3. Juni 2009

Kampf um Riga: weichgespülte Kommunisten oder Hardcore-Christen?

Lettland hat gerade eine umfangreiche Kommunalreform hinter sich - bei den Gemeinderatswahlen am nächsten Sonntag werden die politische Gewichte in vielen Landesteilen erstmals neu ermittelt (jetzt 118 Wahlbezirke - Liste). Und auch in Europa möchte Lettland mit eigener Stimme vernehmbar Einfluß nehmen - es gilt als wahrscheinlich, dass es diesmal Abgeordnete aus sehr vielen verschiedenen Parteien geben wird, die Lettland nach Brüssel bzw. Strassbourg entsendet. Aber über allem steht der "Kampf um Riga" - die wichtigste Frage der lettischen Politik scheint momentan zu sein, wer die Macht in Riga übernimmt und auf dem Sessel des Bürgermeisters Platz nehmen kann.

Mir persönlich geht es so: ich kann mich nicht erinnern, in den letzten Jahrzehnten jemals Wahlplakate gesehen zu haben, auf denen mit geballter Faust gedroht wird. So zelebriert es im Moment die nationalkonservative "Partei für Vaterland und Freiheit" des amtierenden Bürgermeisters Janis Birks, noch verstärkt durch schwarz-weißes Design (herausragendes Beispiel für den Spruch von der "Schwarz-Weiß-Malerei").


Schicksalswahl oder Gleichgültigkeit - angesichts der Wirtschaftskrise?
Wenn gleich daneben ein übergroßes Bild vom Möchtegern-Bürger- meister und Chef der "Pirma Partija" ("Erste Partei", auch "Pastoren-partei" genannt) Ainars Šlesers auftaucht, dann erscheint es fast als ob der "Kampf um Riga" nur zwischen diesen beiden Herren stattfinden würde. Trohnt doch Šlesers mit meterhohem Bildnis gleich gegenüber dem Rigaer Hauptbahnhof (einem der beliebtesten Werbeplätze) und verkündet: Šlesers für Riga - wer sonst? Oder auch: "Riga wird eine reiche Städte mit reichen Rigensern sein!" Eine Unverschämtheit, in Zeiten der Finanzkrise?

Nun ja, wahrscheinlich sind die Wahlberechtigten mal wieder selbst schuld, wenn sie nicht schnell reich werden - sie hätten eben jemand anderen wählen sollen. Bisher stellt die Pastorenpartei immerhin schon einen stellvertretenden Bürgermeister (mit Namen Ludviks). Auf dessen Wahlkampf- veranstaltungen treten bevorzugt "Familienschützer" auf, die selbst Kindern kleine Plastik-Embryos unter die Nase halten, um moralischen Druck gegen Abtreibungen aufzubauen. Freimütig bot man auch mir an, bei einem Fragespiel mitzumachen. Als Gewinn lockt: ein ebensolcher Plastik-Winzling. Welcher Wähler hängt sich sowas übers Bett, oder legt es seiner Freundin auf den Nachttisch???

Taugen Untergangsphantasien als Zukunftsvisionen?
In Lettland ist wieder einmal vieles möglich. Konnte doch der verbrämt moralisch angestrichene Wahlkampf vor zwei Wochen auch wunderbar zelebriert werden, angesichts hinter den hohen Zäunen des Vermanes-Parks und starken Polizeiketten demonstrierender Schwulen und Lesben ("Baltic Pride"). In seltsamer Vereinigung von Hasspredigern der "Jauna Paaudze" ("Neue Generation" - eine sich radikal gebende Sekte, die in Lettland zunehmenden Zulauf hat; siehe auch Webseite) und russischen Untergangssweisagern ließ sich hier wunderbar Front machen gegen das "moralische Verderben" (das natürlich vorwiegend aus dem Westen kommt). Worüber sollte man mehr froh sein: über die reibungslos funktionierenden Absperrungen der lettischen Polizei, die auf beiden Seiten die freie Meinungsäußerung sicherten, oder über die vielen Lettinnen und Letten, denen die Ereignisse wenigstens nach eigenem Bekunden "egal" sind? Wer sich hinter Plakate stellt mit Texten wie "Gegen Päderasten helfen nur Gaskammern", der kann sich allerdings über internationales Stirnrunzeln nicht beschweren.

All dieses braucht wohl ein Bürgermeisterkandidat wie Šlesers, um ins Amt zu kommen. Und das, obwohl eine Vielzahl von Meinungsäußerungen befragter Bürgerinnen und Bürger sich zu allererst negativ über den Šleser-Wahlkampf äußerten. Aber ja, die Gesetze der Werbung funktionieren leider genau so: Hauptsache Aufsehen erregen, auch Negativ-Werbung ist Eigenwerbung. Die Wählerschaft wird Šlesers vermutlich am Sonntag satt über die 5%-Hürde tragen, und dann wird der große "Markt der Interessenkungelei" losgehen.

Von der Gunst, "links auf Platz 1" stehen zu können
Die zweite Gruppierung, die ab nächste Woche hoffen kann, die bestimmende Kraft in Lettland zu werden, ist das "Saskanas Centrs" (SC), eine Vereinigung mehrerer linker und links-zentristisch orientierter Parteien, die nicht zum ersten Mal vor einer Wahl in den Umfragen bei stabilen Zahlen zwischen 12% und 20% liegt ("Saskana" könnte mit "Harmonie", "Einklang" oder mit "Konsens" übersetzt werden). Liegt hier der Grund der Drohungen von Bürgermeister Birks mit der blanken Faust? Aus Sicht der Nationalkonservativen sind hier die "verkappten Kommunisten" zu finden, auch die "dem lettischen Staat gegenüber Illoyalen" (weil sie z.B. allen Bürgern das "immer-und-überall nur Lettisch-Sprechen" nicht weiter amtlich vorschreiben wollen).

Hatte es seit den ersten freien Wahlen 1993 schon viele Versuche gegeben, um mal wieder eine eher linksgerichtete, auch eher die russischen Mitbürger/innen einbeziehende Politik im lettischen Parlament durchzusetzen - von Sozialisten über mehrere sozialdemokratische Abspaltungen und Splittergruppen bis zu Sowjetromantikern - dieses ist die bisher erfolgsversprechendste. Viele Jugendliche, die dem seit fast 20 Jahren stoisch wiederholten Warnruf "Rettet uns vor den Linken" nichts mehr abgewinnen können, engagieren sich hier. Mit der Gleichsetzung "links = moskauhörig" müssen die nationalkonservativen eher fürchten, unter 5% zu rutschen.


Geschickt versteht es dagegen die SC, sich auch von der Ein-Frau-Partei PVTCL ("Par cilvēka tiesībām vienotā Latvijā" - für Menschenrechte in einem einigen Lettland) der altgedienten Sowjetfunktinärin Tatjana Zdanoka abzugrenzen. Eine Amtszeit lang versuchte Zdanoka im Europaparlament bei manchem ahnungslosen Politikerkollegen Illusionen hervorzurufen, eine Unterstützung für sie selbst sei gleichbedeutend einer "Brücke des modernen Europa nach Lettland". Da könnte man - vergleichsweise - auch Egon Krenz als neuen Bundeskanzler vorschlagen. Mit Nils Ušakovs, Jānis Urbanovičs undSergejs Dolgopolovs verfügt die SC über drei anerkannte Politiker als Führungsfiguren.

Einzig verbliebenes Problem bleibt die politische Zukunft des ehemaligen Bürgermeisters von Riga und Anti-Gorbatschow-Putschunterstützers Alfreds Rubiks. Er führt die Liste der SC zu den Europawahlen an - und ist damit lebender Beweis, dass die Europawahlen in Lettland am kommenden Wochenende DOCH eine Rolle spielen. Rubiks, der wegen seiner gegen den lettischen Staat gerichteten Aktivitäten mit einer Knaststrafe belegt wurde und auch als ehemaliger Sowjetfunktionär von der aktiven politischen Teilhabe in Lettland selbst ausgeschlossen ist - ähnlich Zdanoka darf er zu den Europawahlen kandidieren (dafür gelten europaweit einheitliche Wahlrechtsbestimmungen). Interessant dazu die Überlegungen in der lettischen Presse, die vermuten, die SC schicke Rubiks nur deshalb nach Europa, um ihn innenpolitisch aus dem Feld räumen zu können (gleich = nicht mit ihm identifiziert werden zu können). Hast du einen (altstalinistischen) Opa, schick ihn nach ......

Bliebe nur noch das gemeinsame Bestreben von lettischen Sozialdemokraten (LSDSP) und Saskanas Centrs (LC), im europäischen Parlament zukünftig der (großen) Fraktion der Sozialdemokraten und Sozialisten angehören zu dürfen. Aber leider haben - einem Bericht der Neatkariga Rita Avize zufolge - dort auch schon die Diskussionen begonnen. Offen wird davon gesprochen, dass Sozialdemokraten aus Litauen und Estland die Aufnahme von Ex-Stalinisten wie Rubiks in eine gemeinsame Fraktion wohl zu verhindern wissen werden. Aber das ist dann schon eine Frage der Wahl-Folgen - auf der Europaliste der SC steht "der alte Rubiks" auf Platz 1.

Szenario für Riga - Folgen für Lettland
Allgemein wird daher vermutet - egal wieviel Wahlbeteiligung am Sonntag bei beiden Wahlen herausspringen wird - dass vor allem die Machtverhältnisse in der Hauptstadt Riga auch die lettische Politik verändern werden. Dabei ist allerdings der meist gehörte Satz: "Diesmal ist wenig vorhersehbar, trotz der üblichen Statistiken und Prognosen. Es ist Krise - und da weiß keiner, wie die Leute sich in der Wahlkabine entscheiden."
Noch hoffen diejenigen Parteien, die das Geld für Werbespots im Fernsehen und für Plakatkampagnen haben, auf die übliche Trendwende nach dem Motto "wer die größten Sprüche klopft, erzielt auch den größten Effekt." Sicher aber ist das keineswegs. Sicher ist nur, dass die Stadtverwaltung Rigas die Arbeit offenbar schon seit Monaten eingestellt hat. Es werden keine wichtigen und wegweisenden Entscheidungen mehr auf den Weg gebracht - vom herrschenden Geldmangel zu deren Realisierung mal ganz abgesehen (Ausnahme: Bürgermeister Birks hat noch mal schnell Fahrpreisermäßigungen für Rentner verkündet).
Alles wartet darauf, wer sich als neuer Bürgermeister in den gewöhnlich gar nicht so geruhsamen Amtsessel setzen darf. Werden es die von religiösen Heilsversprechen Getriebenen sein? Oder vielleicht doch die in demokratischer Wolle gewaschenen "harmonischen Linken", von denen allerdings niemand weiß, was sie noch umsetzen können, um für "Mitte-Rechts"-Parteien koalitionsfähig zu werden?

Liste aller zur Europawahl in Lettland antretenden Parteien

Liste aller in Riga zur Kommunalwahl antretenden Parteien

2 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Oben aud dem Plakat steht- die Letten sterben aus, Päderasten vermehren sich

Albert Caspari hat gesagt…

ja, richtig, Mr. Anonym. Das ist die ganz exakte Übersetzung. Ich hoffe, wir sind uns dennoch beide einig, dass solche Sprüche nichts mit dem Respekt vor der allgemeinen Menschenwürde und gleichen Rechten für alle Menschen zu tun haben.