4. August 2017

Rigas größte Schiffskatastrophe

Als im November 2011 in Riga ein Supermarkt einstürzte, hieß es wiederholt in der Presse: Lettlands größtes Unglück seit dem Untergang der Majakowski. Doch was hat es mit diesem Schiff, das den Namen eines Dichters trug, eigentlich auf sich?

An einem heißen Tag im August

Die zweite große Schiffskatastrophe in Lettland ereignete sich in der Sowjetzeit. Der Dampfer "Majakovskis" war auf der Fahrt in Richtung "Mežapark". Ein großes Gedränge von Menschen löste den Untergang aus, und verursachte den Tod von 147 Menschen, darunter 48 Kinder. Auch dieses Schiff war auf der Werft "Lange & Sohn" gebaut worden; 25 Meter lang, zunächst mit dem Namen "Vilnis" (Welle).

1940 war "Vilnis" verstaatlicht worden und kursierte Ende des 2.Weltkriegs sogar zwischen Lettland und Schweden, transportierte möglicherweise auch Flüchtlinge. In der Nachkriegszeit kursierte das Schiff kurz zwischen Skandinavien und Tallinn, um dann in den Heimathafen Riga zurückzukehren.

Aufgrund des Alters und schlechten technischen Zustandes wurde auf der Rigaer Schiffswerft (am anderen Daugava-Ufer, zwischen dem späteren Pressehaus und Hotel Radisson) eine Reparatur vorgenommen. Damals erzählte man, das alte Schiff sei bereits zweimal gesunken: einmal 1912 und einmal 1937. Ausgebessert wurden nun sowohl die Stahlhülle, Kessel und die Dampfmaschine wurden ausgetauscht, Sanitäreinrichtungen eingebaut, alles mit einem Metalldach überzogen, darauf weitere Aufbauten - alles zusammen kostete 400.000 Rubel. Nach diesem Umbau bekam das Schiff den Namen "Majakovskis". In Betrieb genommen wurde es am 1. August 1950. 14 Personen Besatzung sollten den Betrieb sicherstellen, einschließlich Kellner/innen fürs Buffet und Fahrkartenkontrolleure. Die Passagierzahl sollte von 200 auf 175 verringert werden, später bis 150, da durch zusätzliche Aufbauten der Schiffskörper schwerer geworden war und auch der Schwerpunkt des Schiffes sich verändert hatte.

Ein tragischer Feiertag

Am 6. August nahm die "Majakovskis" seine geplante Route auf: auf der Daugava über den Ķīšezers auf der Route Rīga–Mežaparks. Dreimal am Tag sollte die Tour gehen. Um das den Kunden bekannt zu machen, gab es überall Werbung: so im Radio und in der Zeitung "Padomju Latvija" ("Sowjetlettland"). Waren es am 6. August noch vier Gäste pro Tag, so fanden sich am 11. August schon 200 Interessierte ein. Zeitungen warben für eine Fahrt mit dem Schiff, hatten aber fälschlich von einem Fassungsvermögen des Schiffes von 250 Passagieren geschrieben.

Am 13. August 1950 um 10.30 Uhr legte das Schiff vom Anleger am Ķīšezers ab und näherte sich um 12 Uhr dem Zentrum von Riga am "Komjaunatnes krastmala" (heute "11.novembra krastmala", nahe der Akmens tilts / Steinbrücke). Augrund der großen Reklame, es war Sonntag und um die 22 Grad heiß bei sonnigen, wolkenlosen Himmel, war diese Fahrt auch deshalb besonders, da im Mežaparks gerade eine Feier zugunsten der sogenannten "Stahanov-Bewegung" (oder "Helden der Arbeit") stattfand. Daher hatten sich mehrere Hundert Interessierte vor dem Boot eingefunden, die mitfahren wollten. Beim knappen Halt versuchten also alle, die aufs Schiff gelangten, schnell sich Plätze zu sichern. Der Zugang wurde schlecht kontrolliert, und auf die eine oder andere Weise gelangten viele weitere auf das Schiff, zunächst über die Schiffstreppe, schließlich auch unter Umgehung derselben - wobei die Treppe sogar zusammenbrach (es gab nur einen Zugang per Gangway). Die Tickets wurden dabei erst auf dem Schiff verkauft. Manche kletterten sogar aufs Schiffsdach.

So war die Kathastrophe unvermeidlich. An der Stelle des Untergangs ist der Fluß 8 Meter tief. Die Wellen eines vorbeifahrenden Motorboots sollen die "Majakowskij" aus dem Gleichgewicht gebracht haben, nur 50m von der "Akmens tilts" (Steinbrücke) entfernt. Um 12.30 Uhr sendete das Schiff die ersten Notsignale. Als das Schiff unterging, blieb das Steuerhaus über der Wasserlinie - so konnten einige gerettet werden.
Von der Schiffbesatzung kam bis auf einen niemand zu Schaden - es wurden aber alle verhaftet und verbrachten mehrere Nächte in den Verhörzellen des KGB. Ein russischer Matrose kam auf tragische Weise ums Leben, nachdem er schon fünf Menschen gerettet und an Land in Sicherheit gebracht hatte - beim Versuch weitere zu retten. Erfolgreiche Rettungsversuche unternahmen vor allem einige Soldaten, und 26 junge Männer eines Moskauer Instituts, die 70 Menschen retteten indem sie ins Wasser sprangen und den Ertrinkenden ihre (Hosen-)Gürtel entgegen streckten. Wann eigentlich die Wasserrettung und die medizinische Hilfe vor Ort erschienen, lässt sich nicht mehr feststellen (der offizielle Bericht behauptet, ein Teil des Rettungsdienstes sei nach 15 Minuten, ein anderer Teil nach einer Stunde eingetroffen). Aleksandrs Ņikonovs, damals Sekretär der Komunistischen Partei in Lettland, schrieb in einem Brief nach Moskau dass die Opferzahlen geringer hätten sein können, wenn es auf der Daugava überhaupt eine Wasserrettung gäbe. Ņikonovs erwähnt in seinem Bericht auch, dass seiner Schätzung nach an den Ufern etwa 10.000 Leute gestanden haben und das Unglück sahen - auf diese Weise seien vielen herannahenden Rettern die Wege blockiert gewesen. Eine Schätzung im Nachhinein besagt, dass sich zum Zeitpunkt des Unglücks 421 Menschen an Bord befunden haben müssen - eine unglaubliche Überlastung.
Im "Jahrbuch der lettischen Schifffahrt" 2011 sind auch die Namen einzelner Retter aufgeführt, sich sich besonders engagierten: einer rettete eine Familie (Vater, Sohn, Mutter) und weitere drei Menschen, und einige weitere, die jeder bis zu acht Menschenleben retteten. Auch 13 Matrosen einer Taucherschule werden dort genannt, die sehr viele aus dem Wasser bargen - für die meisten kam allerdings die Hilfe bereits zu spät.

Foto: Rigasatbalss
Die Folgen: ein langwieriger Gerichtsprozess und ein verschwundener Kapitän
 
Später wurden in einem Gerichtsprozeß sechs Menschen verurteilt - zu 5 bis 25 Jahren Arbeits-lager: vier leitende Angestellte der Wasserschifffahrts-verwaltung, der Schiffskapitän (der am Unglückstag Urlaub hatte und sich zu Hause erholte), und der Assistent des Kapitäns. Zurücktreten musste auch der damalige Vorsitzende des Rigaer Rats, Arnolds Deglavs. Aber niemand der Verurteilen musste die teilweise mehrjährigen Haftstrafen absitzen - nach Stalins Tod wurden alle begnadigt.

Sehr speziell war auch die Art und Weise, wie der offizielle Bericht die Toten zählte: ganz nach "sozialistischer" Art: Arbeiter extra gezählt, und acht Menschen verdienten hier eine namentliche Erwähnung: diese acht waren Kommunisten. 

Erst 60 Jahre später, im Sommer 2011,wurde am Ufer in der Nähe der Unglücksstelle eine Gedenkplakette angebracht.
(Infoquellen: Diena 2014, Nekropole, rigaspieminiekli.lvDiena 1999, Vēstnesis, Latvijas Jūrniecības Gadagrāmata 2011)

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