23. Februar 2012

Cool bleiben! So ist Lettland.

"Ich bin in diesem Film zusammen mit meiner Frau gegangen. Am Ende war ich froh, nicht auch meine Kinder mitgenommen zu haben, denn da wurde so oft geflucht, Alkohol getrunken und Sonnenblumenkerne gespuckt, wie ich es noch in keinem lettischen Film mehr gesehen habe!" Derart entrüstet äußerte sich Raivis Dzintars, seines Zeichens Landes-Nationalistenführer und Vorsitzender der Parlamentskommission für Bildung, Kultur und Wissenschaft, über "Kolka Cool", einen neuen Film unter der Regie von Juris Poškus (jetzt in den Kinos in Lettland!). Es sei auffällig, so Dzintars, dass staatliche Förderung in Lettland immer solchen Filmprojekten gegeben würde, die nur ein sehr "verkürztes" Bild des Landes darstellen, meint er. Immerhin entstammt Kulturministerin Jaunzeme-Gremde derselben Partei. Muss da bald wieder politische Zensur im lettischen Kulturleben befürchtet werden?  - Dem gegenüber hatte Kinokritikerin Dita Rietuma "Kolka Cool" als "wichtigsten lettischen Film des Jahres 2011" bezeichnet. Die Produktion war unterstützt worden vom nationalen Kinozentrum Riga, vom staatlichen "Kulturkapital"-Fond, vom Stadtrat Riga und vom EU-Förderprogramm MEDIA.

Was ist das also für ein "skandalöser" Film? Geflucht, gesoffen und geprügelt wird im realen Leben genug, da fehlt es nicht an Fantasie wie es auch in einem Film zugehen könnte, der in Lettland spielt. Im Kino war ich positiv überrascht.

Erstes Kennzeichen: ein Film in schwarzweiß. Eine Ästetik, die nur im ersten Moment irritiert, denn hier wird dieses Stilmittel nicht als Rückgriff auf Szenen genutzt, die in der fernen Vergangenheit liegen. Vielleicht im Traum? Schon eher. Junge Leute mit sehr alltäglichen Sorgen. Leben weitab von den städtischen Zentren, ein Dorfladen, Gärten, ein paar schnurgerade Straßen mit grauen Häusern. Der Kameraführung gebührt die nächste lobende Erwähnung: Gestaltung, Schnitt sind ein Genuß.
Zweites Kennzeichen: die Dialoge. Hier unterhalten sich noch Menschen! Entgegen dem realen Leben (!) spielt sich hier nichts vor dem Fernseher ab. Wohl beim privaten Autorennen, auch mal beim Dorffest mit einer Bierflasche in der Hand. Freund und Freundin, Bruder und Bruder, Kumpel und Kumpel: es stehen Fragen im Raum. Wer bin ich? Wer bist Du? Was will ich, was ist Dir am wichtigsten? Könntest Du nicht mehr erreichen? Kann ich Dir vertrauen? Gibt es wirkliche Liebe? Was empfindest Du für mich? In diesem Film ist jede/e für sich selbst verantwortlich. Es gibt keine Strukturen die auffangen und beruhigen: keine heilen Familien die zu mehreren Generationen in einem Haushalt leben, keine Firma mit Chef und Entwicklungschancen, keine Kirchen mit tröstenden Pfarrern, keine Kulturgemeinschaftshäuser mit kreativen Initiativen und lustigen Volkstanzgruppen. "Nun musst Du selbst klarkommen in deinem Leben!" scheint der Film zu sagen. Oder: wie eine weitere Folge der lettischen Reihe "ist es leicht, jung zu sein?"

Drittes Kennzeichen: das Theaterhafte. Hier wird beispielhaft agiert, bei "Kolka Cool" werden keine realen Geschehnisse dokumentiert. Mögliche Katastrophen stehen durchaus im Raum: eine wilde Autofahrt könnte mit einem Unfall enden, es könnte nicht nur bei einer Flasche Bier bleiben, der Sprung vom Sprungturm könnte böse enden, die Freundin könnte auch mit einem anderen schlafen, es könnte eine Prügelei geben. Der Film aber lebt von diesen angedeuteten Möglichkeiten. Das Leben besteht aus vermiedenen Katastrophen und genutzten Möglichkeiten - doch bequeme Entscheidungen sind das nicht. Als es nach heftigem Wortwechsel beinahe zur Prügelei kommt, streicheln sich die Kontrahenden statt dessen wie symbolisch im Gesicht - wie in einem Spiel eben. Den Plot (und den Knall) hebt sich der Film für den Schluß auf.

Spielt "Kolka Cool" eigentlich in Kolka? Wirklich wichtig ist das nicht. Es werden keine Sehenswürdigkeiten der Region abgefilmt oder eingebaut, auch die Meeresküste, Flüsse oder Seen spielen im Film kaum eine Rolle. Die umgebende Natur scheint unendlich - aber auch einförmig, umfassend, unvermeidbar, undurchdringlich. In all seiner prallen Realität trotzdem ein fast schon virtueller, innerer Raum, von dem aus selten wirklich etwas nach außen dringt - auch ohne Computer übrigens, zeitlos. Wie im Film eben. Wer diesen Film gesehen hat, wird vielleicht irgendwann später mal sagen können: "das ist ja wie in Kolka Cool!"

"Im Film wird der Versuch dargestellt, ein wenig wegzukommen vom langweiligen Herumhängen, und auch über sich selbst lachen zu können" - so ähnlich drückte es Regisseur Juris Poškus in einem Interview mit der DIENA aus (ich empfehle den zukünftigen Kinobesuchern die Szene mit dem plötzlich auftauchenden Polizeiauto!). Es gibt auch Stimmen, die gerade diesen Film für einen Ausdruck "lettischen schwarzen Humors" halten. Poškus selbst stellt auch heraus, er habe etwas vom Unterschied erzählen wollen zwischen Stadtleben und Landleben in Lettland. Während die einen nächtelang arbeiten müssen, um sich das teure Leben in der Stadt leisten zu können, bietet das Landleben ganz andere Szenen.
Nach den Reaktionen von Politikern auf den Film gefragt sagt Poškus einfach, es freue ihn wenn wenigstens einige der Politiker bemerken, dass es überhaupt Film in Lettland gibt. Den Politikwissenschaftler Ivars Ījabs verführten die politischen Reaktionen zu persönlichen Spekulationen, welche Partei denn wohl die im Film dargestellten Figuren wählen würden (siehe "Rigas Laiks"). Aber der Filmemacher meint auch, es bedürfe keiner Filme mehr, die das Leben künstlich darstellen und idealisieren, so wie es in der Sowjetzeit der Fall war. "Wir brauchen Filme die das Leben so zeigen wie es ist."

Filmtrailer   -  Kolka Cool: Making of

so sehen andere Filme über Kolka und die Region aus: Werbefilm über Kolka

zur Uraufführung von "Kolka Cool" in den lettischen Nachrichten (Panorama)

Diskussion mit den Schauspielern

Weitere lettische Filme hier im Blog:
Dancis pa trimJuris Podnieks - Rigas sargi - Midsummer Madness

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