30. April 2019

Europa-Flüchtlinge und -Rückkehrer

Lettland vor der Europawahl - was dominiert die politischen Diskussionen? Offenbar "Flüchtlingsfragen". Nein, damit ist wohl nicht eine lettische Idee gemeint, wie die nach Europa drängenden Asylanten auf die EU-Mitgliedsstaaten verteilt werden können. Es ist eher eine Variante des "Opa nach Europa" gemeint: bist Du es leid mit der lettischen Landespolitik? Rücken Dir Gerichte, Presse und Kritiker zu sehr auf die Pelle? Dann such Dir doch lieber einen sicheren Sessel in Brüssel!

Persönlichkeiten,
Erfahrung,
Einfluss =
(kompetente)
Leistung. So sieht sich
die "Jauna vienotība"
Im Grunde hat es schon der neue Regierungschef Krišjānis Kariņš vorgemacht: nach mehreren Rückschlägen sich für ein paar Jahre ins Europaparlament wählen lassen, um dann, besser abgesichtert an Finanzen und Reputation, zu Hause noch mal richtig "zuzuschlagen". Kariņš ist ein "zurückgekehrter Flüchtling" im doppelten Sinne: sein Vater floh 1944 über Schweden in die USA.
Wenig zu klagen haben auch seine damaligen auf der "Vienotiba"-Liste gewählten Parteikollegen Artis Pabriks (Beinahe-Premier, jetzt wieder Verteidigungsminister) und Valdis Dombrovskis (jetzt in der EU-Kommission unter Claude Juncker zu einem der Vizepräsidenten aufgestiegen). Dombrovskis, Lettlands bisher ranghöchster Brüssel-Bürokrat, kandidiert auch 2019 erneut, gefolgt von Sandra Kalniete. Damit wollen die von argen parteiinternen Erdrutschen gebeutelten "Neu-Einheitlichen" wohl sagen: Rückbesinnung auf die europäische Wohlstandshoffnung. Geworben wird für eine baldige Anhebung der mittleren Einkommen auf 1500Euro.
Ebenfalls noch auf diese Liste rückten der ehemalige Chef der lettischen Korruptionsbehörde KNAB, Aleksejs Loskutovs (seit Anfang 2019 im Europaparlament Nachrücker für Neu-Ministerpräsident Kariņš), die Wirtschaftswissenschaftlerin Inese Vaidere, Nachrückerin für Dombrovskis, der in die EU-Kommission wechselte, und der Mathematikprofessor und Ex-Minister Kārlis Šadurskis (Nachrücker für Pabriks). Angesichts also der großen Anzahl von "Versorgungs-Kandidat/innen" und dem krassen Absturz an Popularität dieser Partei dürfte absehbar sein, dass diesmal weit weniger der ambitionierten Kandidat/innen dieser Liste ihre politische Karriere wie erhofft werden fortsetzen können.

Einen ganz wilden Ritt legte die Vereinigung der "Grünen und Bauernpartei" (Zaļo un Zemnieku savienība ZZS) in Europa hin. Erfolgreich war 2014 nur eine einzige Kandidatin, die mit offenbar zusätzlichen Mitteln einen eigenen Werbe-"Feldzug" hinlegte und genug Aufsehen erregte, um die notwendige Stimmenzahl zu holen (siehe "Einsam in Strassburg"). Iveta Grigule (ARTE hielt sie zunächst für eine Litauerin) wanderte danach von einer Fraktion im Parlament zur anderen - so als ob sie sich vorher nicht überlegt hatte, was sie in Brüssel bzw. Straßburg eigentlich will. 2017 trat sie aus ihrer Partei aus. Eine von ihr initiierte Kampagne gegen die Euro-Einführung verlief im Sande, und auch eine gelegentlich geäußerte Verehrung für Donald Trump hinderte sie nicht jetzt zu sagen: "Ich kandidiere nicht mehr! Das Europaparlament ist eine große, sinnlose Quasselbude" (Diena). "Da wäre sogar mein Kaktus ein besserer Kandidat", stellt ein Beitrag des Forschungszentrums "Re:baltica" mit Blick auf die wenigen Wortmeldungen Grigules im EU-Parlament fest.
Die ZZS, gegenwärtig in den Umfragen stark angeschlagen, braucht also neue Gesichter. Diesmal hoffen die "Bauerngrünen" auf Schachgroßmeisterin, Ex-Finanz- und Wirtschaftsministerin Dana Reizniece-Ozola und "Strongmen" Raimonds Bergmanis, der auch einige Jahre lettischer Verteidigungsminister war.

Auch die "Saskaņa", größte Fraktion im lettischen Parlament, hofft natürlich auf Sitze in Brüssel. Doch die jahrelang unumstritten wirkende "Parteilokomotive", Rigas Bürgermeister Nils Ušakovs, ist in schweres Fahrwasser geraten. Wegen Korruptionsvorwürfen bei den Öffentlichen Verkehrsbetrieben Riga (Rīgas satiksme) wurde zunächst deren Chef der Verkehrsbetriebe Leons Bemhens verhaftet, dann musste Rigas stellvertretender Bürgermeister Andris Ameriks zurücktreten. Illegale Zahlungen an Amtspersonen sollen geflossen sein beim Ankauf von Niedrigflur-Straßenbahnen 2016 und auch bereits bei neuen Trolley- und Autobussen 2013 (diena). Einzig Bürgermeister Ušakovs gab trotz polizeilichen Durchsuchungen seines Arbeitsplatzes und seiner Wohnung bekannt: "Nur die Rigenser, und niemand sonst, können mich entlassen!" Umwelt- und Regionalminister Pūce, von dem die Aussage stammt "Ušakovs schadet Riga jeden Tag, den er im Amt bleibt", habe schließlich bei den Kommunlwahlen 2017 nur die Stimmen von 5000 Rigensern bekommen, Ušakovs selbst aber 105 000. - Dann die überraschende Wendung: sowohl Ušakovs wie auch Ameriks treten für die "Saskaņa" als Spitzenkandidaten bei den Europawahlen an - und das trotz mehrfacher früherer gegenteiliger Bekundungen (re:baltica). Die ... verlassen das sinkende Schiff ... oder so ähnlich.

Dann sind da noch die drei neuen Parteien im lettischen Parlament (Saeima): Die "neuen Konservativen", die neoliberalen "Attistibai/par" und die rechtspopulistische "KPV.LV" Was letztere angeht, so scheint die Führung immer noch nicht einig zu sein, ob nun die neue lettische Regierung uinterstützt wird, oder doch nicht. Die EU-Kandidatenliste wird derweil von weitgehend unbekannten Gesichtern dominiert.
Auch bei den "Neuen Konservativen" gibt es keine "Polit-Stars", die nach Brüssel streben. Den Spitzenplatz auf der Liste nimmt ein Sozialwissenschafter und Volleyballtrainer ein, der sich besonders gegen einen "hybriden Krieg" engagieren will.
"100% bereit für Europa!" ist der Slogan der "Entwicklungsliberalen". Hatte der Politologe Ivars Ijabs bisher jahrelang die politischen Ereignisse kommentiert - nun will er selbst ran. Die "Geheimwaffe" aus baltischer Sicht könnte aber Ieva Ilvesa (geb. Kupce) werden, die (dritte) Frau des estnischen Ex-Präsidenten Ilves (die ebenfalls auf der Liste steht). Im Wahlprogramm wird auch das herausgestrichen, was Ilvesa als "First-Lady Estlands" erlebt hat - wohl denen, die nicht auf Estland neidisch sind!

Ebenfalls bisher als politischer Kommentator trat "Otto Ozols" auf - im bürgerlichen Leben Mārtiņš Barkovskis; er kandidiert für die Partei "Verband der Regionen" (Latvijas Reģionu Apvienība), die aber zuletzt bei den Parlamentswahlen unter 5% blieb.
Bei den "Vaterländern" ("Visu Latvijai!"-"Tēvzemei un Brīvībai/LNNK") kann neben dem bisherigen Europaabgeordneten Roberts Zīle auch die beliebte Kulturministerin Dace Melbarde "nach Europa weggewählt" werden - unklar, ob das Lettlands Kulturszene wirklich befürworten würde.

Nun, bleiben noch die kleinen Parteien. Und, siehe da: auch Oma Ždanoka ist noch da! Wer absolut die Position Russlands einnehmen möchte, also alle Putin-Fans, Sowjet-Romantiker und noch nicht bekehrte Stalinisten, die wären hier richtig! Zdanoka hat es geschickt vermocht, in Brüssel als weibliche Menschenrechtskämpferin aufzutreten, und gleichzeitig in der Ost-Ukraine und auf der Krim die pro-russischen Kämpfer zu ermutigen. Wie schön, das da vor dem EU-Wahltag noch ein 9.Mai kommen wird - sicher ein Zdanoka-Aktionstag (ausführlich zu sehen sicher im russischen Fernsehen). Zuletzt verglich Ždanoka die Situation der Russen in Lettland mit derjenigen der Juden vor dem 2.Weltkrieg (lsm) - vielleicht reicht es mit solchen Parolen wieder knapp über die 5%-Hürde.
Merkwürdig nur, dass Ždanoka eigentlich Anfang 2018 ihren Rückzug aus dem Europaparlament bekannt gegeben hatte (Greens /EFA) - ihr Name findet sich dennoch auf der Wahlliste ihrer Partei ("Latvijas Krievu savienība").

Ebenfalls noch Hoffnung machen sich eine Partei, die bei der Parlamentswahl unter 5% geblieben war: auch die "Progressiven" sind noch zu beachten, von manchen auch "die neuen Grünen" genannt. Sie treten energisch für ein modernes Europa ein - sollten also die meisten zu Hause bleiben, die Europa-Freund/innen aber wählen gehen, vielleicht haben sie eine Chance auf ein Mandat.

Eher auf "Irrläufer" und Politverdrossene hoffen vielleicht die übrigen Kleinparteien. Die "Zentrums-Partei" zum Beispiel, wo sich der schon in mehreren anderen Parteien erfolglose EU-Skeptiker Normunds Grostiņš tummelt. Diese "Zentristen" wenden sich gegen eine Verminderung der Direktzahlungen aus der EU-Kasse und sprechen sich für eine Gesetzgebung "auf der Grundlage christlicher Werte" aus. Als "Clou" haben sie sich sogar einen Bundestagsabgeordneten geangelt - der offenbar gleich in mehreren Ländern die Sitzungsgelder einsammeln möchte: den AFD-Hinterbänkler und Bauunternehmer Voldemar Herdt, ein Kasachendeutscher. Herdt gilt aber auch als gern gesehener Russland-Freund in den Putin-freundlichen Medien - er wird wohl doch lieber auf dem warmen Bundestagssessel bleiben.

16 Parteien stellen diesmal Kandidat/innen zur Europawahl auf - und damit noch zwei mehr als vor fünf Jahren (2009 waren es sogar 17 gewesen). 2014 gingen nur noch 30,24% der Wahlberechtigten Lettlands zur Europawahl (2004 waren es 41,34%, 2009 53,7%). "Europa ist in Lettland ein Eliten-Projekt", so schrieb vor fünf Jahren die Adenauer-Stiftung. Politische Beobachter ziehen den Vergleich zu 2014: damals hätten nur 5 Parteien Chancen auf ein Mandat gehabt, diesmal könnten sich aber etwa 10 Hoffnungen machen. 

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