Am Ende ging es ziemlich schnell: im Laufe von nicht mehr als einer Stunde wählten die Abgeordneten des lettischen Parlaments am 31.Mai einen Nachfolger für die nach zwei Amtszeiten ausscheidende Präsidentin Vaira Vīķe-Freiberga. Der Neue im Amt heißt Valdis Zatlers, ist 52 Jahre alt, ausgebildet als Arzt (Orthopäde) und seit 1994 Leiter eines Krankenhauses in Riga. Nach dem kürzlich neu gewählten Bürgermeister von Riga, Janis Birks, ist Zatlers nun schon der zweite Arzt, der in Lettland ein wichtiges politisches Amt einnimmt.
Überraschend schnelle Entscheidung
"Auch ich war einmal Kandidat" - das können in Lettland am Ende der monatelange Kandidatentombola viele von sich behaupten. Innenminister Godmanis erwähnt es in seinem Redebeitrag direkt vor der Kandidatenwahl (eine öffentliche - im Radio und Fernsehen direkt übertragene parlamentarische Diskussion gab es vor einer Präsidentenkür zum ersten Mal).
Als Kandidat gehandelt wurde fast jede/r im Rampenlicht stehende lettische Politiker/in. Die "Schuhe" (oder "Fußstapfen") von der weltweites Ansehen genießenden Vaira Vīķe-Freiberga schienen allzu groß. und das Machtstreben der derzeitigen Regierungspolitiker inklusiver der hinter den Parteien stehenden Großfinanziers allzu offensichtlich.
Sandra Kalniete, ehemalige Außenministerin, Schriftstellerin und inzwischen Mitglied der konservativen "Jaunais Laiks" (Neue Ära), hatte erst wenige Tage vor dem parlamentarischen Wahlgang ihre Kandidatur aufgegeben. Das Verfahren zur Wahl des Präsidenten war erst kürzlich gesetzlich neu geregelt worden - angeblich zugunsten der Transparenz der Wahlvorgänge. Erwartet worden war das schnelle und mit 58 zu 39 (der insgesamt anwesenden 98 Stimmberechtigten) recht klare Ergebnis dennoch nicht: allzu mißtrauisch beobachtet das Wahlvolk zur Zeit ihre Regierenden. Allzu deutlich hatte Aivars Endziņš, nach der Nominierung Zatlers als Kandidat von verschiedenen Oppositionsparteien aufgestellter Gegenkandidat in Umfragen eine deutliche Sympathiemehrheit für sich errungen. Und allzu oft haben sich lettische Parteien bei zurückliegenden Wahlen erst nach langen Grabenkämpfen auf neue Führungsfiguren einigen können.
Pressereaktionen: wo bleibt die Analyse?
Was kommentieren die Medien? Online sind auch einige Deutschsprachige schon am 31.März versorgt; allerdings mit sehr vereinfachenden Schlagzeilen. "Umstrittener Arzt zum Präsidenten gewählt" meint DIE ZEIT ONLINE, offensichtlich auf splitterartige Infos irgendwelcher Agentur-Agenten gestützt. Für die Schumann-Stiftung ist das von Zatlers bisher geleitete Haus gar ein "Trauma-Krankenhaus" (mißverstanden aus dem lettischen Wort für "Trauma"=Verletzung, Unfall - also ein Unfallkrankenhaus!).
Auch die FRANKFURTER RUNDSCHAU ist diesem Übersetzungsfehler aufgesessen, und bauscht ihn gar noch weiter auf: "Trauma-Experte als Präsident". Nun gut, der Korrespondent hat es vermutlich zunächst mal von seinem Arbeitssitz in Kopenhagen aus geschrieben.
Die FR spielt sich selbst auch die Bälle der "kritischen Berichterstattung" in die Hände. Zitiert wird eine Stellungnahme von Robert Putnis, Vorsitzender der Antikorruptions-NGO "Transparency International (TI)" (in Lettland ist das die Organisation DELNA), der sich gegen Zatlers ausspricht. Verschwiegen wird dabei allerdings, dass gerade DELNA Fernsehwerbespots für den Gegenkandidaten Zatlers, Aivars Endziņš, schaltete. Solcher Stil scheint auch einzigartig zu sein: wie kann eine angeblich unabhängige Organisation sich selbst zum Akteur im politischen Wettstreit küren? Gibt es Beispiele aus anderen Ländern? Ruft TI Deutschland etwa zur Wahl bestimmter politischer Kandidaten auf?
Kompromiskandidat Zatlers, Gegenkandidat nur getragen vom Populismus?
Wahr ist, dass Zatlers sicher kein idealer Kandidat war - als Kompromis geboren aus dem Zwang der gegenwärtigen Vier-Parteien-Regierungskoalition, sich bei der Präsidentenwahl einig zu zeigen. Die offensichtlich wenig rücksichtsvolle Art, wie die gegenwärtige Regierung ihre Interessen und Projekte mit ihrer parlamentarischen Mehrheit durchsetzt, hat bei vielen schon das dringende Bedürfnis nach Neuwahlen erzeugt - auch das kürzlich erfolgreiche Verfahren zur Volksabstimmung über die neuen lettischen Sicherheitsgesetze zeigt das.
Am Tag vor der Wahl hatte sich die bisherige Amtinhaberin Vīķe-Freiberga noch gleichermaßen kritisch über beide noch verbliebenen Kandidaten geäussert. Den angeblichen "Kandidaten des Volkes", Aivars Endziņš, unterschied vor allem seine berufliche Vergangenheit im Sowjetsystem vom politisch unbelasteten und erheblich jüngeren Konkurrenten Zatlers. Zitate aus Veröffentlichungen des in Moskau geschulten Sowjetjuristen Endziņš zeigten dessen damals (in den 70er, 80er Jahren) offensichtliche Ergebenheit gegenüber den staatlichen Dogmen: mehrfach bestätigte er die sowjetische Darstellung eines "freiwilligen" Beitritts Lettlands zur Sowjetunion, und bezeichnete alle Vorwürfe einer gewaltsamen Okkupation als "Erfindungen des bourgeousen Klassenfeindes."
Seine Meinung kann man ändern, so Endziņš während einer Diskussion im lettischen Radio, nach seiner Einstellung dazu befragt. Lettland ist ein Land, in dem die Akten zu den Mitarbeitern des Geheimdienstes KGB (als Schlagwort von den "Čekas maisi" - den "Säcken der Tschecka" bekannt) bisher noch nicht geöffnet bzw öffentlich gemacht wurden. Wenn solche Dokumente öfffentlich wären, würde nicht ein in leitender Funktion gut geschulter Sowjetjurist dabei eine Rolle gespielt haben (müssen)? In seine Rolle als "Korruptionsbekämpfer" kam Endziņš erst ab 1996 in seiner Funktion als Vorsitzender des lettischen Verfassungsgerichts.
So mißintrepretiert auch die WIENER ZEITUNG Endziņš als "linksgerichteten Rivalen" Zatlers. Auch das können nur oberflächliche Schlußfolgerungen gewesen daraus sein, dass diejenigen Parteien, die sich immer als Interessenvertreter der russischen Minderheiten ausgeben, laut eigener Aussage das "geringe von zwei Übeln" wählen wollten (und dann Endziņš die Stimmen gaben). Besonders hervorgetan mit dem Kandidaten Endziņš hatte sich aber die oppositionelle neokonservative Jaunais Laiks; vielleicht bestanden ja immer noch Hoffnungen, Uneinigkeit in der Regierung hervorrufen zu können, und sich dann als die bessere (weil konsequent konservativere) Regierungsalternative darstellen zu können. Gerade daher aber wohl die Einigkeit und Entschlossenheit auf Seiten der Regierungsbänke.
Noch größere Mißverständnisse erzeugt "Vorarlberg online" mit Behauptungen, Endziņš habe sich nur der Stimmen "seines linksgerichteten Harmonie-Zentrums" sicher sein können. Da kann ich nur sagen: liebe Kollegen aus Österreich, Sie haben leider die Parlamentsdebatte vor der Wahl verschlafen!
Ähnliche Probleme bei der sonst so konservativen WELT. Auch hier wird Endziņš als "linksliberal" bezeichnet - und damit die Rolle der ihn als Kandidaten benennenden Partei völlig überschätzt, gleichzeitig die Schwächen des Kandidaten Endziņš verschwiegen. Noch mal zur Erinnerung: es gab keine Möglichkeit zur Enthaltung bei der Abstimmung!
Keine leichte Wahl also. Gegen beide verbliebenen Kandidaten gestimmt zu haben, das verkündete nach dem Wahlgang nur Karina Pētersone (LPP/LC), selbst vor kurzem noch Kandidatin. Die ungewöhnliche Abstimmungsform ließ das zu: auf einem Zettel standen beiden Namen, und jeder Abstimmende musste zu beiden ein "pro" oder "contra"-Votum abgeben. Vom Vorgang her möglich, wenn auch sehr unwahrscheinlich, war eine Stimmenzahl von mehr als 50% für beide Kandidaten. Das hätte sicherlich einen rechtlichen Streitfall ausgelöst, denn gemäß dem Wahlgesetz ist derjenige Präsident, der über 50% der Stimmen auf sich vereinigt ...
Lettland hofft auf zukünftige bessere Profilierung Zatlers
Vielleicht ist also am ehesten dem zu folgen, was sich in verschiedenen Internet-Diskussionsforen nun wiederspiegelt. "Gut, Zatlers wird an seinen Taten gemessen werden müssen," so mehrere Diskutanten. Wieder einmal regiert vor allem eines: das Prinzip Hoffnung. Auf eine optimierte Schlauheit im Amt. Vorerst sind dem Kandidaten wie dem Präsidenten Zatlers die Zustände in seinem Berufsstands mehr als eine Bürde: während zum Beispiel Lehrern in Lettland streng verboten ist, irgendwelche Geschenke für ihre Arbeit anzunehmen (und gerade die chronisch schlecht bezahlten Lehrer haben es in Lettland nicht leicht), ist es bei Ärzten immer noch "üblich": sich nach erfolgreicher Operation oder Krankenbehandlung irgendwie materiell zu bedanken, ist weit verbreitet. "Wie sollen wir denn das versteuern, wenn wir einen Kasten Pralinen oder eine Flasche Schnaps bekommen?" So klagt der Ärztestand. Was bei Lehrern geht, soll bei Ärzten schwierig sein? Wie gerade die ärmeren (und kranken) Menschen in Lettland wissen, geht es hier nicht um Gefälligkeiten, sondern eher um "Umschläge", die überreicht werden.
In Lettland sitzt gegenwärtig mit Aivars Lembergs einer der bisher einflußreichsten Politiker und Industriemagnaten (in Lettland gerne "Oligarchen" genannt) wegen Verdacht auf umfassende Korruptionsaktivitäten im Gefängnis. Wenn der neue lettische Präsident nicht ständig an eigene Nachlässigkeiten auf diesem Gebiet erinnert werden will, muss wahrscheinlich gerade er auch entscheidende Anstöße auf diesem Gebiet geben. Vielleicht gerade auch zum Unmut seiner Ärztekollegen, die seine Wahl massiv unterstützt haben.
Zum Schluß noch die witzige Idee eines Letten mit dem verwechselbaren Namen Indulis Berziņš, entnommen aus der Seite der lettischen Jugendorganisation ELJA bzw. www.latviesi.com: auf dass das Erbe der bisherigen Präsidentin Vīķe-Freiberga nicht vergessen werde, wird dem frisch gewählten Zatlers kurzerhand deren Frisur verpasst ...
Hier drückt sich wohl die Hoffnung aus, wenigstens ein Teil des guten Rufs, den das lettische Präsidentenamt in den vergangenen Jahren genoß, möge auch vom neuen Präsident bewahrt bleiben.
(Text um einige Pressezitate erweitert)
Lebenslauf Valdis Zatlers (Info des lettischen Außenministeriums, engl.)
Blog zu Valdis Zatlers (lettisch)
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