Auffälliger Unterschied zu damals: diesmal bildeten sich auch vor den lettischen Vertretungen einiger anderer EU-Staaten lange Schlangen von Abstimmungswilligen (72% der offiziell als im Ausland lebenden Letten haben mit abgestimmt - etwa 40.000 Personen). Die höchste prozentuale Beteiligung lag mit 77,1% in Riga.Die höchste Wahlbeteiligung nach 1991 hatten die ersten wieder freien demokratischen Wahlen 1993, als 89,9% der Stimmberechtigten zu den Wahlurnen gingen.
Lettisch-Kundige sollten in den letzten Tagen und Wochen wohl vor allem ein Wort gelernt haben: "pret" (gegen). Für Lettisch, gegen Änderungen als alleinige Amtsprache. Den vorliegenden Ergebnissen zufolge haben sich 25% für Russisch als zweite Amtssprache ausgesprochen - rund 75% aber dagegen.
Plakatreklame auf den Straßen hatte es zwar nicht gegeben (eine Gruppe Studenten kratzte kurz vor der Wahl noch ein überdimensionales "Pret" aufs Eis der zugefrorenen Daugava). Verschiedene Parteien schalteten Radio- und Fernsehspots, und das staatliche Sprachenzentrum (Latviešu valodas aģentūra) produzierte Werbeclips fürs "pret"-Sagen mit ruhigem Gewissen (Clip1, Clip2, Clip3). Darin wird unter anderem die These vertreten, Lettisch sei "die einigende Sprache". In Lettland lebende Ausländer werden in diesen Clips mit Aussagen herangezogen: "ich lebe sechs Jahre hier. Ihr fahrt ins Ausland - dabei ist hier in Lettland so viel zu tun. Ich höre hier so wenig Lettisch - warum?"
Auf diese Weise sollte offenbar auch an die zahlreichen Arbeitsemigranten appelliert werden, sich am Referendum zu beteiligen. Wenn auch sonst offenbar keine Rückkehrargumente für die Wirtschaftsmigranten gelten - der Erhalt des "einzigen Landes auf der Welt in dem Lettisch die Staatssprache ist" galt als starkes moralisches Argument auf der lettischen Seite. "Du sollst Deinen Staat lieben wie Deine Mutter" - diese Parole sah ich als Schlagwort in einer lettischen Zeitung - da scheinen auch ganz andere Träume oft ungeliebter Regierungspolitiker mit der vorherrschenden Februarstimmung des Jahres 2012 zu verschmelzen.
Ein Referendum benötigt in Lettland um erfolgreich zu sein die Zustimmung mindestens der Hälfte aller Wahlberechtigten (nicht nur aller Teilnehmenden!) - in diesem Fall also 771.350 Stimmen.Dieses Minimalergebnis wurde weit überschritten - bei ca. 261.000 lettischen Staatsbürgern, die Russisch als gleichberechtigte Sprache zu akzeptieren bereit waren. Im östlichen Landesteil Latgale stimmte sogar eine Mehrheit von 55,57% für die Referendumsinitiative (bei allerdings nur 60% Beteiligung).
29% der Einwohner Lettlands geben laut Umfragen Russisch als ihre Muttersprache an, 26,91% bezeichnen sich als ethnische Russen (Zahlen des Lettland-Instituts).
Sehr viele der nach Abschluß der Volksbefragung von lettischen Fernseh- oder Radiosendern Befragten äußern sich sehr zufrieden über das Ergebnis. Ex-Nationalbolschewik Lindermans hat damit zumindest unter den Letten ein Gemeinschaftsgefühl wiedererweckt, dass seit der Bewegung zur lettischen Unabhängigkeit als im politischen Alltagsstreit untergegangen geglaubt war. Lindermans eigene Hoffnung, mindestens 300.000 Unterstützer zu bekommen, wurden mit dem Abstimmungsergebnis um 30.000 verfehlt. Stolz darauf, dass sich die Letten so deutlich und zahlreich zu einer klaren Stellungnahme zusammengefunden haben, schwingt in vielen Stellungnahmen von in den Medien befragten Menschen mit. Auch die Entlassung des gesamten Parlaments im vergangenen Jahr (ebenfalls durch Volksabstimmung) und anschließende Neuwahl hatte nicht ansatzweise ähnliches verursachen können.
Immer wieder wurde auch vorgebracht, man sei anfangs geschockt gewesen von dem Umstand, 20 Jahre nach der hart wiedererkämpften Unabhängigkeit noch über die scheinbare Selbstverständlichkeit, dass in Lettland Lettisch geredet wird, abstimmen zu müssen. Selbst Präsident Berziņš war offenbar zunächst der Meinung, man könne dieses Referendum - was ja absehbarerweise keine Mehrheit erreichen würde - einfach irgendwie ignorieren. Zum Schluß riefen aber auch alle lettischen Politiker zur Teilnahme auf: von Regierungschef Dombrovskis über Künstler und bekannte Persönlichkeiten bis hin zu Ex-Präsidentin Vīķe-Freiberga. Gleichzeitig betonen viele, im Alltag keinerlei Probleme mit im Lande lebenden Russen zu haben, und äußern ihre Hoffnung, dass durch die Diskussionen rund um dieses Referendum nicht neue Probleme geschaffen werden.
Anfang des Jahres hatte eine Gruppe Parlamentsabgeordnete eine Verfassungsbeschwerde eingereicht mit der Begründung, ein Referendum könne nicht durchgeführt werden, wenn es gegen die bestehende Verfassung gerichtet sei - das Verfassungsgericht stimmte dem aber nicht zu und lehnte es ab, das Referendum mit einer solchen Begründung zu untersagen.
Leicht ironisch schauen die litauischen und estnischen Nachbarn auf ihre baltische Schwester, nicht ohne jeweils zu erklären, Ähnliches sei im eigenen Land völlig unmöglich. Vielfach führen Kommentare anderer ausländischer Medien die erfolgreiche Unterschriftenkampagne die eine Volksabstimmung zwingend notwendig machte auch auf das relativ gute Abschneiden der als Russen-freundlich geltenden Partei "Saskaņa" und deren Nicht-Beteiligung an der neuen lettischen Regierung zurück. Die Führung der "Saskaņa" in Person des Parteichefs Jānis Urbanovičs und des Rigaer Bürgermeisters Nils Ušakovs haben sich beide dahingehend geäussert, sie würden ihren Wählern empfehlen sich für Russisch als zweite Amtssprache in Lettland einzusetzen - eine abgestimmte Position der gesamten Partei gibt es in dieser Frage nicht. Umfragen hatten auch schon im Januar das Unterstützungpotential zur Gleichstellung des Russischen auf 25% der Einwohner geschätzt.
Eine Vereinigung von 20 verschiedenen Gruppen kultureller Minderheiten in Lettland hatte sich öffentlich ebenso wie beispielsweise die jüdische Gemeinde für Lettisch als einzige Staatssprache ausgesprochen. Der Vorsitzende der jüdischen Organisation Šamir, Rabi Menahem Barkahan, wird mit den Worten zitiert: "Die Staatssprache zu kennen und zu gebrauchen, bedeutet zuerst und zuvorderst das Land zu respektieren wo du lebst - die Kenntnis anderer Sprachen kennzeichnet hingegen den kultivierten Menschen." Die lettische Regierung stellt gegenwärtig staatliche Gelder für Bildungseinrichtungen von acht Minderheitengruppen und -sprachen bereit: Russisch, Polnisch, Häbräisch, Ukrainisch, Estnisch, Litauisch, Roma und Belorussisch.
In Lettland (mit seinen laut neuesten Volkszählungsergebnissen noch knapp 2 Millionen Einwohnern) besitzen gegenwärtig von den 603.125 Menschen, die sich als Russen bezeichnen, 363.921 die lettische Staatsbürgerschaft.
Der Stadtrat Riga, in dem gegenwärtig die "Saskaņa" den Bürgermeister stellt, hatte zuletzt versucht Sympathien auf allen Seiten zu gewinnen: 65.000 Lat (ca. 93.000 Euro) hat der Stadtrat Riga in diesem Jahr bereit gestellt um für insgesamt 1130 interessierte Bürger den kostenlosen Besuch von Lettisch-Kursen zu ermöglichen. Die Teilnahmeplätze waren schnell vergeben - nun wird überlegt, wegen der hohen Nachfrage weiteres Geld für diesen Zweck bereit zu stellen.
Ergebnisse der Volksabstimmung:
Beteiligung
Abstimmungsresultate
Der Stadtrat Riga, in dem gegenwärtig die "Saskaņa" den Bürgermeister stellt, hatte zuletzt versucht Sympathien auf allen Seiten zu gewinnen: 65.000 Lat (ca. 93.000 Euro) hat der Stadtrat Riga in diesem Jahr bereit gestellt um für insgesamt 1130 interessierte Bürger den kostenlosen Besuch von Lettisch-Kursen zu ermöglichen. Die Teilnahmeplätze waren schnell vergeben - nun wird überlegt, wegen der hohen Nachfrage weiteres Geld für diesen Zweck bereit zu stellen.
Ergebnisse der Volksabstimmung:
Beteiligung
Abstimmungsresultate
1 Kommentar:
Nicht EIN Referendum benötigt die Zustimmung der Hälfte der Wahlberechtigten. Das gilt nur für eine Verfassungsänderung, und so lustig es klingt, die Verfassung aus der Zwischenkriegszeit ist ziemlich uneindeutig. Wird die Verfassung vom Parlament geändert - und nur das wäre die Folge eines erfolgreichen Referendums gewesen, verlangte ein Referendum. Ich wundere mich nicht, wenn der ein oder andere Leser ab hier nicht mehr folgen kann.
Andere Referenden verlangen nicht eine konkrete Zustimmungsmehrheit, sondern eine Mindestbeteiligung. Bei normalen Referenden die Hälfte der Wahlbeteiligung der letzten Parlamentswahl. Das ist aber noch lange nicht alles, aber das führe ich hier besser nicht aus, sonst wird es ein Koreferat.
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