30. September 2010

Lettland vor den Wahlen

Lettland wählt im Oktober turnusgemäß ein neues Parlament. In den vergangenen 20 Jahren war die Unzufriedenheit der Bevölkerung mit ihrer politischen Elite immer schon so groß, daß sich viele Wähler bis zuletzt nicht entscheiden konnten. Im Jahre zwei der Finanz- und Wirtschaftskrise ist die schlechte Reputation noch schlechter geworden. Und davon gibt es nur eine Ausnahme: den derzeitigen Regierungschef Valdis Dombrobvskis. Der erst 38jährige Ökonom saß vor seinem Amtsantritt im Europaparlament.

Als Entscheidungshilfe hat sich der lettische Ableger von Transperancy Internationa, Delna, etwas Neues ausgedacht. Unter www.kandidatiuzdelnas.lv wurde eine Liste der 52 wichtigsten mehr oder weniger mit Korruption verbunden Ereignisse während der letzen Legislaturperiode erstellt. Diese soll nach der Sommerpause um weiter zurück liegende ergänzt werden. Die zuständige Mitarbeiterin Līga Stafecka meint, daß die Politik im Interesse konkreter ökonomischer Gruppierungen in den vergangenen vier Jahren noch offensichtlicher betrieben wurde als zuvor bis hin zu Gesetzesänderung a la Berlusconi zur Verschleppung von Untersuchungsverfahren gegen konkrete einflußreiche Politiker.
Mit Italien vergleichbar ist auch der häufige Regierungswechsel der vergangenen 20 Jahre seit der Unabhängigkeit. Ursächlich dafür sind zwei Eigenschaften des lettischen Parteiensystems, wenn man angesichts häufiger Spaltungen und Fusionen, Namenswechsel und Fraktionsübertritten in Lettland überhaupt von einem solchen sprechen kann.

Das Resultat ist, daß Lettland im Sinne der Good Governance sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten hat schlecht regieren lassen. Neben falschen Erwartungen und einer entsprechenden Naivität, wie diese auch in anderen Staaten des postsozialistischen Raumes anzutreffen sind, hat der ambitioniertere Teil der Menschen in Lettland sich um sein Fortkommen mehr gekümmert als um das öffentliche Leben. Das öffnete den grauen Eminenzen in der Politik Tür und Tor. Daraus entstand schließlich eine Situation wechselseitigen Ausnutzen aller Möglichkeiten. Kein Vertrauen in der Bevölkerung förderte deren mangelnde Unterstützung des Gemeinwesens, welches sich in der Politik wiederspiegelt.

Doch in der Krise scheint sich einiges zu verändern. Die Mehrheit der Bevölkerung schickt sich auch trotz rund 200.000 Gastarbeitern auf den britischen Inseln nicht an, das sinkende Schiff zu verlassen, auch wenn mancherorts riesige Gehaltskürzungen zu verschmerzen waren und es einigen Privathaushalten tatsächlich mehr als nur schlecht geht.

Die einzige ansatzweise sozialdemokratisch angehauchte Partei, das Harmoniezentrum, welches zwei Jahrzehnte als „russische“ Partei für lettische Wähler Tabu war, hat sich durch den Ausschluß von allen Regierungen bislang die Hände nicht schmutzig machen können. Mit dem erst 34jährigen Nil Uschakow (Нил Ушаков) gewannt die Partei im Juni 2009 die Kommunalwahlen in Riga. Im Oktober ist der Partei ein starkes Ergebnis auch auf nationaler Ebene zuzutrauen. Dombrovskis Neue Zeit hat sich zusammen getan mit einer ihrer früheren Abspaltungen und weiteren bekannten Politikern aus anderen Parteien darunter Ex-Außenminister Artis Pabriks. Diese politische Kraft darf unter den „lettischen“ Parteien als einzige gelten, hinter welcher keine grauen Eminenzen stehen. Auch ihr Ergebnis wird kaum unter 20% liegen.

AŠ2, wie ganz Lettland witzelt, ist die Zusammenarbeit von Andris Šķēle und Ainārs Šlesers, die zwei der wichtigen grauen Eminenzen sind und allein wohl an der 5%-Hürde scheitern würden. Gemeinsam könnten sie unter dem Namen „Par labu Latviju!“ (Für ein gutes Lettland), wo sich überraschenderweise auch Ex-Präsident Guntis Ulmanis engagiert, sicher zehn Prozent erreichen.

Das einzige nach wie vor angesehene Urgestein der lettischen Politik ist der Bürgermeister der Hafenstadt Ventspils, Aivars Lembergs, der seinerseits seit 20 Jahren so klug war, seine Reputation eben nicht durch den Wechsel in die nationale Politik zu ramponieren. „Seiner“ Partei, der Union aus Grünen und Bauern dürften ebenfalls rund 20% ihre Stimme geben. Daneben gibt es noch die Nationalisten und die Sowjetunion-Veteranen. Beide Parteien stehen bei etwa 5%. Die Nationalisten haben sich mit einer noch radikaleren Partei zusammengetan, was noch vor vier Jahren abgelehnt wurde. Das aber dürfte sie im Oktober wohl ins Parlament hieven. Freilich sind die Zahlen teilweise Kaffeesatzleserei. Andererseits ist ein deutlich von diesen Zahlen abweichendes Ergebnis schwer vorstellbar und wäre eine Überraschung.

In Lettland feiern die Medien derweil, daß die „Lokomotiven“ nun abgeschafft worden seien. Bislang war es möglich gewesen, Kandidaten in allen fünf Wahlkreisen gleichzeitig aufzustellen, was die Parteien mit ihren Galionsfiguren auch nutzten. Andererseits ist die Wirkung insofern fraglich, als auch in anderen Ländern die Wähler für eine Partei stimmen, obwohl der von ihnen bevorzugter Kandidat im konkreten Wahlkreis nicht kandidiert.

Parteineugründungen gibt es auch dieses Mal wieder, wobei darunter keine aussichtsreiche ist. Tautas Kontrole (Volkskontrolle) und Ražots Latvijā (Made in Latvia) sind neue Name schon früher erfolgloser politischer Kräfte. Letztere geht auf eine Bewegung zurück, die mit Hundepatrouillen das Freiheitsdenkmal vor urinierenden britischen Touristen schützte. Die neue Partei fiel außerdem mit einer Stellenanzeige auf, in der das Amt des Regierungschefs ausgeschrieben wurde mit der Versprechung, eine Million Lat pro Jahr zusätzlich zum Monatseinkommen zu erhalten. Als Gründung von Künstlern ist Latvijas Pēdēja Partija (Lettlands letzte Partei) ausschließlich als Spaßnummer zu begreifen. Der Wahlspruch lautet: "Nezinu. Neesmu izlēmis" (Ich weiß nicht, ich habe noch nicht entschieden).

Während einige Beobachter Angst haben vor einer Koalition wie im Rigaer Stadtrat, Harmonizentrum + AŠ2, was mumaßlich russischen Oligarchen Tür und Tor öffnen könnte, ist die Bereitschaft der Neuen Zeit des regierenden Ministerpräsidenten zur Zusammenarbeit mit dem Harmoniezntrum nicht zu überhören. In diesem Fall könnte es erstens gelingen, erstmalig eine Mehrheitsregierung aus nur zwei Partnern zu bilden, was die Fliehkräfte innerhalb einer Koalition bändigen könnte. Andererseits wären dann erstmals in 20 Jahren alle grauen Eminenzen von den direkten Schalthebeln der Macht entfernt. Das könnte wiederum die Grundlage sein, daß die Politik einige seit zwei Jahrzehnten liegen gebliebene Hausaufgaben wie einen Kassensturz in Angriff zu nehmen, den der Nachbar Estland gleich nach der Unabhängigkeit durchgeführt hat. So gibt es etwa in Lettland keine konsequente Registrierung des Eigentums für den Datenbestand des Finanzamtes.

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