26. September 2022

Weniger 1520, mehr 1435

Es klingt nicht ungewöhnlich, wenn in den baltischen Staaten ein Projekt "Bernstein-Projekt" genannt wird. Es besteht eher Verwechslungsgefahr: seit kurzem aber basteln die drei baltischen Staaten unter dem Slogan "Amber Train" an einer besseren Eisenbahnverbindung. 

Aber Moment mal: läuft das nicht schon mit dem Projekt "Rail Baltica"? -
"Schon bald kann man abends in Berlin in den Zug steigen und morgens in einem der vielen Jugendstil-Cafés in Riga seinen Kaffee genießen,“ sagte Botschafterin Alda Vanaga beim "Mobility Talk" auf der internationalen Transportmesse InnoTrans. Lettland hofft also schon, die Berlinerinnen und Berliner würden vor allem in Riga einen Aufenthalt einlegen. "Rail Baltica" soll den Personenverkehr verbessern - der "Amber Train" wird sich um den Gütertransport kümmern (wo das Personal der Güterloks ihren Kaffee trinken wird, ist bisher nicht überliefert).

Personenzüge auf der Rail-Baltica-Strecke sollen eine Reisegeschwindigkeit von maximal 250 km/h erreichen können - bei Güterzügen sollen es 120 km/h sein. Die Route wird vom litauischen Grenzbahnhof Šeštokai aus über Kaunas, Riga nach Tallinn führen. Drei große multimodale Terminals sollen entwickelt werden: in Muuga (Estland), Salaspils (Lettland) und Palemonas (Litauen) (Lok-Report). Und während vor einigen Jahren sich die Diskussionen immer darum drehten, ob nicht das estnische Tartu oder die litauische Hauptstadt Vilnius einbezogen werden müssen, zeigt nun die Routenführung klar direkt nach Finnland bzw. nach Polen.

Auch die maximale Länge eines zukünftigen Güterzugs haben die Planer/innen schon ausgerechnet: man rechnet hier in Containern, und meint 43 Stück davon hintereinander reihen zu können (das ergibt etwa einen Kilometer Länge) - vorerst zweimal die Woche, später viermal. Projektpartner sind AB "LTG Cargo" (als Teil der litauischen Eisenbahngesellschaft), "LDZ Loģistika" aus Lettland und "Operail" aus Estland. Schon in den vergangenen Jahren hat sich da eine länderübergreifende Zusammenarbeit entwickelt, wenn zum Beispiel "LTG Cargo" die Überholung von Siemens-Lokomotiven übernahm (Lok-Report) - dem steht allerdings auch die Ankündigung der Entlassung von 2.000 Angestellten gegenüber (Baltic Times). Das Unternehmen musste starke Einnahmekürzungen hinnehmen, nachdem auf Grund von Sanktionen von EU und USA weniger Güter aus Belarus und Russland transportiert werden konnten. Ob nun der "Nord-Süd-Korridor" solche Verlust kompensieren kann? 

Eine erste Testfahrt des "Amber Train" genannten Projekts startete am 13. September vom estnischen Hafen Muuga aus (Baltic Times). In Kaunas wurde die Fracht umgeladen - bzw. neue Güter für den Transport nach Finnland aufgenommen. Gemäß den Angaben der Betreiber verläuft die Bahnstrecke über insgesamt 870 Kilometer: 213 Kilometer auf estnischem Terrain, 265 Kilometer in Lettland und 392 Kilometer in Litauen. 

Momentan wirbt "LDZ Loģistika" immer noch mit den
angeblichen Vorteilen einer Bahnstrecke Richtung Osten

Doch einiges hat sich auch inzwischen in der Planung wieder geändert. Noch 2018 war neben der Verbindung Westeuropas mit Finnland auch die "neue Seidenstraße" nach China im Gespräch (Verkehrsrundschau). Ralf-Charley Schultze, Präsident der UIRR (International Union for Rail-Road Combined Transport), wurde damals noch mit dem Satz zitiert: „Während es in Russland keinerlei Verzögerungen gibt, liegt die Pünktlichkeitsquote in Europa bei nur 60 Prozent.“ Und "LDZ Loģistika", eine der Projektbeteiligten, wirbt auch heute noch (September 2022) mit einer stolzen Übersichtskarte der Gütertransporte von Lettland nach China und durch Russland - noch dazu auch mit einer Route durch Belarus in Richtung Ukraine (genannt "ZUBR"). 

Was also gilt wirklich in der Verkehrspolitik der baltischen Staaten, wenn es um den Gütertransport per Bahn geht? Warten die Unternehmen in Lettland etwa in aller Ruhe ab wie der Streit Litauens mit China ausgeht? (entzündet am Thema Taiwan) Wie es aussieht, hat auch in diesem Bereich der agressive Angriffskrieg Putins gegen die Ukraine alle vor neue Herausforderungen gestellt - und in der Presse werden zwar inzwischen "schöne Schlagzeilen" einer neuen "Nord-West-Zusammenarbeit" produziert - aber die Realität wird noch ein paar Jahre brauchen, um das wirklich ökonomisch lohnend (und nicht nur als "Show-Projekte") umzusetzen. Sofern alle es auch wirklich ernst meinen. 

Seit 2018, dem Start des "Amber-Train"-Projekts, habe sich allerdings einiges verändert, erläutert der Lette Rinalds Pļavnieks bei einem Treffen der Projektbeteiligten: es brauche eine stärkere Orientierung an der tatsächlichen Nachfrage des Marktes. Da fragen wir uns doch: wird die Verbindung gar nicht nachgefragt? Diesen Verdacht scheint der litauische Kollege Mindaugas Skunčikas noch zu bestätigen, indem er die Linie Kaunas-Duisburg als Beispiel nennt - diese würde schon jetzt staatlich unterstützt. Worauf der Lette Pļavnieks wiederum betont: wichtig sei dass alle drei Staaten das Projekt gleichermaßen unterstützen. Sein estnischer Kollege Marko Paatsi (Operail) dagegen betont den Nutzen von "Amber Rail" auch für Finnland: so könnten Zellstoff und Holzprodukte bis hinunter nach Italien geliefert werden. Der Eindruck ist wohl unvermeidlich: Gütertransport nur von Estland nach Litauen hätte wohl wenig Sinn - die Umsetzung wird vor allem davon abhängen, wie stark die Linie durch weitere Partner über das eine oder andere Ende hinaus nachgefragt werden wird.

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