Dieser Text ist vor den außerordentlichen Parlamentswahlen entstanden.
Also über Politikverdrossenheit wird auch in den etablierten Demokratien Westeuropas seit so langer Zeit diskutiert, daß jeder Student jahrzehntealte Werke zum Thema in der Uni-Bibliothek finden kann. Mal heißt es Politik-, dann Parteien- oder Politikerverdrossenheit, was man wissenschaftlich mit verschiedenen Methoden auseinanderdröseln kann. Selten jedoch hinterfragt mal der Durchschnittsmensch seine eigenen Erwartungen an den Staat und seinen Beitrag zum Schlamassel.
Die Letten haben nun plakativ das Mißtrauen gegen sich selber geäußert, indem sie in einem Referendum am 23. Juli 2011 das von ihnen selbst erst am 2. Oktober 2010 (neun Monate und 21 Tage, die Zeit einer Schwangerschaft!) gewählte Parlament in die Wüste geschickt haben. Umfragen belegen nicht nur, daß viele Wähler so wie immer vor Wahlen in den vergangenen 20 Jahren nicht wissen, wen sie wählen sollen, sie zeigen auch, daß sowohl Referendumsmuffel – die eine Neuwahl meist für überflüssig hielten – als auch Befürworter der Entlassung des Parlamentes wenig Erwartungen in die Neuwahl setzen. Ein vom lettischen Radio interviewter Passant bringt es auf den Punkt: zunächst einmal müsse sich die Gesellschaft verändern.
Und so verwundert es auch wenig, daß, obwohl andere Passanten bekundeten, ausschließlich für neue Gesichter stimmen zu wollen, da die alten ihre Zeit in mehreren Parlamentszusammensetzungen abgesessen hätten, bei der anstehenden Neuwahl viele alte Gesichter wieder zur Wahl stehen – inklusive Ainārs Šlesers sogar als Spitzenkandidat seiner Partei, dessen von den Abgeordneten-Kollegen abgelehnte Immunitätsaufhebung der Grund für den historisch einmaligen Schritt des abgetreten Präsidenten Valdis Zatlers zur Parlamentsauflösung war.
Damit bleibt einstweilen und ziemlich sicher auch danach alles beim Alten. Der politische Diskurs verändert sich nicht. Der Bürgermeister von Ventspils, Aivars Lembergs, steht erneut als Chef der Exekutive zur Verfügung, weigert sich aber wie immer, sich in die Niederungen des politischen Alltags zu begeben und Abgeordneter zu werden.
Šlesers bemerkt zutreffend, daß sich die Menschen weniger für Wahlrechtsänderungen interessierten als für ihren Lebensstandard und sich die Politik deshalb genau darum zu kümmern habe, ohne zu erklären, warum er als langjähriger Minister in Regierungen saß, die dieses Ziel gewiß nicht als Priorität behandelt haben. Der Spitzenkandidat des Harmoniezentrums, Jānis Urbanovičs will auch erst einmal expressiv verbis für drei Jahre als Priorität den Lebensstandard heben, danach könne sich die Politik Fragen widmen, ob es nun eine Okkupation gegeben habe oder nicht.
Hintergrund ist die Forderung der Einigkeit nach den letzten Wahlen, das Harmoniezentrum müsse, um eine Zusammenarbeit in der Regierung möglich zu machen, die Okkupation anerkennen. Rigas Bürgermeister Nil Uschakow war ebenfalls kritisiert worden, daß er bei seinem Besuch im Museum dieses Namens gleich gegenüber des Rathauses diesen Begriff sich geweigert hatte in den Mund zu nehmen.
Die seit den letzten Wahlen nationalistischer gewordenen Nationalisten legen in Umfragen zu. Darüber freut sich Nationalist Raivis Dzintars, der ebenfalls mit dem alten Dauerbrenner in den Wahlkampf ziehen will, es müsse künftig ein Machtzentrum beim Präsidenten statt im Koalitionsausschuß gehen, will sagen, die Verfassung müsse geändert werden.
Mit anderen Worten, während Lettland und seine Bevölkerung unter den Folgen der Krise leidet, diskutieren die Politiker über Verfassung und Vergangenheit und versuchen, sich Pfründe und juristische Sicherheit zu erhalten. Es steht zu befürchten, daß die Wähler sich auch erneut für diese Positionen entscheiden werden.
Einziger Neuzugang im politischen Spektrum ist die Partei von Ex-Präsident Zatlers, der mit der Benennung seiner Partei als Zatlers Reformpartei unter Aufnahme seines Nachnamens sowohl schwer an den deutschen Joachim Siegerist mit seiner fragwürdigen Siegerist Partei erinnert, als auch bislang auf eine Festlegung in Fragen von Inhalten und Personal weitgehend verzichtet, was er in seinem weiterhin abgehackten Redestil gern in jedes Mikrophon rechtfertigt.
Ja, wahrscheinlich werden die lettischen Parteien wieder einmal nicht mit dem Harmoniezentrum koalieren wollen. Vermutlich sollte es für die Einigkeit mit Zatlers und den Nationalisten reichen, vielleicht aber auch in anderer Konstellation mit der Union aus Grünen und Bauern. Ohne letztere wäre allerdings ein positiver Aspekt anzumerken, es gäbe erstmalig keine Oligarchen mehr in der Regierung. Wie professionell jedoch Zatlers politische Genossen arbeiten werden, nachdem er einen in den 30ern stehenden Unternehmer als Kandidat für das Amt des Ministerpräsidenten ausgerufen und einen Millionär für das Finanzministerium nominiert hat, bleibt ebenso ungewiß wie die Frage, wie die eher national denkende Bürgerliche Union innerhalb der Einigkeit mit den Nationalisten in einer allfälligen Regierung erneut in die nationale Frage über die sozio-ökonomische stellt.
Lettland hat sich in den vergangenen zwanzig Jahren in der Öffentlichkeit vorwiegend mit der Vergangenheit statt mit der Zukunft beschäftigt, während im Hintergrund ganz andere politische Inhalte verfolgt wurden. Einstweilen deutet alles darauf hin, daß sich daran auch nach dem nächsten Urnengang nichts ändert. Sechs Monate sieht die Verfassung vor, ehe eine neuerliche Parlamentsauflösung möglich ist. Seit vergangenem Jahr kann dies auch das Volk allein mit einem Referendum anstrengen, den Präsidenten braucht es dazu nicht mehr. Mal sehen, wie lange die Letten dieses Mal Vertrauen in ihre eigene Entscheidung setzen.
Der Jurist Jānis Pleps erklärte, daß die Gesellschaft ihre Meinung, Politik sei ein schmutziges Geschäft, zügig ändern müsse. Politiker sei ein Job mit hoher Verantwortung, der enorme Kenntnisse verlange. Die negative Einstellung gegenüber der Politik in der Bevölkerung halte die kompetentesten Leute von einer politischen Karriere ab. Also Politikverdrossenheit als self-fulfillig prophecy. Und da steht Lettland dem Westen in nichts nach oder vor. Der aus der ehemaligen DDR stammende Politologe Dieter Segert gab seinem Sammelband über die Parteiensysteme Osteuropas bereits vor Jahren den Titel Osteuropa als Trendsetter.
Also über Politikverdrossenheit wird auch in den etablierten Demokratien Westeuropas seit so langer Zeit diskutiert, daß jeder Student jahrzehntealte Werke zum Thema in der Uni-Bibliothek finden kann. Mal heißt es Politik-, dann Parteien- oder Politikerverdrossenheit, was man wissenschaftlich mit verschiedenen Methoden auseinanderdröseln kann. Selten jedoch hinterfragt mal der Durchschnittsmensch seine eigenen Erwartungen an den Staat und seinen Beitrag zum Schlamassel.
Die Letten haben nun plakativ das Mißtrauen gegen sich selber geäußert, indem sie in einem Referendum am 23. Juli 2011 das von ihnen selbst erst am 2. Oktober 2010 (neun Monate und 21 Tage, die Zeit einer Schwangerschaft!) gewählte Parlament in die Wüste geschickt haben. Umfragen belegen nicht nur, daß viele Wähler so wie immer vor Wahlen in den vergangenen 20 Jahren nicht wissen, wen sie wählen sollen, sie zeigen auch, daß sowohl Referendumsmuffel – die eine Neuwahl meist für überflüssig hielten – als auch Befürworter der Entlassung des Parlamentes wenig Erwartungen in die Neuwahl setzen. Ein vom lettischen Radio interviewter Passant bringt es auf den Punkt: zunächst einmal müsse sich die Gesellschaft verändern.
Und so verwundert es auch wenig, daß, obwohl andere Passanten bekundeten, ausschließlich für neue Gesichter stimmen zu wollen, da die alten ihre Zeit in mehreren Parlamentszusammensetzungen abgesessen hätten, bei der anstehenden Neuwahl viele alte Gesichter wieder zur Wahl stehen – inklusive Ainārs Šlesers sogar als Spitzenkandidat seiner Partei, dessen von den Abgeordneten-Kollegen abgelehnte Immunitätsaufhebung der Grund für den historisch einmaligen Schritt des abgetreten Präsidenten Valdis Zatlers zur Parlamentsauflösung war.
Damit bleibt einstweilen und ziemlich sicher auch danach alles beim Alten. Der politische Diskurs verändert sich nicht. Der Bürgermeister von Ventspils, Aivars Lembergs, steht erneut als Chef der Exekutive zur Verfügung, weigert sich aber wie immer, sich in die Niederungen des politischen Alltags zu begeben und Abgeordneter zu werden.
Šlesers bemerkt zutreffend, daß sich die Menschen weniger für Wahlrechtsänderungen interessierten als für ihren Lebensstandard und sich die Politik deshalb genau darum zu kümmern habe, ohne zu erklären, warum er als langjähriger Minister in Regierungen saß, die dieses Ziel gewiß nicht als Priorität behandelt haben. Der Spitzenkandidat des Harmoniezentrums, Jānis Urbanovičs will auch erst einmal expressiv verbis für drei Jahre als Priorität den Lebensstandard heben, danach könne sich die Politik Fragen widmen, ob es nun eine Okkupation gegeben habe oder nicht.
Hintergrund ist die Forderung der Einigkeit nach den letzten Wahlen, das Harmoniezentrum müsse, um eine Zusammenarbeit in der Regierung möglich zu machen, die Okkupation anerkennen. Rigas Bürgermeister Nil Uschakow war ebenfalls kritisiert worden, daß er bei seinem Besuch im Museum dieses Namens gleich gegenüber des Rathauses diesen Begriff sich geweigert hatte in den Mund zu nehmen.
Die seit den letzten Wahlen nationalistischer gewordenen Nationalisten legen in Umfragen zu. Darüber freut sich Nationalist Raivis Dzintars, der ebenfalls mit dem alten Dauerbrenner in den Wahlkampf ziehen will, es müsse künftig ein Machtzentrum beim Präsidenten statt im Koalitionsausschuß gehen, will sagen, die Verfassung müsse geändert werden.
Mit anderen Worten, während Lettland und seine Bevölkerung unter den Folgen der Krise leidet, diskutieren die Politiker über Verfassung und Vergangenheit und versuchen, sich Pfründe und juristische Sicherheit zu erhalten. Es steht zu befürchten, daß die Wähler sich auch erneut für diese Positionen entscheiden werden.
Einziger Neuzugang im politischen Spektrum ist die Partei von Ex-Präsident Zatlers, der mit der Benennung seiner Partei als Zatlers Reformpartei unter Aufnahme seines Nachnamens sowohl schwer an den deutschen Joachim Siegerist mit seiner fragwürdigen Siegerist Partei erinnert, als auch bislang auf eine Festlegung in Fragen von Inhalten und Personal weitgehend verzichtet, was er in seinem weiterhin abgehackten Redestil gern in jedes Mikrophon rechtfertigt.
Ja, wahrscheinlich werden die lettischen Parteien wieder einmal nicht mit dem Harmoniezentrum koalieren wollen. Vermutlich sollte es für die Einigkeit mit Zatlers und den Nationalisten reichen, vielleicht aber auch in anderer Konstellation mit der Union aus Grünen und Bauern. Ohne letztere wäre allerdings ein positiver Aspekt anzumerken, es gäbe erstmalig keine Oligarchen mehr in der Regierung. Wie professionell jedoch Zatlers politische Genossen arbeiten werden, nachdem er einen in den 30ern stehenden Unternehmer als Kandidat für das Amt des Ministerpräsidenten ausgerufen und einen Millionär für das Finanzministerium nominiert hat, bleibt ebenso ungewiß wie die Frage, wie die eher national denkende Bürgerliche Union innerhalb der Einigkeit mit den Nationalisten in einer allfälligen Regierung erneut in die nationale Frage über die sozio-ökonomische stellt.
Lettland hat sich in den vergangenen zwanzig Jahren in der Öffentlichkeit vorwiegend mit der Vergangenheit statt mit der Zukunft beschäftigt, während im Hintergrund ganz andere politische Inhalte verfolgt wurden. Einstweilen deutet alles darauf hin, daß sich daran auch nach dem nächsten Urnengang nichts ändert. Sechs Monate sieht die Verfassung vor, ehe eine neuerliche Parlamentsauflösung möglich ist. Seit vergangenem Jahr kann dies auch das Volk allein mit einem Referendum anstrengen, den Präsidenten braucht es dazu nicht mehr. Mal sehen, wie lange die Letten dieses Mal Vertrauen in ihre eigene Entscheidung setzen.
Der Jurist Jānis Pleps erklärte, daß die Gesellschaft ihre Meinung, Politik sei ein schmutziges Geschäft, zügig ändern müsse. Politiker sei ein Job mit hoher Verantwortung, der enorme Kenntnisse verlange. Die negative Einstellung gegenüber der Politik in der Bevölkerung halte die kompetentesten Leute von einer politischen Karriere ab. Also Politikverdrossenheit als self-fulfillig prophecy. Und da steht Lettland dem Westen in nichts nach oder vor. Der aus der ehemaligen DDR stammende Politologe Dieter Segert gab seinem Sammelband über die Parteiensysteme Osteuropas bereits vor Jahren den Titel Osteuropa als Trendsetter.
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