21. Juni 2020

Elisabetes Saal

Nein, es ist keine Folge der Corona-Krise - obwohl es seltsam anmutet: der Hohe Tempel der Ökonomie und Finanzwelt wird einfach niedergerissen und statt seiner wird ein Ort der Kultur errichtet. Hat das Umdenken in Richtung nachhaltiger Zukunftslösungen in Lettland so schnell eingesetzt?

Neu verplant für Konzertbesucher*innen: die Ecke am Kronvalda-Parks
entlang der Elisabetes iela: vom Handel von Weltrang zum
Kulturtempel mit Weltruf?
Nein, es war das Gegenteil einer spontanen Entscheidung, was Regierungschef Krišjānis Kariņš da am 16. Juni offiziell verkündete. Die Diskussion um den Bau eines neuen, modernen Konzertsaals in der lettischen Hauptstadt dauert nun schon länger als 15 Jahre.

"Eine historische Entscheidung" nannte es Kulturminister Nauris Puntulis. "Für die Kultur, aber auch für die Bauwirtschaft und die damit zusammenhängenden Gewerbe, für die Entwicklung der Kreativwirtschaft. Mir ist besonders wichtig, dass wir auch Richtlinien der Klimaneuralität und der Umweltschonung beachten werden," so kündigt es der Minister an (mk.gov.lv). Die Logik dieser Variante der Stadtentwicklung wird aber erst so richtig klar, wenn wir uns die lange Vorgeschichte und zweitens die Alternativen zu diesem Bauplatz ansehen.

"In Rigas Zentrum soll es nicht nur Glückspielhöllen geben", so sagte es vor fast 15 Jahren Ex-Kulturministerin Helēna Demakova. Als sie im Januar 2009 zurücktrat, lagen Pläne für drei große und voraussichtlich teure Großprojekte auf ihrem Schreibtisch: der Bau einer neuen Nationalbibliothek, ein neues Museum für Moderne Kunst, und ein neuer Konzertsaal. Mit dem letzten Pinselstrich ihrer Amtszeit soll sie dann die Nationalbibliothek auf den Weg gebracht haben - so geht die Legende. Das war zu Zeiten, als die Weltwirtschaft in die Krise geriet, und die Stadt Riga sich bereits durch den Bau einer neuen Brücke über die Daugava hoch verschuldet hatte. Der Konzertsaal war damals in unmittelbarer Nähe der Nationalbibliothek geplant: halb in die Daugava hinein, im Gebiet des sogenannten "AB-Dambis". Eines von vielen Problemen war aber die Projektagentur, die mit der Planung beauftragt war: "Jaunie trīs brāļi" (J3B) wurde im Juli 2009 liqudiert, auch vor dem Hintergrund der Wirtschaftskrise. Und Demakova musste zugeben, den Bau des Konzertsaals am AB-dambis gut geheißen zu haben, ohne die genauen finanziellen Folgen zu kennen (IR).

In den Folgejahren geriet auch das Thema der Klimaveränderungen zunehmend in den Fokus - also auch die Frage, ob nicht der Bau eines Konzertsaals ganz nah am Wasser wirklich klug sei. Der Bau eines Konzertsaals wurde auf "bessere Zeiten" verschoben (Diena 6.1.09). - 2017 wurde dann zunächst ein Audit bei "PricewaterhouseCoopers" in Auftrag gegeben; seitdem scheut die lettische Regierung davor zurück, das Projekt auf privatem Grund, der zunächst angekauft werden müsste, bauen zu wollen (apollo.lv). Dann wurde der "Verein Konzertsaal Riga" gegründet (Rīgas koncertzāles biedrība), der 2018 ein Memorandum veröffentlichte zugunsten eines neuen Konzertsaals (IR). Darin wird auch darauf verwiesen, dass inzwischen in Rēzekne, Cēsis und Liepāja Konzertneubauten realisiert worden seien. Als Befürworter unterzeichneten das Memorandum u.a. der auch in Deutschland bekannte (2019 verstorbene) Dirigent Māriss Jansons, die Komponisten Pēteris Vasks, Ēriks Ešenvalds und Arturs Maskats, die Dirigenten Sigvards Kļava, Normunds Šnē und Māris Sirmais, und Pianist Vestards Šimkus.

Mögliche Standorte eines neuen Konzertsaals in Riga:
lange erwogen, plötzlich alles verworfen
Als im Juni 2019 Nauris Puntulis, bis dahin als Operntenor bekannt, als Nachfolger der ins Europaparlament gewählten Dace Melbārde sein Amt als Kulturminister aufnahm, sagte er einen Neuanfang in der Konzertsaalplanung zu (lsm). "Wir wollen nicht noch einmal 15 Jahre warten", so der Slogan der Befürworter zu diesem Zeitpunkt. "Ich glaube aber nicht, dass ein Konzertsaal nur am AB-Dambis gebaut werden kann", ließ sich Puntulis zitieren.
Es kamen andere Standorte ins Gespräch: zum Beispiel das Hafenareal bei Adrejsala / Andrejosta (in der Nähe des Jachhafens). Insgesamt sollen bereit neun verschiedene mögliche Bauplätze auf Brauchbarkeit untersucht worden sein, darunter auch am "Siegespark" (Uzvaras parka), in Torņakalns, auf Ķīpsala oder Zaķusala, neben der Akademie der Wissenschaften oder auf einem Gelände am Flughafen (LA). Auch das Kongreßhaus, ebenfalls ein Bau der Sowjetzeit, wurde schon als Bauplatz ins Auge gefasst - angeblich soll diese Variante mit 62 Millionen Euro nur halb so teuer sein wie ein Bau am AB-Dambis oder Andrejosta (IR). Aber: das Kongreßhaus gehört der Stadt Riga, die es dem Staat nicht zur Verfügung stellen will. Inzwischen ist eine schnelle Entscheidung zum Thema Konzertsaal auch dadurch nötig, dass offenbar bereits zugesagte Mittel des Europäischen Regionalfonds für dieses Projekt verwendet werden könnten - aber nur bis zum 31.12.2022.

Nun also die "Elisabetes iela 2". 1974 erbaut, war das Gebäude früher Sitz der Kommunistischen Partei Lettlands, seit 1992 dann "World Trade Centre" ( “Pasaules Tirdzniecības centrs”), betrieben durch "Belveron Holdings Limited" (registriert in Zypern). Das WTC Riga wurde 2018 für zahlungsunfähig erklärt (db). In dieselbe Periode von Sowjetbauten in Lettlands fallen auch die Gebäude des Flughafens, des "Hotel Latvija" (heute: Hotel Radisson Blue Latvija), des "Daile"-Theaters oder "Rīgas Modes". Es hatte auch Überlegungen gegebe, ob nicht das Lettische Wirtschaftsministerium im WTC einziehen könne (diena).

2006 von der Agentur "SZK" entworfen als Vision
im Hintergrund angedeutet: die (damals noch zu bauende)
Nationalbibliothek. Nun also doch ein anderer Bauplatz?
Doch beim anstehenden Abriss des WTC gibt es nun auch Gegenstimmen: "Und das nennt sich 'Kulturministerium', wenn sie wichtige Dokumente des Modernismus in Riga abreißen wollen!" schimpft Architekt Pēteris Bajārs (LA). Er zweifle außerdem, ob nach einem Abriss, der 3 Millionen Euro kosten soll, das vorgesehene Grundstück für den Konzertsaal groß genug sei (delfi). Eine Unterschriftensammlung gegen das Projekt konnte bisher etwa 1500 Unterstützer*innen gewinnen. Auf der Seite der Kritiker stehen mit Ex-Wirtschaftsminister Daniels Pavļuts  und Dainis Īvāns auch bekannte Namen (delfi). Das Haus hätten ja nicht einfach nur Kommunisten gebaut, sondern lettische Architekten - meint Ivāns, und fügt hinzu: "zwei von ihnen, Gunārs Asars und Jānis Vilciņš, kannte ich persönlich."(delfi)

Doch was sagt die Kulturszene, die einen neuen Konzertsaal so lange schon gefordert hatte? Auch die Architekten des Büros " “Sīlis, Zābers un Kļava” warten gespannt: von ihnen stammt der Siegerentwurf, der bisher am AB-Dambis zu realisieren geplant war. "Eine wirkliche Entscheidung kann erst nach der anstehenden Wahl des Stadtrats Riga gefällt werden," prognostizert Kritiker Pavļuts - dessen Parteifreunde (er ist Mitglied bei "Allistībai par!") Teil der regierenden Koalition unter Kariņš sind. Oder ist es vielleicht genau umgekehrt? Will die Regierung, klar in Opposition zur bisher jahrelang in Riga dominierenden "Saskaņa" stehend, die Situation ausnutzen, solange es noch geht? Und Pavļuts andererseits nehmen immer noch einige übel, dass nach der Katastrophe 2013, als im Stadttteil Zolitude ein Supermarkt einstürzte, er als Wirtschaftsminister nicht zurücktrat - sondern dies Regierungschef Valdis Dombrovskis überließ (apollo.lv). Ja, die persönlichen Verzweigungen in der lettischen Bauwirtschaft sind kompliziert.
Wie wird die Stadtsilhouette in Zukunft aussehen?
(im Bild: eine Wandmalerei in Riga)
Kulturminister Puntulis jedenfalls kontert die Kritik so: "Wenn das Gebäude des WTC nicht in so schlechtem Zustand wäre, so dass eine Restaurierung schon 30 Millionen Euro kosten würde, dann hätten wir diese Möglichkeit auch nicht in Betracht gezogen." (KasJauns)

Wer die vielen Presseberichte zum Thema liest, kommt sicher auch auf den Gedanken: ja, es besteht auch die Option das Bauprojekt "Konzertsaal Riga" lieber ganz in der Schublade verschwinden zu lassen. Ob dieser plötzliche Vorstoß zugunsten der Variante "Elisabetes-Saal" (eine mögliche neue Bezeichnung für das Projekt? Eröffnung vielleicht durch Königin Elisabeth?) wirklich realistisch und gut durchdacht ist, werden erst die nächsten Monate zeigen - angeblich könnte bereit im Frühjahr 2021 mit dem Abbruch des WTC begonnen werden. Dazu müssen aber noch viele weitere Hürden genommen werden.
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Längst fertiggestellt ist übrigens ein anderer Konzertsaal: der "natürliche Konzertsaal" (Dabas koncertzāle), eine Initiative zur Sensibilitierung für den Erhalt wertvoller Landschaftsbiotope in Lettland. Außer Naturerziehung für Kinder werden hier tatsächlich Konzerte organisiert - zum Beispiel "Bombina Bombina", eine "in der Stille klingende Oper" zu Ehren der Rotbauchunke; die Musiker*innen versammelten sich an einem Ort, von wo die Stimmen der Unken im nächsten Teich zu hören waren. Allerdings nicht in Riga - die Initiative hat ihren Sitz in Balvi - sicherlich mitten in der Natur.

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