Euro-Einführung und Kulturhauptstadtsjahr: wer braucht schon eine Regierung? |
Ein "Moment der Wahrheit" für die lettische Bauwirtschaft wird der Supermarkt-Einsturz in Riga inzwischen genannt. Überraschend dann der Rücktritt von Regierungschef Dombrovskis, der die Hintergründe seiner Entscheidung in einem Interview mit der Zeitschrift "IR" so darstellte, als ob er erst im Laufe des Gesprächs mit Präsident Bērziņš den Entschluss zum Rücktritt gefasst habe. Seltsam hintergründig klingt dabei die immer wieder zu lesende These Dombrovskis, es müsse nun eben eine neue Regierung mit einer soliden Parlamentsmehrheit und einem neuen Vertrauensvorschuss in der Bevölkerung die nächsten wichtigen Beschlüsse fassen - wo er selbst doch bisher immer auf eine solche Mehrheit bauen konnte, und nicht einmal die Opposition seinen Rücktritt in diesem Zusammenhang gefordert hatte.
Wo soll nun die "solide Mehrheit" aber herkommen? Turnusmäßig wird im Oktober ein neues Parlament gewählt, und jeder Regierungschef wird bis dahin ein Regierender auf Abruf sein. Einige werden schon im Mai 2014 abberufen werden - dann nämlich, wenn sie erfolgreich als Repräsentanten Lettlands im Europaparlament kandidieren. Dombrovskis aber, gefragt nach der Richtigkeit seines Entschlusses, wenn er doch einerseits eine "stabile Mehrheit" im Parlament eben durch den Rücktritt erreichen wolle, schiebt die entstandene Entschlußlosigkeit auf das Unvermögen der Parteien. So bleibt - trotz Rücktritt - das unbestimmte Gefühl, Dombrovskis habe in erster Linie doch seinen eigenen Ruf retten wollen.
Zwar seien für Unglück im Stadtteil Zolitude private Firmen verantwortlich, aber aufzuarbeiten seien vor allem die Fehler im lettischen System der Bauaufsicht, so sieht es Dombrovskis. Auch der Verdacht von Korruption in diesem Zusammenhang sei aufzuarbeiten, bestätigte er. Auch gäbe es weiterhin Schwierigkeiten im lettischen Justizsystem. Interessant auch Dombrovskis Äußerungen, er schließe zwar seine Rückkehr als Ministerpräsident aus, nicht aber die Übernahme eines Ministeramts oder die Kandidatur fürs Europaparlament.
Ursachen & Ämter
Mehr als 200.000 Euro stellte das Ministerkabinett für eine Untersuchungskommission bereit, welche die Ursachen des Unglücks untersuchen soll. Drei dafür vorgesehene Personen traten bereits wieder davon zurück, und zweifelten teilweise bereits die Kompetenzen der vorgesehen 46 (!) Mitglieder dieser Kommission an: Baiba Rubesa, Unternehmerin, Jānis Kažociņš, Ex-Büroleiter des Verfassungsschutzamts, und Inese Voika, Vertreterin der Anti-Korruptions-NGO "Delna". Die Tageszeitung "Dienas bizness" fühlte sich bereits veranlasst, die Vorgänge um die Bildung dieser Kommission als "Business-Projekt auf den Trümmern des eingestürzten Supermarkts" zu bezeichnen.
Was noch bleibt: die Fragezeichen bezüglich der Rolle des Präsidenten. Ja, der Rücktritt habe erst nach einem Gespräch mit dem Präsidenten festgestanden, so Dombrovksis. Nein, Bērziņš habe nicht versucht ihn vom Rücktritt abzuhalten. Kommt etwa jetzt doch noch der Einfluß jener Parteien zum Tragen, die Bērziņš 2011 als Gegenkandidat zum von der Regierungsparteien "Vienotība" bevorzugten Valdis Zatlers ins Amt hoben?
Mehr als vier Jahre lang musste in Lettland kein Kandidat fürs Amt des Regierungschefs mehr gesucht werden - da fällt es offenbar auch innerparteilich schwer sich zu einigen. Namen werden viele gehandelt: Māris Riekstiņš, Ex-Außenminister und gegenwärtig Lettlands Botschafter bei der NATO, Landwirtschaftsministerin Laimdota Straujuma, oder der gegenwärtige lettische Botschafter in Japan, Pēteris Vaivars. Dann einigte man sich auf Verteidigungsminister Artis Pabriks, aber hier legte Präsident Bērziņš selbst sein Veto ein und offenbarte so, dass er keineswegs neutral bleiben wird bei dieser Auswahl. Es ist ein offenes Geheimnis, dass diejenigen Kräfte, die bei der vergangenen Wahl scheiterten - also vor allem die unternehmer- und Ex-Oligarchen-freundlichen Kräfte der "Par labu Latvijai" (Ex-Volkspartei-Gründer Andris Šķēle, "Bulldozer" Ainārs Šlesers) erneut ihre Chance suchen. Also wird nur ein möglichst schwacher Regierungschef diesen Interessen gerecht? Eine Art "Frühstücksdirektor" des Präsidenten?
Inzwischen gab Bērziņš bekannt, erst am 7.Januar einen Kandidaten als Regierungschef benennen zu wollen, der dann versuchen muss die Mehrheit des Parlaments für sich zu gewinnen.
Auch anlässlich der gegenwärtigen "Gnadenerlasswelle" und Putins Werbekampagne für Sotschi spielt Präsident Bērziņš wieder eine Rolle. Keine zögerliche diesmal: im Gegensatz zur litauischen Kollegin Grybauskaite, die ähnlich wie Joachim Gauck bereits einen Besuch in Sotschi ausgeschlossen hatte, bestätigte Bērziņš bereits jetzt seine olympischen Besuchspläne."Ein Verhalten, moskau-dienlich fast wie zu Sowjetzeiten," urteilt Edvīns Šnore, Kommentator der Tageszeitung "Latvijas Avize", und vergleicht Bērziņš mit dem litauischen Ex.Präsidenten Paksas, den das litauische Parlament seines Amtes enthoben habe als seine engen Beziehungen zur russischen Mafia deutlich geworden seien.
Die Situation in Ländern osteuropäischer Nachbarn sehen Lettinnen und Letten dagegen eher unaufgeregter als die Deutschen. Nun ja, es gibt auch keinen lettischen Sportler, der - seine potentielle Popularität nutzend - sich auf eine Bühne in Kiew hinstellen würde, und den Ukrainern den Beitritt zur EU empfehlen würde. Eher spricht da schon ein Kommentar von Juris Paidars in der lettischen Zeitung ""Neatkarīgās Rīta Avīzes" für die lettische Sicht, der schlicht feststellt, die EU brauche eben die Ukraine als Absatzmarkt für "Wachstum" und wegen der billigen Arbeitskräfte. Paidars beruft sich dabei auf den Russland-Spezialisten Mark Adomanis vom Magazin Forbes, welcher die Ukraine als "faktisch bankrotten Staat" bezeichnet, der "in hohem Tempo Einwohner verliert und dessen Ökonomie nur noch halb intakt" sei.
Neujahrspläne
Mit Interesse wird dagegen der Moment des Beitritts zur Eurozone vorbereitet, auch wenn momentan kein Regierungschef für entsprechende symbolische Handlungen zur Verfügung steht. Da wird sich Präsident Bērziņš natürlich "ersatzweise" gern zur Verfügung stellen, und hat für den 2.Januar schon eine Verabredung: dann wird er im nordlettischen Ruijena mit seinem estnischen Amtskollegen Thomas Hendrik Ilves dort ein (lettisches) Eis (!) essen gehen.
Nach dem "dunklen November" ist Lettland auf der Suche nach einem "hellen Januar". Ach ja, und Weihnachten war ja auch noch; die politische Bescherung kam schon vorzeitig. Die nächsten "Geschenke" also erst wieder 2014 ....
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