Ausverkauf wegen Notlage?
Doch die Lage ist weiterhin frostig - nicht nur wegen des ungewöhnlich kalten und schneereichen Winters. Um ganze 22% ging das Angebot an freien Arbeitsplätzen im Jahr 2009 gegenüber dem Vorjahr zurück (siehe Bericht DIENA 19.3.10). Den Zahlen des zentralen statistischen Amts zufolge wurden 2009 216.300 Arbeitsplätze "eingespart", also abgebaut (47.000 davon im öffentlichen Sektor). Am größten war der Rückgang in der Bauwirtschaft (-43,1%). Trieb es früher die Leute vom Land in die große Hauptstadt, dann ist die Lage hier momentan fast ebenso schwer. Inzwischen zählt es zum lettischen Populismus, milionenschwere Investitionen, die absehbar Arbeitsplätze kosteten, aus heutiger Sicht wieder in Frage zu stellen - die superteure neue Brücke über die Daugava gehört dazu. Oder soll vielleicht der Bau der neuen Nationalbibliothek gestoppt werden? Vor wenigen Tagen standen die Überlegungen von Rigas Bürgermeister Nils Ušakovs in den Zeitungen nachzulesen, doch vielleicht die Fahrkarten in Bussen und Bahnen wieder manuell durch Menschen ausgeben und kontrollieren zu lassen, statt durch Automaten. Das spiegelt die Stimmung wieder - allerdings nicht den Realismus.
Vielleicht kommen ja inzwischen einige sogar aus den weit entfernten vermeintlichen Arbeitsparadiesen wie England oder Irland wieder zurück, und fragen sich: wie sieht es in unserem Land heute aus? "Abwrackprämien" oder ähnliche Konsumanreize hat es in Lettland keine gegeben - kurzfristige drastische Lohnkürzungen bei denen, die noch Arbeit haben, aber sehr wohl. Holz macht etwa 20% der lettischen Exportwirtschaft aus, da scheint es logisch, dass der lettische Verband der Holzverarbeitenden Industrie schon öfter eine Erhöhung der Einschlagsquoten um 30% forderte. Zahlen zur biologischen Vielfalt in lettischen Wäldern sprechen eine andere Sprache: die Bestandszahlen des Schwarzstorchs, der ruhige naturbelassene dichte Wälder mit hohem Grundwasserstand braucht, haben sich in den vergangenen Jahren um nahezu die Häfte verringert.
Spekulieren und Abholzen - marktwirtschaftliche Philosophie?
Nicht zufällig gab es einige Jahre auch ein eigenes "Waldministerium" im unabhängigen Lettland. Nein, nicht in einem Forsthaus, sondern in Riga. Doch wer entscheidet heute noch über die Art und Weise und den Umfang der Waldbewirtschaftung? 1,56 Millionen der insgesamt 4,4 Millionen Hektar Waldfläche seien in Lettland in der Hand von Besitzern aus dem Ausland, so zitiert es Zīgfrids Dzedulis in "Latvijas Avize". Auch der Frage, warum Ausländer offenbar vermehrt lettische Waldflächen kaufen, wird dort versucht zu beantworten. Kühl ökonomisch gerechnet werde hier. Waldflächen seien in Lettland eben fünf- bis zehnfach billiger als in Skandinavien. Schwedische Geschäftsleute werden zitiert mit den Worten: "Aktienkurse steigen und fallen, aber der Wert des Waldes steigt von Jahr zu Jahr. Daher kaufe ich Wald und keine Aktien." Nur die räumliche Nähe zu Russland - so die These dort - und ein daher rührendes kleines Gefühl der Unsicherheit verhindere angeblich noch, dass Ausländer auch den letzten verfügbaren Hektar lettischen Waldes noch aufkauften.Dzedulis spekuliert weiter: selbst wo offiziell ein "Bērziņš" oder ein "Liepiņš" als Besitzer eingetragen sei, können sich auch ausländische Firmen dahinter verbergen. Und auch dort, wo offiziell ein Landstück auf 99 Jahre gepachtet sei, könne es sich um einen "heimlichen" Kauf handeln. Die Aufgabe der Entwicklung einer Strategie zur Entwicklung der Waldwirtschaft habe beim Ministerium für Regionalentwicklung gelegen, dort finde sich aber bisher in den entsprechenden Papiere kein Wort zu den aktuellen Tendenzen. Zudem wüssten die Selbstverwaltungen der Gemeinden offenbar nichts über die vorliegenden Zahlen und gäben sich (auf Nachfragen der Journalisten) verwundert.
Immer noch ist die Zahl derjenigen, die an realistische Chancen für Lettland als Agrarland glauben, erstaunlich hoch. Daher werden solche Statistiken auch gern als Beispiel für verfehlte Landwirtschaftspolitik genommen. Wieder ein Hinweis darauf, dass die Wirtschaftskrise gern zur eigenen kritischen Standortbestimmung genommen wird. Was nützen uns denn die europäischen Strukturfonds, wenn ganze Bereiche, wie etwa das lettische Zucker-produzierende Gewerbe zum Aufgeben gezwungen wird, und Lettland den Zucker aus dem Ausland beziehen muss? Und was hilft es wenn die Preise um Land aufzukaufen in Lettland am günstigsten in ganz Europa sind?
Dazu kommt auch, dass in den 90er Jahren viele erstmal Besitz zurück erstattet bekamen, der ihnen oder den Vorfahren von den Sowjets genommen worden war. Nur wenige waren aber in der Lage, tatsächlich langfristig Land- oder Forstwirtschaft erfolgreich zu betreiben. Und wenn dann die Krise und Mangel an Finanzmitteln dazu kommt, verkaufen viele eben gerne (und an die Meistbietenden noch lieber).
Ein Stückchen Mythos, ein Stückchen Wahlkampf
Ein Übergangsgesetz im Zuge des EU-Beitritts beschränkt die Erwerbsmöglichkeiten für Firmen und Personen aus dem Ausland (läuft 2011 aus). Ein Aufenthalt von mindestens seit 3 Jahren in Lettland und ein ebenso langes Bestehen eines landwirtschaftlichen Betriebs wird da gefordert. Allerdings können auch Firmen Waldflächen oder Land kaufen, die zu mehr als 50% Eigentümern aus Ländern gehören, mit denen Lettland international gültige Investitionsschutzabgkommen abgeschlossen hat (mit Deutschland zum Beispiel bereits 1993, seitdem können Deutsche in Lettland Land erwerben). Das einzige, was Ausländer in Lettland noch wirklich schrecke, seien "Bürokratie und Korruption" (Dzedulis). Aber Dzedulis geht noch weiter mit seinen Thesen: falls nun auch das lettische Einwanderungsgesetz geändert werde, so wie Staatspräsident Zatlers es vorgeschlagen habe, dann könnten auch solche Personen eine Aufenthaltsgenehmigung bekommen, die Eigentum im Wert von mindestens 100.000 Lat (auf dem Lande 50.000 Lat) erwerben. So könnte es bald Einwohner in Lettland geben, "bei denen der internationale Terrorismus Zuflucht findet."
Hysterische Parolen? Noch drastischere Formulierungen fand (mal wieder) der nicht gerade durch seine Gesetzestreue auffällig Bürgermeister von Ventspils und Patron (Sponsor) vieler lettischer Politiker, Aivars Lembergs. In seiner Hauspostille (die Neatkarīgā Rīta Avīze gehört ihm weitgehend) liess er drucken: Lettland sieht sich einer neuen Okkupation gegenüber, diesmal ohne Panzer. Wo er selbst sich immer noch Gerichtsprozessen wegen Betrug und Korruption ausgesetzt sieht, schiesst er mit (wahlkampfgeeigneter) Munition zurück: die Vereinbarung, welche die gegenwärtige lettische Regierung mit den internationalen Kreditorganisationen getroffen habe, vergleicht Lembergs mit dem Hitler-Stalin-Pakt. Zwar habe er selbst noch keine "geheimen Zusatzvereinbarungen" gesehen, aber er wirft der Regierung vor, die Menschen im Unklaren zu lassen über die wirklichen Folgen solcher Vereinbarungen. "Sie wussten, was sie unterschreiben," so der Vorwurf von Lembergs. Und mit Blick auf die anstehenden Parlamentswahlen dieses Jahr: "Wegen dieser Vereinbarungen wird es nahezu egal sein, wer die wahlen gewinnt." Die zukünftige Regierung werde gezwungen sein, die Bedingungen zu erfüllen, die bisher im Detail nur ein paar Personen der jetzigen Regieung kennen würden. "Das ist wie eine Okkupation," so Lembergs vor der lettischen Presse, "dasselbe was am 17.Juni 1940 passierte, nur diesmal ohne Panzer. Der Staat besteht weiter, nur es werden keine Menschen überleben. Die Letten sterben aus."
Wer sich in der lettischen Geschichte ein wenig auskennt, und Lettland mag, wird sich hier mit Grausen abwenden. Welche Blüten wird der nationalistisch gefärbte Populismus (zum eigenen Nutzen, natürlich) noch treiben? Wieviel Porzellan wird zerschlagen werden dabei? Im Bereich "souverän gelebtes Selbstbewusstsein" war Lettland noch nie besondern stark. Ich kann nur hoffen, dass es nicht noch schlimmer wird.
1 Kommentar:
Sind Waldflächen immer noch "fünf- bis zehnmal billiger"? Wo kann man sich entsprechende Angebote anschauen?
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