Unwahrscheinlich? Verrückt? Undemokratisch? Na, ganz ähnlich ist es jedenfalls jetzt in Lettland gelaufen.
Allerdings fällt es schwer zu beschreiben, warum nun eine Koalition mit der einen Partei gebildet werden kann, mit der anderen nicht. Es fing schon damit an, dass sich vor der letzten Parlamentswahl im Oktober 2022 - mal wieder - neue Parteien gebildet hatten. Die sogenannte "Vereinigte Liste" ("Apvienotais saraksts" AS) hatte die lettischen "Grünen"("Latvijas Zaļā partija" ZP) aus ihrer bisherigen Fraktionsbindung mit der Bauernpartei ("Latvijas Zemnieku savienība" LZS) gelöst, und mit dem Unternehmer Uldis Pīlēns eine neue "Leitfigur" präsentiert. Slogan: keine langen Reden, neue Illusionen oder Populismus, sondern vor allem Entscheidungen müssen her. Die Lösung schien einfach: kein anderer als Pīlēns soll entscheiden. Und es schien erfolgsversprechend: die AS bildete eine Koalition mit der "Neuen Einigkeit" ("Jauna Vienotība" JA) von Regierungschef Krišjānis Kariņš und den Nationalisten der "Nacionālā apvienība" (NA).
Pīlēns, der zunächst behauptet hatte, selbst kein politisches Amt anzustreben, ließ es dann im Frühjahr 23 gleich auf eine Kraftprobe ankommen. Obwohl ziemlich klar war, dass seine beiden Koalitionspartner wohl eine zweite Amtszeit des bisherigen Präsidenten Egils Levits befürwortet hätten, präsentierte Pīlēns sich selbst als Gegenkandidat. Daraufhin zog sich Levits zurück. Um nicht das Heft des Handelns zu verlieren, sah sich Regierungschef Kariņš genötigt, einen neuen eigenen Kandidaten zu präsentieren - und fand ihn im bisherigen Außenminister Edgars Rinkēvičs. Gewählt wurde dieser tatsächlich schon in der zweiten Wahlrunde mit 52 der 100 Stimmen - offenbar mit Stimmen aus der Opposition.
Es begann das, was Kariņš "mögliche Erweiterung der Regierungskoalition" nannte. Dies meinten die Koalitionspartner AS und NA ruhig aussitzen zu können - galten doch die Oppositionsparteien entweder als "zu links" ("Die Progressiven" / "Progresīvie" P), oder als "zu belastet", wegen der Nähe der "Bauernpartei" (Zemnieku savienība LZS) zum wegen Korruption verurteilten Oligarchen Aivars Lembergs.
Nun kam es also anders. Warum dazu der Rücktritt von Regierungschef Krišjānis Kariņš und die Amtsübergabe an die bisherige Sozialministerin Evika Siliņa nötig war, wird wohl vorerst ein Geheimnis zwischen den beiden bleiben. Die Vermutung, Kariņš habe sich als möglicher neuer lettischer EU-Kommissar für nach den Europawahlen positionieren wollen, ist jedenfalls noch nicht ganz entkräftet - auch wenn er jetzt als Außenminister ins Kabinett zurückkehrt.
Zwei Parteien im Parlament kamen für Regierungsämter bei keiner Seite in Frage. Da ist noch die "Stabilitātei!" ("Für Stabilität"), Anti-EU und Pro-Kreml, die vom Niedergang der „Saskaņa“ profitierte - von der es bis dahin hieß sie vertrete die Interessen der Russen in Lettland. Aber Saskaņa hatte sich recht schnell gegen den russischen Angriffskrieg in der Ukraine ausgesprochen und rutschte bei den Wahlen unter die 5%-Hürde (Stabilitātei errang 6,8% und 11 Sitze).
Bleibt noch "Lettland zuerst" (Latvija pirmajā vietā LPV), die Partei mit dem deutlichen Bezug auf die Sprüche des Ex-US-Präsidenten, unterstützt von radikalen Impfgegnern, Querdenkern, Verfechtern einer "echten Familie zwischen Mann und Frau" und Fans von Parteichef und "Ex-Bulldozer" Ainārs Šlesers, der ebenfalls eher durch zwielichtige Geschäftskontakte, Korruptionsverdächtigungen, große Sprüche und eine unrühmliche Vergangenheit in anderen, inzwischen verflossenen Parteien berüchtigt und bekannt ist.
53 der 100 Stimmen erhielt nun das neue, "erste Kabinett Siliņa" im Parlament. Mit dieser neuen Regierung habe der "Ultraliberalismus und Kosmopolitismus" gesiegt, schreibt Nationalistenführer Raivis Dzintars, der jetzt Opposition organisieren muss. Die Bauernpartei, jetzt also neuer Koalitionspartner, firmiert weiterhin, auch ohne "Grüne", als Fraktion "ZZS" (Zaļo un Zemnieku savienība, gewissermaßen "Grüne und Bauern ohne Grüne" - jetzt mit der kleinen Splitterpartei "Latvijas Sociāldemokrātiskā strādnieku partija" / "Lettlands Sozialdemokratische Arbeiterpartei"). Die Bauernpartei hat vor allem eines wieder unter Kontrolle: neben den Ministrien für Klima + Energie, für Soziales und das für Wirtschaft, auch das Amt des Landwirtschaftsministers.
Spannend wird auch werden, ob die "Progressiven" in Regierungsverantwortung etwas von ihrem ambitionierten Programm werden umsetzen können. Sie stellen jetzt mit der 33 Jahre jungen Agnese Logina die Ministerin für Kultur, ein Amt, das in den vergangenen Jahrzehnten oft von den Nationalisten dominiert und geprägt war. Und auch von Kaspars Briškens, 41 Jahre alt und als Experte des Bahnprojakts "Rail Baltica" bekannt, sind als Verkehrsminister durchaus richtungsweisende Ideen zu erwarten. Die "Progressiven" stellen aber mit Andris Sprūds auch den Verteidigungsminister, ein Themenbereich, wegen dem vielleicht nicht viele gerade diese Partei gewählt haben. Als Akademiker und Historiker eher kein typischer "Militärminister", vielleicht kann er aus seinen Studienzeiten in Krakau Kontakte mit Polen wiederbeleben.
Also: es ist schwierig, den ganzen Vorgang weiter zu kommentieren. Es gibt ein Regierungsprogramm mit einigen klaren Festlegungen, und es wird vor allem darauf ankommen, ob diese Regierung in der Lage ist, mögliche interne Streitigkeiten und schwierige Diskussionen bei kommenden Parlamentsentscheidungen zu überstehen.
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