Die Kommunalwahlen in Lettland brachten, den Kommentaren in der Presse zufolge, nur wenige Überraschungen.
Aufsehen erregte aber der Stadtrat in der lettischen Hafenstadt Liepāja. Das dortige Stadtparlament hat 15 Sitze zu vergeben, und gewählt wurden: Gunārs, Jānis, Uldis, Pāvels, Raivis, Artis, Uldis, Salvis, Uldis, Edvīns, Helvijs, Vilmārs, Jānis, Vilnis und noch ein Jānis - also ausnahmslos alles Männer! (lsm) Dieses Ergebnis überraschte offenbar, denn irgendwelche Kampagnen der Art "Frauen können das nicht" oder "überlasst es besser uns" hatte es nicht gegeben. Die meisten Abgeordneten stellt nun die "Liepājas partija" mit 9 Abgeordneten, gewählt auf einer Liste mit insgesamt 18 Kandidat/innen. Vier Frauen waren auf dieser Liste, sie landeten auf Platz 14, 15, 16 und 18.
Das spornte nun die Presse natürlich dazu an, nüchtern weiter aufzuzählen: Stadt Ventspils: eine Frau von 13. Mārupe: 1 Frau von 19. Aizkraukle: 1 Frau von 15. (lsm) Sehr viele weitere Stadträte wurden aufgezählt, wo nur zwei oder drei Frauen vertreten sind. Es gibt drei auffällige Ausnahmen: der Bezirk Valka, an der Grenze zu Estland gelegen, mit 8 Frauen und 7 Männern, Kuldiga in Kurland, mit demselben Zahlenverhältnis, und Daugavpils (die sich Hauptstadt von Latgale nennt), mit ebenfalls 8 zu 7. Bei Daugavpils fällt außerdem auf: gleich 14 der 15 Sitze wurden von einer einzigen Partei gewonnen, die sich, ähnlich Fangesängen im Sport, "Sarauj Latgale!" (abgeleitet von "saraut" = zerreißen, sich ins Zeug legen) nennt, erst 2024 gegründet wurde, und sich vor allem an der Führungsfigur von Andrejs Elksniņš orientiert, dem amtierenden Bürgermeister von Daugavpils.
Weniger Harmonie
Die Figur von Elksniņš könnte auch symbolisch für einen anderen Trend stehen. Früher war die Partei "Saskaņa" einmal sehr prägend für die lettische Parteienlandschaft. Bei vielen Wahlen hieß es immer, genau diese Partei stünde für die "Interessen der russischsprachigen Minderheit". Noch 2018 kommentierte die deutschsprachige Presse lettische Wahlergebnisse so: "Trotz Politikverdrossenheit reicht es nicht für prorussischen Premier", und im Text war von einer 'russlandfreundlichen Partei 'Harmonie' " die Rede (so wurde das lettische Wort "Saskaņa" übersetzt / Tageblatt). Die "Süddeutsche" titelte damals: "Harmonie soll nicht im Spiel sein." - Dann kam der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine. Bei den Parlamentswahlen 2022 stürzte die "Saskaņa" auf 4,81% ab. Zwar wurden bei den Europawahlen 2024 noch 7,13% erreicht, das lag aber wohl am langjähigen Rigaer Bürgermeister und Spitzenkandidaten Nils Ušakovs, der nun als einer von neun lettischen Abgeordneten im Europaparlament sitzt. Es folgte nun aktuell wieder eine Niederlage in Riga: mit 3,45% erneut unter der 5%-Hürde. Manche Analysten schrieben diesen Absturz der Tatsache zu - abgesehen von vielen Personalquerelen nach dem Abgang von Ušakovs - dass sich führende Saskaņa-Mitglieder klar geäußert hatten und Russlands Vorgehen in der Ukraine klar verurteilt hatten. "Die Saskaņa wird europäischer, oder gar nicht mehr sein", schrieb Ušakovs im Dezember 2022 (lsm). Die früher so klare Fraktion der "Russischsprachigen" hat sich jetzt also auf mehrere andere Parteien aufgeplittert.Auch Andrejs Elksniņš war lange Jahre Mitglied der "Saskaņa". Sein Argument beim Austritt: eine führende Elite im Staat ignoriere die regionalen Interessen in Latgale (delfi). Sein Erdrutschsieg ist also irgendwie auch eine Aussage, besonders in einer Stadt mit einem starken Übergewicht russischsprechender Einwohner/innen: alles, nur nicht "Harmonie". Von Elksniņš sind keinerlei Aussagen zugunsten der Ukraine bekannt. Die pro-russische Seite reklamiert für sich, dass in Daugavpils 95% der Einwohner/innen fließend Russisch sprechen. Offiziellen lettischen Statistiken zufolge macht der Anteil der Russen in Daugavpils nur 46% aus (dazu 21% Lettinnen und Letten). Warum? Es werden auch noch 13% Polnischsprechende gezählt.
Riga zuerst
Nicht sehr erfreulich entwickelte sich die Wahlbeteiligung in der lettischen Hauptstadt: nur 52,91% der wahlberechtigten Einwohnerinnen und Einwohner beteiligten sich. Das ist in etwa dasselbe Niveau wie bei den Kommunalwahlen des Jahres 2001 (52,87%), aber weniger als bei allen Wahlen seitdem (2001 = 60,85%, 2009 = 58,93%, 2013 = 55,55%, 2017 = 58,72%). Nur im Jahr 2020, als in Riga vorgezogene Wahlen stattfanden, waren nur 40,58% dabei. Den Wahlkampf hatte vor allem "Lettland zuerst" ("Latvija pirmajā vietā") mit provozierenden Aussagen dominiert, ebenfalls mit einer in vielen politischen Farben schillernden männlichen "Führerfigur": Ainārs Šlesers. Während dieser es offen ließ, ob er mit den beiden zumindest teilweise Putin-freundlichen und eher antieuropäischen Parteien "Stabilitātei" ("für Stabilität") und "Suverēna vara, apvienība Jaunlatvieši" ("Souveräne Macht, Vereinigung Jungletten") zusammenarbeiten wolle, haben sich inzwischen die vier Parteien im Rigaer Stadtradt zusammengetan, die sich für "an lettischen Interessen orientiert" halten.
Inzwischen verhandelt Viesturs Kleinbergs, Bürgermeisterkandidat der "Progressiven" ("Progresīvie", 11 Sitze im Stadtrat), mit drei anderen Parteien über eine Koalitionsbildung: mit "Jauna Vienotība", die Partei von Ministerpräsidentin Evika Siliņa, mit 9 der insgesamt 60 Sitze im Stadtrat, der "Vereinigten Liste" ("Apvienotais saraksts", bestehend aus Grüner Partei, Regionalpartei und Liepaja Partei) mit 4 Sitzen, und die "Nationale Vereinigung" ("Nacionālā apvienība 'Visu Latvijai!'/ 'Tēvzemei un Brīvībai/LNNK'") mit 10 Sitzen. Aber unter diesen Parteien gibt es leicht sichtbare ideologische Gegensätze, nicht selten werden zum Beispiel die eher links orientieren "Progressiven" von den "Nationalen" als "Neo-Kommunisten" bezeichnet. Und schon als Ergebnis der Kommunalwahlen 2020 wurde mit Martiņš Staķis ein Vertreter der Progressiven (damals in gemeinsamer Liste mit "Attīstībai/Par!" und einem Wahlergebnis von 26,14% und 18 Sitzen) zum Bürgermeister Rigas gewählt; er trat im Juli 2023 nach internen Streitigkeiten der regierenden Koalition zurück. Da lautet das aktuelle Motto für das potentielle Viererbündnis: Lieber nicht zurück schauen.
Rücktrittswelle
In Lettland stehen nun zunächst einmal die Mitsommerfeiern an - vorher wird es ganz gewiss noch keinen neuen Bürgermeister in Riga geben. Und gleich mehrfache Nachwirkungen hatten noch die peinlichen elektronischen Pannen am Wahlabend: es gab mehrere Rücktritte. Schon am 9. Juni wurde Jorens Liopa, bisher Chef der staatlichen Agentur für digitale Entwicklung (Valsts digitālās attīstības aģentūras VDAA) entlassen (lsm). Dann zog zwei Tage später die zuständige Ministerin Inga Bērziņa die Konsequenzen und trat ebenfalls zurück. (lsm) Und auch Landeswahlleiterin Kristīne Saulīte entschloss sich zum Rücktritt. (lsm) Interessante Wahlen also dennoch - wo viele danach strebten gewählt zu werden, und diejenigen, die es organisieren sollten, am Ende ohne Vertrauensbeweis dastehen.