7. November 2022

Endlich aufgedeckt: Dumme Deutsche?

Es ist immer wieder eine interessante Frage: welche Vorstellung haben Lettinnen und Letten von Deutschland? Um auf diese Frage eine Antwort zu finden, müssen wir uns die Perspektive wohl zunächst mal aus lettischer Sicht vorstellen. 

Deutschland-Image

Was aus Deutschland in den vergangenen 30 Jahren kam, könnte sich manchmal vielleicht angefühlt wie eine Mischung aus Belehrungen, Misstrauen und Übervorteilung. Seien es die ungleichen Vermögensverhältnisse als Resultat des Übergang von Sowjetwirtschaft hin zur sogenannten "Privatisierung", oder die vielen im voraus des EU-Beitritts zur Akzentanz vorgelegte Regelungen und Gesetze, die sicher oft detailverliebt und bürokratisch wirkten. Auch wie man Krisen übersteht, meinten ja gerade viele Deutsche besser zu können: einfach sparsam sein. Die Flexibilität und Kreativität, auch den Optimismus und die Tatkraft die es brauchte, um das Leben im Lettland der vergangenen 30 Jahre zu überstehen, dafür fehlten in Deutschland sehr oft sowohl Antennen wie Sensibilität. 

Deutschland-Berichterstattung in Lettland: laufen jetzt
alle Deutschen mit Russland-Fahnen herum?

Deutschland weiß oft alles besser - oder tut zumindest so; mit diesem Ruf der Deutschen in Europa müssen wir uns als Deutsche wohl auseinandersetzen. Und wir müssen sogar ergänzen: und wenn es mal anders zu laufen drohte, dann legt Deutschland einfach noch mal ein paar Milliarden Euro drauf, damit der Anschein bestehen bleiben kann (damit zum Beispiel europäische Gesetze mal wieder so gestaltet werden können, dass sie der deutschen Autoindustrie nicht schaden). 

Zeitenwende

Nun aber haben wir "Zeitenwende". Nun müssen offenbar die Deutschen zugeben, was sie alles falsch gemacht haben. Erst Recht, wenn - wie in Lettland - die Solidarität mit der Ukraine in der politischen Agenda allem voran gestellt wird. "Die Deutschen - wie immer gastfreundlich", schreibt da am 4. November Laine Aizupe in der "Latvijas Avize" - "gastfreundlich auch für russische Deserteure." 

Nein, hier geht es offenbar nicht darum, dass russische Soldaten anlässlich des von Putin in der Ukraine angezettelten Krieges lieber desertieren sollten. Was das angeht, kursiert in Lettland das böse Wort von den "Sofa-Sittern" - also denjenigen Russen, denen, wie es heißt, der russische Angriffskrieg in der Ukraine so lange egal war, wie es nicht zur allgemeinen Mobilmachung kam.

Menschen aus der Ukraine - in Deutschland bedroht?

Über eine Million Menschen aus der Ukraine haben bisher in Deutschland Aufnahme gefunden. Aber jetzt seien die Ukrainer in Deutschland besorgt, schreibt Aizupe - und klagt dabei deutsche Parteien fast aller politischen Couleur an: zitiert werden Irene Mihalic von den "Grünen" ebenso wie Johann David Wadephul von der CDU - beide hätten sich für die Gewährung von "humanitärem Asyl" für russische Deserteure ausgesprochen. (siehe auch "Tagesschau" 23.9.) Dabei bleibt es aber nicht. Die lettische Journalistin zitiert benahe genüsslich aus einer ARD-Umfrage: 54% der Deutschen würden die Aufnahme russischer Deserteure in Deutschland befürworten, und darunter seien besonders viele Anhänger/innen der Grünen (77%) und der Sozialdemokraten (64%). Als kleines "Sahnehäubchen" wird noch hinzugefügt: Andrij Melnik, bisher Botschafter der Ukraine in Deutschland, sei anderer Meinung gewesen. (LA) (siehe auch: ARD-Morgenmagazin 29.9./ ARD-Deutschlandtrend / infratest-dimap)

Ausgerechnet die Haltung der Vertreter/innen der AfD bleiben bei dieser Aufzählung aber unerwähnt. Denn auch die 57% AfD-Anhänger/innen in dieser Umfrage, welche die Aufnahme von russischen Kriegsdienstverweigerern ablehnen, taugen wohl nicht als unterstützendes Element bei der lettischen Argumentation der "Latvijas Avize" - so setzt sich die AfD doch sogar für die Wiederaufnahme russischer Gaslieferungen und bedingungslose Zusammenarbeit auch mit dem aggressiv kriegführenden Russland ein. 

Zeitverzug

Auffällig weiterhin: dieser lettische Zeitungsbericht stammt vom 4. November - die zitierten Umfragen und Äusserungen aber bereits von Ende September. Lesen wir zum Beispiel einen Bericht zum selben Thema beim "Redaktionsnetzwerk Deutschland" vom 28.10. nach, dann lassen sich dort wesentlich differenzierte Äusserungen entdecken: jeder Antrag auf Asyl müsse im Einzelfall sorgfältig geprüft werden, Putin sei zuzutrauen Menschen einzuschleusen (Jürgen Hardt / CDU). Oder: "wir dürfen bei aller Hilfsbereitschaft nicht naiv sein" (Strack-Zimmermann / FDP). Oder auch: Deserteure sollten nicht wie Heilige behandelt werden (Wagener / Grüne). Dagegen meint Rüdiger Lucassen für die AfD: ein deutscher Aufruf zur Aufnahme von Deserteuren könne als "Angriff auf das russische Wehrsystem gewertet werden" - das sei eine unnötige Provokation Russlands. (siehe auch: "Das Parlament")

BAMF-Auskunft für russische Staatsbürger/innen in Deutschland

Zahlen

Gemäß dem Bericht des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) zum ersten Halbjahr 2022 waren Menschen aus Syrien mit 11.500 die größte Gruppe, gefolgt von Afghanistan (8.000) und Türkei (5.000). In dieser Statistik sind allerdings weder Ukrainer noch Russen vertreten. Menschen aus der Ukraine müssen gar keinen Asylantrag stellen, und die Mobilmachung in Russland begann erst am 21. September. (BAMF-Bericht zur Lage russischer Kriegsdienstverweiger)

In Russland öffentlich gegen den Krieg demonstrieren - das ist offenbar auch ein sicherer Weg zur Zwangseinberufung (siehe BAMF-Bericht). Aber was bringen lettische Berichte nach dem Muster "Vācieši kā allaž pretimnākoši" (Deutsche wie immer gastfreundlich)? Es ist, wie so oft, offenbar auch ein Stück lettische Innenpolitik. Denn am Schluss des erwähnten Berichts werden dann noch Äußerungen von "Pro Asyl" erwähnt mit der Aussage, kaum ein russischer Deserteur könne ja zur Beantragung von Asyl nach Europa gelangen - dank komplett geschlossener Grenzen in Finnland, den baltischen Staaten und in Polen. Dies bedeutet nämlich in der Praxis nicht nur die Verweigerung von Touristenvisa, sondern auch die Zurückweisung auch von Personen die versuchen Asylanträge zu stellen. So habe Lettland im Jahr 2022 (bis 31.8.) nur insgesamt 123 Personen einen Flüchtlingsstatus zuerkannt - im Gegensatz zu 115.402 Personen in Deutschland (was mit den aktuellen Zahlen des BAMF einigermaßen übereinstimmt). 

Russische Anträge: eher selten

Interessant bei den aktuellen Zahlen: hier sind sogar Anträge von Menschen aus Russland gesondert aufgewiesen. Im Oktober waren es in Deutschland ganze 313 Anträge. Vielleicht war der panikartige Bericht also nur ein einzelner lettischer Zeitungsbeitrag einer unerfahrenen Journalistin? Von Laine Aizupe sind allerdings immerhin noch vier weitere Beiträge über deutsche Themen zu finden: über Lehrermangel, das 9-Euro-Ticket und über Preissteigerungen und den zurückgehenden Verbrauch an Milch in Deutschland. Während aber Aizupe also noch Anfang November von "allzu gastfreundlichen Deutschen" schrieb, behandeln andere lettische Blätter das Thema offenbar tatsächlich anders. "Das deutsche Parlament lehnt Asyl für russische Deserteure ab", schrieb die "Neatkarīga" am 30. September (und meint damit die Ablehnung eines entsprechenden Antrags der "Linken"). Ganz ähnlich berichtete auch "TVNet". Und die "Diena" fand erwähnenswert, dass auch die USA und Irland russischen Deserteuren die Möglichkeit des Asyls angeboten habe.

Also: warten wir doch erst einmal ab, wohin der gegenseitige Lernprozess die lettischen und deutschen Pressevertreter/innen nach tragen möge. Wer gute Gründe hat in fremden Ländern Asyl beantragen zu müssen, der möge es auch bekommen. Wer die Ukraine unterstützen möchte, sollte wohl besser das ganze Potential an Unterstützerinnen und Unterstützern ausschöpfen. Und falls nun wieder Fragen kommen, möglicherweise von Lettinnen und Letten: Wie siehts bei Dir aus? Sind schon viele Russen angekommen? - Dies war der Versuch einer Antwort.

1 Kommentar:

Frau Lauf hat gesagt…

Das ist schon eine sehr interessante Auffassung;)