Gerade in diesem Winter gilt: Lettland ist sowohl schneesicher wie auch frostsicher. Aber nicht in allen Sportarten, die mit Schnee zu tun haben, erwartet die internationale Öffentlichkeit lettische Erfolge.
Winterträume
Dazu zählen auch die Disziplinen des sogenannten "alpinen Skisports". "Was für eine Art Skifahren gibt es in einem Land, in dem wir einen 311 Meter hohen Hügel als höchsten Gipfel ehren?!" So fragte auch schon Sportjournalist Jānis Freimanis für die lettische "Sporta Avīze" (infoski). Aber in Zeiten, wo andernorts in immer wärmeren Wintern der Schnee wegschmilzt, verstellt allein schon die Masse der pro Disziplin antretenden Sportlerinnen und Sportler aus erfolgsverwöhnten Skinationen wie Österreich, Schweiz, USA, Frankreich oder Italien den Blick auf überraschende Erfolge kleiner Nationen. - Seit vergangenem Wochenende titelt die lettische Sportpresse stolz: "Dženifera Gērmane erreicht das beste Weltcup-Resultat in der Skisport-Geschichte des unabhängigen Lettland!" (lsm)
Am 7. Januar 2024 war es Platz 12 beim Weltcup-Slalom in Kranjska Gora - im zweiten Lauf war es sogar die fünftschnellste Zeit (SportaCentrs / Youtube). Mit Startnummer 48.
"Achtung Establishment!", warnte "Olympics.com" schon vor ein paar Jahren, "die Jugendolympionikin Dzenifera Germane ist eine der vielversprechendsten Nachwuchsskifahrerinnen..."
Der lettische Skiverband jubelte auch schon über ihre Erfolge bei den U14- und U16-Wettbewerben (infoski) und berichtete schon 2017, dass Dženifera die ganze Wintersaison in Österreich verbringt, zusammen mit Mamma Ulla Ģērmane, selbst eine lettische Skisportlerin, die ihre Erfolge in den 1980iger Jahren erreichte. Wir lernen: es gibt auch schon "Kinder-Weltmeisterschaften", und auch die hatte Dženifera schon dreimal gewonnen (Jauns).
Lettische Ski-Historie
Journalist Freimanis versucht, die neue lettische Leidenschaft für alpine Skisportarten mit einem Zitat des lettischen Schriftstellers Rūdolfs Blaumanis zu begründen: "Der Zaun, den der Verstand errichtet, kann durch Leidenschaft und Enthusiasmus überwunden werden!"(infoski). Und Freimanis kennt die lettische Skisportgeschichte. Bei Olympia 1936 in Garmisch-Partenkirchen starteten drei Lett/innen: Mirdza Martinsone (dreifache lettische Slalommeisterin 1937, 1938, 1940, sowjetlettische Meisterin 1941), Herberts Bērtulsons und Askolds Hermanovskis. Alle drei starteten in der "alpinen Kombination", alle drei wurden diskvalifiziert, bzw. konnten im Slalom wegen schlechter Ergebnisse in der Abfahrt nicht mehr starten und erreichten kein Ergebnis, auf das Lettland stolz sein könnte. Weniger bekannt ist, dass Martinsone sich gleichzeitig journalistisch betätigte und ihr sogar ein Interview mit Adolf Hitler gelang (RTU).
Folgen wir weiter der historischen Auflistung von Freimanis. 1974 in St.Moritz wurde dann Jānis Ciaguns zum ersten lettischen Skisportler, der an einer Ski-WM teilnahm (Resultat 42.Platz in der Abfahrt, kam beim Slalom nicht ins Ziel / infoski). Ulla Lodziņa, später verheiratete Ģermane, also die Mutter der heutigen Ski-Heldin Dženifera Ģērmane, gelang 1988 der größte lettische Erfolg: bei der Junioren-Weltmeisterschaft im italienischen Madonna di Campiglio gewann sie (als Mitglied des sowjetischen Teams) die Bronzemedaille, kam aber in den Weltcuprennen nie über Platz 38 hinaus. Damals war der genannte Jānis Ciaguns Trainer von Lodziņa-Ģermane - was wohl zeigt, dass vieles in dieser kleinen lettischen Ski-Szene eng zusammenhängt. "Mein Trainer ist immer herumgefahren, um Orte zu finden, wo wir das ganze Jahr Skifahren konnten", erzählt Mama Ulla (infoski).
Erst 1997 gab es dann mit Jānis Korde den nächsten Ski-Weltcup-Teilnehmer aus Lettland - dessen ausbleibende Erfolge auch damit erklärt wurden, dass er ausschließlich im lettischen Sigulda trainierte. Sein einziger Trainer war sein Vater, Reisekosten musste er selbst bezahlen, und seine Rennski kosteten ihn damals 600 Dollar. Im Interview erzählte Korde damals, er habe im Weltcup-Slalom 69 Tore zu absolvieren gehabt - auf den "Hügeln" von Sigulda könne man aber höchstens 25 aufstellen. (periodika). Zu den Olympischen Spielen Nagano 1998 schickte Lettland dann den Ciaguns-Sohn Ivars, zusammen mit Ilze Ābola (er wurde 34., sie 31. im Riesenslalom). Beide nahmen in den Jahren danach auch an Weltcuprennen teil, mit Platz 27 als Bestresultat für beide.
Erst 2010 bei der Olympiade in Vancouver gab es wieder ähnliche Platzierungen. Lettland entsandte Roberts Rode, Kristaps Zvejnieks un Liene Fimbauere (letztere trainiert von Jānis Korde). Zvejnieks erreichte immerhin einen 37. Platz und nahm auch 2014 in Sotschi (43.) und 2018 in Pyeongchang (35.) teil. An der Ski-WM 2013 und 2015 gab es dann sogar jeweils 11 bzw. 14 Athlet/innen aus Lettland - damals zahlte der Weltverband noch eine kleine Unterstützung an den nationalen Verband dafür. Von diesen jüngeren konnte Lelde Gasūna, in Sigulda geboren, 2014 in Sotschi immerhin einen Platz 30 im Slalom erringen. Ihre Kollegin Agnese Āboltiņa, die in Norwegen trainiert hatte, kam im Super-G auf Platz 31.
Skisport-Familien
"Der alpine Skisport in Lettland ist von Familientraditionen geprägt", schrieb Journalist Freimanis schon 2017. "Einen guten Trainer kann man nicht im Internet finden" - ein Zitat von Lelde Gasūna. (infoski) Von derselben Sportlerin stammt die Aussage, die Kostendeckung pro Saison belaufe sich auf etwa 60.000 Euro - und da seien Reisekosten noch nicht eingerechnet. "Alpiner Skisport ist in Lettland ein Indianer-Sport", so wird "Mama Ulla" zitiert (Google möchte es mit "Sport der amerikanischen Ureinwohner" übersetzen). Familie Ģērmane verbringt schon seit mehreren Jahren die Winter in Österreich. Aber Mama Ulla weiß auch dass es ihrer Tochter jeden Herbst wieder schwer fällt, die Freundinnen und Freunde in Lettland zu verlassen.
Und jedes Mal nach der Rückkehr nach Lettland müssen dort einige Test und Prüfungen in der Schule bestanden werden. Und die Mutter verheimlicht auch nicht, dass die Beziehungen zum Lettischen Skiverband nicht immer die besten waren und schließt nicht einmal aus, dass ihre Tochter vielleicht auch mal gezwungen sein könnte, unter der Flagge eines anderen Landes zu starten. Ob nun, nach der "historischen Platzierung" für Lettland, alles anders wird? Vorerst war es nur der Erfolg in einem einzigen Rennen.
Nachtrag: am 16. Januar 24 folgte mit Platz 8 beim Nachtslalom in Flachau / Östereich gleich der nächste Rekord
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