In den 90er Jahren wollte die Bevölkerung des Baltikums so gut leben wie die Westeuropäer. Trotzdem gab es erhebliche Zweifel in der Gesellschaft, ob nach der endlich errungenen Unabhängigkeit gleich wieder der Weg in eine Union gesucht werden müsse. Einfache Menschen verstanden oft nicht, daß der Begriff Union bei den Sowjets und in Europa nicht identisch zu verstehen ist. Gurkenkrümmung und Schließung der beiden Zuckerfabriken in Lettland schienen dem zu widersprechen. So viel zum Mißtrauen gegenüber Brüssel.
Als jüngst für Estland und Lettland, und eben nur für diese beiden Länder, Brüsseler Informationsmaterial auch auf Russisch erschien, schrillten die Alarmglocken. Nicht alle Sprachen der EU-Länder sind tägliche Verkehrssprachen, aber doch offizielle Sprachen. Für die Übersetzung aller Dokumente in diese Sprachen gibt es einen speziellen bürokratischen Apparat. Aber auch wenn Russisch viele Einwohner und auch Staatsbürger in Estland und Lettland ihre Muttersprache nennen, ist sie keine offizielle Sprache der EU.
In Lettland wurden gleich wieder die Gastarbeiter, besonders die Türken in Deutschland und Österreich vorgeschoben, deren Bevölkerungsanteil in aller Regel bei weitem überschätzt wird. Auf Türkisch sei das Material ebenfalls nicht erschienen und auch nicht auf Katalonisch oder Baskisch.
Brüssel beeilte sich mit einer Entschuldigung.
Tatjana Ždanok, die zu Hause der Russenpartei Für die Rechte des Menschen in einem integrierten Lettland angehört, sitzt im EU-Parlament bei Europas Freier Allianz. Sie war 1991 gegen den Zerfall der Sowjetunion und sagt heute, daß in Lettland 40% und in Estland 30% der Bevölkerung Russen seinen. Dies sei Grund genug, dieser Sprache den Status der offiziellen Landessprache zuzugestehen.
Beide Kritiker wandten sich mit ihrer Ansicht an die zuständige EU-Kommissarin Viviane Reding.
Die Sprachthematik ist nach wie vor in Estland und Lettland hochaktuell. Seit der Unabhängigkeit hat sich die Situation ins Gegenteil verkehrt. Früher sprachen eigentlich alle Balten, insbesondere in Lettland, Russisch mehr oder weniger gezwungenermaßen wie ihre zweite Muttersprache, während die zugewanderten Russen weder im öffentlichen Leben dazu gezwungen, noch von der Obrigkeit dazu ermuntert wurden, die Sprache der Sowjetrepublik zu lernen, in der sie lebten. Heute lernen die jungen Russen bereits in der Schule die Landessprache, Russisch rückte aber hinter westlichen Fremdsprachen bei jungen Esten und Letten in den Hintergrund.
Kürzlich diskutierten die Eltern von Schülern einer elitären Mittelschule in Riga über die zweite Fremdsprache für ihre Sprößlinge. Es kam zu erhitzten Debatten zwischen Deutsch und Russisch. Richtig ist, daß auf dem Arbeitsmarkt, in der freien Wirtschaft Russisch verlangt wird. Die Bedeutung des Russischen ist also weder für den Einzelnen noch für die Gesellschaft zu unterschätzen.
Ein Kommentar sei dem Autor dieser Zeilen erlaubt. Sprachkenntnisse sind immer ein Vorteil. Die Zugänglichkeit von Informationen in mehreren Sprachen ebenfalls. Daß die EU eine Broschüre ins Russische übersetzt, kann bei der Integration auch jenes Teils der russischen Bevölkerung, der eben Estnisch und Lettisch nicht beherrscht, nicht schaden. Und in diesem Sinne würde die Übersetzung ins Türkische, einem Land, das immerhin EU-Beitrittskandidat ist, ebenfalls nicht schaden. Arabisch, Chinesisch, Hindu – warum nicht. Mit Spanisch und Portugiesisch werden andere große Ökonomien außerhalb Europas bereits abgedeckt. Letztlich ist die Übersetzung in Sprachen der G20 Staaten, um einfach ein Beispiel zu nehmen, eher eine Frage der Finanzierung, nicht der Nützlichkeit.
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