In dieser Form hat Lettland wohl auch noch keine Diskussion um das Kriegsende 1945, die Okkupation der baltischen Staaten bzw. die Machtansprüche des damaligen Sowjetstaates, und die heutige Erinnerung daran gegeben. Ausgelöst von den Unruhen im Nachbarland Estland, richtete sich diesmal die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit ganz auf das Verhalten der eigenen politischen Funktionsträger gegenüber den Ereignissen im nördlichen Nachbarland. (Foto: DIENA 9.5.07)
Eigentlich ist ja in Lettland am 4.Mai des Landes ehrenvollster Feiertag: an diesem Tag im Jahr 1990 stimmte eine eindeutige Mehrheit des damaligen lettischen obersten Sowjetrat (weitgehend die in der lettischen "Volskfront" zusammengeschlossenen Abgeordneten) für eine Erklärung der Unabhängkeit Lettlands. Unter dem Jubel Tausender draußen wartender Menschen kamen sie dann einzeln aus dem Parlamentsgebäude - Bilder, die den meisten Menschen in Lettland aus dem Fernsehen oder inzwischen von vielen Fotoausstellungen bekannt sind.
Danach wurden Dainis Ivans, damals Vorsitzender der Volksfront, zum Parlamentssprecher, und sein Stellvertreter Ivars Godmanis zum Ministerpräsident. Heute ist der eine Stadtratsabgeordneter und der andere Innenminister - doch nur scheinbar bürgt dies für Kontinuität des lettischen politischen Bewußtseins.
Schock aus dem Norden
Schon Ende April verbreiteten sich die Nachrichten über die in gewaltsame Randale und Zerstörungswut ausufernden Krawalle in Tallinn. Doch übereinstimmend wurde immer wieder berichtet von der Einstellung der Menschen in Riga, befragt nach der Vergleichbarkeit der Situation in Estland und Lettland: "Das kann bei uns nicht passieren!" zeigte sich die überwiegende Mehrheit überzeugt.
Doch die Dramaturgie verlief anders: am 5.Mai erschien die größte Tageszeitung DIENA mit der Schlagzeile: "Estland bekommt vom lettischen Parlament keine Unterstützung". Was war geschehen?
Im Parlament war ein Antrag auf Unterstützung der estnischen Position gegenüber Russland eingebracht worden. Eine Haltung, die inzwischen sogar weit vom Geschehen entfernt liegende EU-Mitgliedsstaaten eingenommen hatten. Viele politische Beobachter sehen es ähnlich wie die dänische "Berlinske Tidene", die in einem Kommentar von "Pöbelmentalität" Russlands sprach. Ein Denkmal zu verlegen, ist Sache des Staates oder der Stadt, auf dessen Territorium es sich befindet. Das zum Anlaß zu nehmen, Scheiben einzuwerfen, Steine auf Polisten zu schmeißen oder alles zu zerstören, was nicht "niet- und nagelfest" ist, eine ganz andere Sache. Ja, sogar die Schwierigkeiten sozial benachteiligten Gruppen, die Lage der Russen in Estland - all das könnte diskutiert und erörtert werden, aber: auf der Grundlage der Anerkennung der estnischen staatlichen Souveränität, und unter Berücksichtigung der Geschichte der gewaltsamen Okkupation der baltischen Staaten durch die sowjetische Rote Armee.
Doch was macht das lettische Parlament? Bei der Abstimmung zur erwähnten Solidaritätserklärung gab es von den 100 Abgeordneten nur 41 Befürworter, 29 stimmten dagegen, 11 enthielten sich und weitere 11 glänzten durch Abwesenheit (siehe auch Estland-Blog). Warum? "Parteitaktische Spielchen", vermutet die lettische Presse. Denn der Antrag war eingebracht worden von der Oppositionspartei "Jaunais Laiks" ("Neue Ära"), die erst kürzlich von der Koalitionsparteien der lettischen Regierung erfolgreich um den Posten des Rigaer Bürgermeisters gebracht worden war. Baltische Solidarität ist in Lettland offenbar nicht überparteiisch.
Befragt nach den Gründen für so ein Abstimmungsergebnis, antwortete Ministerpräsident Kalvitis trocken: "Wir haben aber den Esten auf dem Höhepunkt der Unruhen Wasserwerfer und andere Ausrüstung zur Verstärkung geschickt, und schließlich hat sich auch Außenminister Pabriks eindeutig geäußert."
Offenbar blieben in der Öffentlichkeit doch Zweifel an dieser "Eindeutigkeit" der lettischen Haltung. Am 8. und 9.Mai dominierten neben den lettischen vor allem estnische Flaggen die öffentlichen Kundgebungen, zu denen sich trotz Regenwetter Tausende versammelten. Derweil diskutiert der auswärtige Aussschuß des lettischen Parlament eine veränderte Fassung der Solidaritätsadresse, um diese vielleicht doch noch im Parlament beschließen zu lassen.
Ungläubige Fragen, Staunen über Estland
Sämtliche in der lettischen Presse nachlesbaren Kommentare zur Vergleichbarkeit der Situation zwischen Russen und Esten in beiden Ländern gehen davon aus, dass Ähnliches wie in Tallinn in Riga kaum vorstellbar wäre. So sagt der Politologe und Ex-Minister für Integrationsfragen, Nils Muiznieks: "Die Russen, die bei uns leben, haben durchschnittlich einen ganz andere Ausbildungstandard", meint Muiznieks, "die Mehrheit der nach Lettland zugewanderten Russen arbeiten im technischen Bereich, zum Beispiel bei den Firmen ALFA oder VEF, während viele Russen in Estland beim Phosporabbau oder in der Ölschieferindustrie arbeiten." (aus: DIENA, 3.Mai 2007)
Lettlands Presse registrierte auch aufmerksam, dass das Parlament Litauens seine Unterstützungerklärung zugunsten Estlands mit den Stimmen aller 98 anwesenden Abgeordneten einstimmig verabschiedete (DIENA 3.Mai 2007 - eine Stellungnahme des litauischen Ministerpräsidenten Kirkilas wird auch bei Russland online zitiert)
Ruhige Feiertage
Die beiden Tage des 8. und 9.Mai verliefen in Lettland weitgehend ruhig. Außer den Tausenden Menschen, die sich zur Erinnerung an den "Baltischen Weg" (Menschenkette auf dem Höhepunkt der Unabhängigkeitsbewegung Ende der 80er Jahre) an den Händen fassten und Lieder wie "Baltija admoda" sangen, gab es auch andere Zusammenkünfte und Gedenkveranstaltzungen. Viele davon zwar von einem Polizeiaufgebot bewacht, aber alle friedlich. So legte ein "antifaschistisches Komitee" am 8.Mai vor dem lettischen Freiheitsdenkmal (sic!) Blumen zur Erinnerung an den Kampf gegen den Faschismus nieder (LETA, 8.5.07). Am 9.Mai versammelten sich einige Russen vor dem in sowjetlettischer Zeit errichteten Denkmal des Sieges über den Faschismus (vergleichbar dem "Bronzesoldaten" in Tallinn), gleichfalls mit Blumen und Liedern ("ARTE Info berichtete darüber am 9.Mai). Auch um es vor Übergriffen zu schützen, so ihre Aussage.
Rückkehr zur Tagesordnung?
Doch wie wird sich Russland verhalten? Zumindest in Westeuropa hat der russische Staat und seine Führung durch die nervösen Reaktionen gegenüber Estland ganz klar an Ansehen verloren. Es bleibt zu hoffen, dass aus dem Osten nicht bewußt ein Klima eines neuen "Kalten Kriegs" geschürt wird - aber das hängt wohl auch unter anderem damit zusammen, ob die USA nicht weiter so überheblich ihre Sonderinteressen (siehe angebliche "Raketenabwehr") durch einen Präsidenten einsam durchsetzen läßt, der doch mehr und mehr einer hilflosen, als einer "lahmen" Ente gleicht (sonst der Ausdruck für einen bald aus dem Amt scheidenden Präsidenten).
Die von der Formulierung her härteste Kritik an Estlands Position kam aus Litauen. Über die Russen in Estland wird in der BALTIC TIMES eine Aussage von Gintaras Didziokas, litauisches Mitglied des Europaparlments: "Diese Randalierer in Tallinn haben ja behauptet, sie seien nur Kämpfer gegen den Faschismus. Das ist völlig falsch. Aber die Esten sind gleichfalls dickköpfig - sie scheiterten darin, mit Russland einen Dialog über die Denkmalverlegung zu etablieren, bevor sie damit anfingen."