10. September 2022

Genug Auswahl ?

Lettland ist ein kreatives Land. Nicht nur deshalb, weil die Kultur offenbar einen so hohen Stellenwert genießt. Geradzu legendär ist auch die Vielfalt an Parteien, die immer wieder auf den Wahlzetteln stehen. Manchmal klingt es so, als wollten die Parteien geradezu zwingend vermeiden, allzu eindeutige Programmatik zu plakatieren. Wer seine Stimme bei der Parlamentswahl am 1. Oktober 2022 abgeben möchte, kann unter 19 ziemlich blumigen Angeboten auswählen: "Für Entwicklung", "für Stabilität", "Gleichklang", "Neue Einigkeit", "Lettland zuerst", "Vereinigte Liste", "Für jeden und jede", "Republika", "Souveräne Macht", "Kraft der Volksmacht", "Volksdiener Lettlands", "Vereinigung für Lettland", "Vereinigt für Lettland" - all das steht zur Wahl. Wow, die Kreativität ist doch erstaunlich! Das lettische Parteiengesetz macht nämlich die Vorgabe: der Name einer neuen Partei darf nicht identisch sein mit dem einer zuvor schon registrierten anderen Partei. Und wer mindestens 200 Gründungsmitglieder findet, kann sich auch an dem Wettbewerb der politischen Allgemeinplätze beteiligen. 

Wer aber meint, die "neuesten" seien auch die "frischesten" und besten, der sollte vielleicht "Apvienība Latvijai" wählen (registriert am 29.4.22), eine Partei, deren Name mit "Verein für Lettland" zugegebenermaßen unzureichend übersetzt wäre. Aber, wie in so vielen Fällen, sind hier dann auch wieder Politiker und Politikerinnen zu finden, die schon in anderen Parteien aktiv waren - vielleicht wäre der Name mit "neuer Aufguss" besser gewählt?

Genaues Hinsehen lohnt: hinter den scheinbaren Allgemeinplätzen können sich auch einfach eine kleine Gruppe radikaler Impfgegner verstecken, Trump-Fans, und sogar Vorbestrafte hindert es offenbar nicht, sogar als Spitzenkandidat ihrer Partei für das Amt eines Regierungschefs zu kandidieren.

Andererseits: wer nach einer, vielleicht aus anderen Ländern Europas gewohnten politischen Farbenlehre sucht, nach dem Prinzip "links ist wo der Daumen rechts ist" (oder umgekehrt), dem fallen vielleicht die "Nationale Vereinigung" (eindeutig national?), "Die Progressiven" (ist "progressiv" gleich "fortschrittlich"?), "Die Konservativen" (eindeutig konservativ?) oder auch die "Christliche progressive Partei".(vielleicht christlich, fortschrittlich, und konservativ gleichzeitig?) ins Auge. 

Es wird nicht einfacher, wenn wir nach "Sozialdemokraten" oder "Grünen" suchen. Die Grünen (Latvijas Zaļā partija) haben sich nach 20 Jahren von der Listenverbindung mit der "Bauernpartei" (Zemnieku savieniba) gelöst. An deren Slogans hatten wir uns fast gewöhnen können: wir sind diejenigen, die zu Hause das kleine Stückchen Land beackern und nicht in der ausländischen Ferne das vermeintliche Glück suchen. Die Grünen hatten sich schon bisher mit (im europäischen Vergleich) sehr konservativen Werten geschmückt (Slogan: "wir sind für die Natur, nicht für die Schwulen"). Jetzt sind sie Teil einer "Vereinigten Liste" zusammen mit der "Liepāja Partei" (Liepājas partija) und dem "Verband der Regionen" (Latvijas Reģionu Apvienība) an. Im gemeinsamen Parteiprogramm, verziert von einer Margerite als blumiges Parteisymbol, wird die Entstehung der Liste als Paradox beschrieben: "unparteiische Fachleute" seien vom Geschäftsmann Uldis Pilēns eingeladen worden, und somit sei sichergestellt, dass es kompetente, energische, professionelle und patriotische Menschen seien. Das funktiniert wohl nur mit lettischer Logik: drei schon lange existierende Parteien (gegründet 1990, 2004 und 2014) schließen sich zusammen, alle Spitzenkandidaten (Frauen sind keine darunter) ziehen schlichte, weiße Hemden an und behaupten, sie seien ab jetzt - unparteiisch. Garantie dafür: das Geld eines Unternehmers (der natürlich selbst dann gern Regierungschef werden will).  

Was wurde also aus der bisherigen Liste der "Grünen und Bauern" (Zaļo un Zemnieku savienība ZZS), wenn dort nun keine Grünen mehr zu finden sind? Statt dessen holten sich die Bauern ausgerechnet die "Sozialdemokratische Arbeiterpartei" (Sociāldemokrātiskā strādnieku partija LSDSP) als Partner ins Boot - in Lettland eine Splitterpartei, die bei den letzten Wahlen nie über 1% der Stimmen holte und deren Wahlerfolge aus der Zeit der Jahrtausendwende stammen. Der Chef der Bauernpartei kommentierte das so: "Wir wissen, dass wir viele grüne Landwirte haben, also werden wir diese Ideen am Laufen halten." (lsm) Die Parteisymbolik bleibt dabei weiterhin die gelb-grün stilisierte Ähre - Rotes bleibt vorerst außen vor, und auch auf der Webseite der LSDSP gibts keine Info über die gemeinsame Liste mit der Bauernpartei. Auch eine Art der Zusammenarbeit.

Gundars Bojārs wiederum, zwischen 2001 und 2005 Bürgermeister von Riga auf dem Ticket eben dieser "Sozialdemokratischen Arbeiterpartei", kandidiert nun in seinem jetzigen Wahlkreis Ādaži für wen? Für die Grüne Partei. Warum? Weil er "immer schon grün gedacht habe", so die eigene Aussage. (delfi.lv) Argumente braucht es wenig, um in Lettland Parteien zu wechseln.

Die andere Partei, welche den Zusatz "sozialdemokratisch" im Namen führt, ist die "Saskaņa" ("Einklang", deutsch meist mit "Harmonie" übersetzt). Deren Image hat ziemlich gelitten, seit in Russland Putin seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine begann. Lange hatte die Partei am Aufbau des eigenen Images gearbeitet, sich selbst als unverzichtbar für eine moderate Zusammenarbeit zwischen lettischer und russischer Volksgruppe darzustellen. 2009 schloss "Saskana" ein Kooperationsabkommen den Putin-Unterstützern von "Einiges Russland" ab, und aus dem Jahr 2017 sind noch Zitate des jetzigen Spitzenkandidaten Ivars Zariņš überliefert, der dieses Abkommen als "zweitwichtigstes nach dem mit der NATO" beurteilte (tvnet). War die Partei bis 2018 immer für mindestens 20% der Stimmen gut, so lassen Umfragen vermuten, dass sie in diesem Jahr eine wesentlich geringeren Einfluss auf mögliche Regierungskoalitionen haben wird.

Und wer sich sonst langweilen sollte bei der Durchsicht der Partei- und Kandidat/innenlisten, kann sich auch weiterhin einen Spaß daraus machen nachzulesen, welche Fahrzeuge zu welcher Person passen - denn das ist oft aus dem vom Wahlamt herausgegebenen Infos herauszulesen. Wer hätte gedacht, dass Ieva Akuratere, einst als Sängerin der Band "Pērkons" eine Frontfigur der "Singenden Revolution", nun BMW 318 fährt? Oder dass Kunstprofessor Aigars Bikše, inzwischen auch politisch aktiv, gleich sechs Autos besitzt (von denen allerdings fünf ein älteres Baujahr aufweisen - ein Oldtimer-Sammler also?)? Oder vielleicht ist Kandidat Arturs Krišjānis Kariņš interessanter, der als Arbeitsplatz "Ministerpräsident Lettlands" angibt, und laut seinen eigenen Angaben außer seinem Toyota Hybrid auch noch ein Boot hat und Moped fährt?

Parteien und Kandidat/innen (lettisches Wahlamt)

Parteien und Kandidaten (Kurzeinschätzungen englisch, lsm)

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