8. Juni 2021

Farbenlehre, Rochaden und ein Schillerzitat

Völlig unbeachtet jeglicher Berichterstattung deutscher Medien wurden am Samstag, den 5. Juni 2021, in Lettland Kommunalwahlen durchgeführt - mit Ausnahme von Riga, dem Bezirk Rēzekne und der Gemeinde Varakļani (siehe Beitrag). Es waren die ersten Wahlen nach der Neuordnung der lettischen Gemeindestruktur. Auffälligstes Ergebnis: die Wahlbeteiligung blieb bei landesweit durchschnittlich 34,01% stecken (cvk). 

lettische Farbenlehre (sehr grobe Einteilung):
grün = Bauernfreundlich strukturkonservativ, hellgrün = business konservativ,
dunkelblau = streng christlich konservativ, gelb = neoliberal,
mittelbraun = national-emotional, blutrot = links strukturkonservativ
Rest = Regionalparteien, Kleinparteien. grau = Wahltermin verschoben
(Quelle:
lsm)

Nur ein Drittel der Lettinnen und Letten beteiligte sich also - aber kaum eine oder einer der gewählten Stadt- und Bezirksräte wird wohl deshalb an der eigenen Legitimation zweifeln. Juristisch sei alles ordnungsgemäß gelaufen, meint auch Politologe Jānis Ikstens, aber es sei doch eine Frage wert, ob die Abgeordneten wirklich die gesamte Bevölkerung repräsentieren würden (lsm). Politologiekollege Juris Rozenvalds schlug vor, über die Einrichtung von "Einwohnerräten" (iedzīvotāju padomes) nachzudenken. 

Präsident Egils Levits meint dennoch im Wahlergebnis den Wunsch nach Stabilität erkennen zu können (lsm) - dieser Logik zufolge wäre die Wiederwahl bisherigen Regent/innen gleichzusetzen mit den Absichten der offensichtlich demokratisch Desinteressierten. 

Edgars Tavars, Vorsitzender der lettischen nationalkonservativen "Grünen Partei", zeigt sich mit dem Wahlergebnis zufrieden. In Ventpils habe Aivars Lembergs nicht am Wahlkampf teilnehmen können, weil die lettische Regierung ihn ins Gefängnis gebracht habe. Die Wähler/innen hätten aber gezeigt, so Tavars, was sein wirklicher Platz sei (Lembergs Partei "Latvijai un Ventspilij" bekam 54,32% der Stimmen) (nra). Die "Grüne Partei" erzielte gute Ergebnisse in Jūrmala und Saldus.

Besonders in Städten seien diejenigen an der Macht geblieben, die es auch schon bisher waren, meint Jānis Kincis, Journalist beim Lettischen Radio. Offenbar kann jede Gruppierung ein paar Beispiele für zufriedenstellende Ergebnisse vorweisen: die "Lettische Regionale Allianz" in Ādaži, Saulkrasti, Limbaži, Tukums un Mārupe, die "Nationalisten" (Nationālā Apvienība) eher in Ogre, Sigulda, Talsi, Smiltene und Bauska. Die "Neue Einigkeit" ("Jaunā Vienotība") von Ministerpräsident Kariņš tröstet sich mit den Ergebnissen in Salaspils, Cēsis, Ķekava, Valmiera, Kuldīga und Preiļi, während die "Saskaņa" ("Harmonie") in Rezekne und Daugavpils gute Resultate verzeichnete. 

Kurz vor dem Wahltermin hatte Regierungschef Krišjānis Kariņš eine Ministerrochade unternommen, deren Hintergründe wohl ebenfalls schnell wieder im Sumpf des lettischen Parteiennahkampfs untergehen werden. Mit Jānis Vitenbergs (Wirtschaftsminister), Marija Golubeva (Innenministerin), Anita Muižniece (Bildung und Wissenschaft) Gatis Eglītis (Soziales) wurden gleich vier Ministerien neu besetzt. 

Über die Philologin und Historikerin Golubeva könne man ja noch nicht viel sagen, meint Journalist Māris Krautmanis (Neatkarīga) - außer dass sie bisher nicht viel mit Innenpolitik zu tun habe. Anita Muižniece war Staatssekretärin unter der bisherigen Amtsinhaberin Ilga Šuplinska, die laut Krautmanis schon länger eine der unbeliebtesten Minister im Kabinett Kariņš gewesen sei. "Da hat die JKP kurz vor den Kommunalwahlen noch Ballast abgeworfen", kommentiert er ("Neatkarīga") und weist auch darauf hin, Šuplinska habe auch zu vielen Fachleuten des Bildungswesens längst kein gutes Verhältnis mehr gehabt (JKP = Jaunā Konservatīvā Partija / Neue Konservative Partei). Im Gedächtnis bleibt wohl auch ihr vergeblicher Versuch, Indriķis Muižnieks, Rektor der Universität Riga, aus dem Amt entfernen zu lassen.
"Der Mohr hat seine Arbeit getan, der Mohr kann gehen" - mit diesem Schiller-Zitat kommentierte die Ex-Ministerin selbst ihr Verhältnis zur JKP und trat mit sofortiger Wirkung aus der Partei aus. (LA)

Ein anderer Parteiaustritt hat dageben Jānis Vitenbergs die Ministerkarriere wohl gerettet. Das hat mit dem Niedergang der Partei zu tun, die sich mit der scheinbar frechen Frage "Kam pieder valsts?" (KPV-LV / „Wem gehört der Staat?“) auf dem politischen Parkett bewegte. Aber obwohl die Partei 2018 mit 14,3% der Stimmen relativ erfolgreich war und der Regierungskoalition Kariņš beitrat, konnte sich nur ein Teil der Fraktion entschließen, diese Regierung auch bei Abstimmungen zu stützen. Inzwischen wurden ehemals schillernde Führungsfiguren wie Ex-Spitzenkandidat Aldis Gobzems aus Partei und Fraktion ausgeschlossen, gegen Ex-Schauspieler und Parteigründer Artuss Kaimiņš laufen Gerichtsverfahren. Die ruinösen Reste der Partei benannten sich um in "Par cilvēcīgu Latviju" ("Für ein humanes Lettland"), was Regierungschef Kariņš jetzt veranlasste, mit seiner Ministerrochade einen Rauswurf dieser Partei aus der Koalition zu erreichen.

Jānis Vitenbergs allerdings, der als Tourismusfachmann 2018 als Kandidat der KPV-LV ins Parlament gewählt wurde und dann im April 2020 auf den Stuhl des Wirtschaftsministers gehievt worden war, war noch am 14. Mai 2021 von derselben Partei zum Rückzug gezwungen worden. Vitenbergs, politisch offenbar mit flexiblem Rückrat ausgestattet, war aber inzwischen den Nationalisten der "Nacionālā apvienība Visu Latvijai!" beigetreten und ist jetzt seit dem 3. Juni erneut Wirtschaftsminister. 

Ob die Ernennung von Gatis Eglītis als neuer "Wohlstands"-Minister (wie lettisch "Labklājība" wörtlich übersetzt, heißen würde), ob also Eglītis mehr Stabilität ins Kabinett Kariņš bringt, scheint unsicher. Schon wenige Tage nach seiner Ernennung machte Eglītis auf Twitter von sich reden, als er dort sinngemäß schrieb, nach den Kommunalwahlen würden vor allem diejenigen Parteien in den Regionen profitieren, die auf innerparteiliche Kontakte in die Regierung bauen könnten. (lsm) Lettische Innenpolitik, offenbar wirklich ein moralisches Sumpfgebiet. Und so gesehen ist die niedrige Wahlbeteiligung auch kein Wunder.

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