls ins Europaparlament. Und Baiba Broka, 2013 mal Kandidatin der NA für höchste Amt in Riga, rückte inzwischen ins Zentrum eines ausgewachsenen Korruptionsskandals (lsm). 
Cilinskis, der irgendwie immer noch wie ein schüchterner Mittvierziger wirkt, war aber schon 1990-93 Abgeordneter im "Obersten Rat" (Latvijas Republikas Augstākā Padome), ehe 1993 demokratische Wahlen andere Verhältnisse schufen.
Bekannt ist Cilinskis eher in der Sekretärs- oder Assistentenrolle, eher als Stellvertreter eines Stellvertreters, meist eher im Hintergrund. Fast vergessen ist, dass Cilinskis auch mal kurz lettischer Umweltminister war - er musste nach nur 8 Wochen Amtszeit wieder zurücktreten, als er sich der Weisung der Regierungschefin Staujuma wiedersetzte und als Minister am jährlichen Gedenkmarsch für die lettischen SS-Einheiten des 2.Weltkriegs teilnahm (Handelsblatt).
Auch die musikalischen Vorlieben des Kandidaten sind bekannt: Cilinskis Favoriten sind Metall-Bands wie die finnische "Insomnium" oder die US-Band “Megadeth”. Cilinskis gibt an, der Protest 1988 gegen den U-Bahnbau in Riga sei der Ausgangspunkt für sein politisches Engagement gewesen (Latv.Apv.). Ihn nun (so spät?) aufs erste Schild zu erheben bedeutet wohl einerseits, mal einen treuen Parteigenossen auszuzeichnen (bis jetzt haben wir noch immer einen Job für ihn gefunden ...), aber andererseits wohl auch, dass die NA wohl keine Chance haben wird, führende Kraft in Riga zu werden (mit diesem Personal).

Klar ist aber auch, dass es bei diesen fünf Kandidaten voraussichtlich nicht bleiben wird. Bleibt es bei Burovs als Kandidat einer gemeinsamen Liste "Gods kalpot Rigai" und "Saskaņa", oder stellt letztere doch eigene Kandidat*innen auf? Konstantīns Čekušins, der durch seinen Einsatz zum Erhalt russischsprachiger Schulen bekannt wurde, gilt zumindest als Listenführer (Lettisch auch gern "Lokomotive" genannt) der "Saskaņa" (lsm). Čekušins stammt aus Daugavpils, ist mit 39 Jahren ebenfalls noch recht jung, und gilt als Kompromisskandidat, ausgehandelt zwischen den beiden "Schwergewichten" der Partei, Nils Ušakovs und Jānis Urbanovičs.
Angeblich wurde er von Saskana angeworben, damit er nicht für die kleinere "Latvijas Krievu savienība" (Verband der Russen Lettlands) kandidiere - die wiederum ebenfalls noch einen Bürgermeister-Kandidaten aufstellen will. Auch der kommt aus der Szene der "Verteidiger" der russischen Schulen: Miroslavs Mitrofanovs (rosojuz).

Die JKP wiederum (Jaunā Konservatīvā Partija) sucht nach dem plötzlichen Tod der Partei-Ikone Juta Strīķe am 18. März noch nach neuen Leitfiguren. Um Ex-Justizstaatssekretär Juris Jurašs, seit kurzem auch Fraktionschef seiner Partei in der Saeima, gab es schon viele Diskussionen - dennoch bezeichnet er sich noch als Kandidat auch für den Chefsessel in Riga. Jurašs ist ehemaliger Mitarbeiter des lettischen Korruptionsbekämpfungsbüros KNAB (Korupcijas novēršanas un apkarošanas biroja). Nach Meinung einiger Journalisten könnte die JKP aber auch Verkehrsminister Tālis Linkaits noch bitten, in Riga zu kandidieren.
Bei der Partei "KPV-LV" gab es zuletzt viel internen Krach und großen Einbruch in der Wählergunst, aber die Partei ist immerhin noch Teil der Koalistionsregierung unter Krišjānis Kariņš. Offenbar soll Ex-Wirtschaftsminister Ralf Nemiro als Bürgermeisterkandidat aufgestellt werden - das wäre dann schon Nummer acht oder neun in dieser Reihe. (lsm / Diena).

Unter dem Eindruck der Corona-Krise werden vielleicht auch Kandidaten nun von Wählerinnen und Wählern ganz anders bewertet werden. Der Wahltermin 29. August jedenfalls steht für das Ende der Sommerferien: am 1. September, mit Schulanfang, beginnen vielleicht auch in Riga neue Zeiten.

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