Lettische Tourismusverantwortliche sind irritiert: gilt es doch durchaus als angesagt, Gästen regionale kulinarische Spezialitäten zu präsentieren. Erst vor wenigen Wochen hatte der "Guide Michelin" zum ersten Mal einem Restaurant in Lettland einen Stern verliehen - was ganz Lettland voller Stolz vermeldete (Max Cekot). 150.000 Euro hat das gekostet, könnte man vielleicht sagen - denn mit dieser Summe hatte die Investitions- und Entwicklungsagentur Lettlands das Michelin-Projekt "Analyse des gastronomischen Potentials in Lettland" unterstützt (lsm). Vom stolzen lettischen Sternekoch Maksims Cekots, dessen Resultate bei Michelin mit "überraschend raffiniert" bezeichnet werden und der auch schon in New York, London und Paris gelebt hat (IR), ist folgendes Lebensmotto überliefert: Wenn Du etwas tun willst, mach es besser als andere, und wenn Du nicht weißt wie, dann lerne von den besten." (delfi)
Sterne und Rankings
Aber wo die einen schon Lettland als neues Gourmet-Paradies sehen, schocken andere die lettischen Traditionalisten mit Hitlisten der "am schlechtesten schmeckenden Speisen". Das Bewertungsportal "TasteAtlas" gewinnt seine Anziehungskraft offenbar vor allem dadurch, dass dort hemmungslos regionale Spezialitäten abgewertet werden können. Und bei den "13 schlechtesten lettischen Speisen" steht was ganz vorn? Ausgerechnet "Sklandrausis", sozusagen der "Stolz Kurlands", wie in Deutschland vergleichsweise Nürnberger Lebkuchen, Thüringer Bratwurst oder Schwäbische Spätzle. "Sklandrausis" ist neben Johanniskäse und Roggenbrot als garantiert traditionelle lettische Spezialität von der EU geschützt (EAmbrosia). Wer kennt schon lettische Spezialitäten? So versuchen verschiedene lettische Portale das "Möhren-Kartoffel-Sauerrahm-Törtchen" der Sklandrausis zu bewerben. "Latvianeats" stellt es in eine Reihe mit Champagner, Gorgonzola und Camembert. "Latvianfood" stellt "unverwechselbarer Geschmack durch die einzigartige Kombination der Zutaten" heraus. Und bei "Latviansonline" lernen wir den Unterschied zwischen "skland" und "rausis".
Tradition und Massengeschmack
Und nun das! "TasteAtlas" identfiziert den "Roggen-Karotten-Pie" (rbb) als schlechtestes Gericht Lettlands und auf Platz 5 der "schlechtesten Gerichte der Welt". - "Die Lebensmittelrankings von TasteAtlas basieren auf den Bewertungen des TasteAtlas-Publikums", so die Eigenwerbung. "Ist Sklandrausis wirklich ein Magnet für Touristen?" fragt daraufhin die Sendung "Kultūršoks" im lettischen Fernsehen und empfiehlt allen Lettinnen und Letten mal darüber nachzudenken, was der Beitrag Lettlands in der globalisierten Welt sein könnte.
Dženeta Marinska leitet einen von 10 Backbetrieben im lettischen Bäckerberufsverband (Latvijas Maiznieku biedrība), die sich auf Sklandrauši spezialisiert haben. Ihr mangelt es offenbar nicht an Selbstbewußtsein, wenn sie sagt: "Ich habe schon oft erlebt, dass die Leute ihre Meinung über Sklandrauši geändert haben, wenn sie es erst einmal bei mir probiert haben." (lsm) Auch die lettische Tourismuswerbung empfiehlt gerne gerade ihren Betrieb in Kolka, direkt am "Treffpunkt zweier Meere" gelegen (Latvia.travel). Und Nils Ģēvele, Chefkoch beim ebenfalls im "Michelin-Guide" lobend erwähnten Restaurant "Ferma", auch "Lettlands Koch des Jahres 2023", sagt: "Ich war schon an vielen Orten der Welt und habe schlechtere Küche probiert; ich glaube nicht, dass es in 'Lettland einen Grund zur Sorge gibt."
Dabei ist es nicht nur Sklandrausis, der auf "TasteAtlas" mit einer schlechten Bewertung herausgestellt wird. Unter den "13 schlechtesten Gerichten" findet sich auch Griķi (Buchweizen), Maizes zupa (ein Roggenbrot-Sahne-Früchte-Nachtisch), Skābeņu zupa (Sauerampfersuppe), das Rupjmaize (dunkles Roggenbrot), Debesmanna (ein fruchtiger Nachtisch) und mit dem "Salinātā rudzu rupjmaize" (gesalzenes Roggenbrot) gleich noch ein weiteres durch EU-Recht geschütztes lettisches Traditionsprodukt. Also mit Sicherheit einiges, was regelmäßige Lettland-Besucher weit oben auf der Liste ihrer Lieblingsspeisen haben. Sollten wir also vielleicht schlußfolgern: lettische Küche - nichts für den globalisierten Massengeschmack der Stadtbewohner, die sonst nur Pizza-Bringdienst, Kebab und Hot Dog kennen?
Schlafende Juwelen, möglichst wie bei Oma
Die lettische Tourismuswerbung hebt gern das Zitat aus dem Blog des britischen Starkochs Jamie Oliver hervor, dem zufolge Lettland ein "unentdecktes kulinarisches Juwel in Europa" sei. Wissenschaftlerin Astra Spalvēna, die den Begriff des "essbaren Kulturerbes" mitprägte, bezweifelt generell, dass allein wegen der lettischen Küche sehr viele Touristen nach Lettland kommen würden. "Und selbst wenn - hat es nicht auch Vorteile, wenn Sklandrausis als angeblich so schlecht dargestellt wird? Einige werden es gerade deshalb selbst mal probieren wollen." Die meisten mögen eben das, an was sie gewohnt sind, sagt sie. (lsm) Und auch die Auffassung davon, welche Speisen als "traditionell lettisch" angesehen werden, habe sich im Laufe der vergangenen 100 Jahre verändert. "Meist wollen wir es so kochen," sagt sie, "wie es der Familientradition entspricht. So wie Mama es gekocht hat, aber wie Oma gekocht hat wissen wir oft schon nicht mehr. Es dauert bestimmt nicht mehr lange, dann werden wir auch Schaschlik, Pelmeni oder Pizza als 'traditionell' bezeichnen werden."
Bei "Max Cekot" steht übrigens "graue Erbsen mit Austern" auf der Speisekarte - vielleicht deshalb, damit die grauen Erbsen nicht auch noch auf der Negativliste landen (NRA). - "Tasteatlas", im Besitz des kroatischen Unternehmers Matija Babić befindlich, soll übrigens, Meldungen aus anderen Ländern folgend, auch "KI", also "künstliche Intelligenz" zur Ermittlung der eigenen Rankinglisten eingesetzt haben (TheVibes). Ein Gegensatz, der wohl auch mit modernsten Mitteln kaum aufzulösen sein wird: Geschmack und Logik.
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