Lettische Bulldozer-Politik
Vielleicht wird Aigars Kalvitis, lettischer Ministerpräident, sich ja daran erinnert haben: sein Vorgänger Indulis Emsis (der seit kurzem übrigens angeklagt wegen undurchsichtiger Geldgeschäfte auch als Parlamentspräsident und Parlamentarier zurückgetreten ist) überstand im Herbst 2004 die Aufstellung des Haushaltsbudgets für das kommende Jahr nicht. Ob Kalvitis diesmal ähnliches droht, scheint noch ungewiss. Aber was ist schon sicher in der lettischen Politik?
Wer hätte 2004 geahnt, dass der etwas grobschlächtig und simpel erscheinende Kalvitis drei Jahre unangefochten Regierungschef bleiben würde, sogar Neuwahlen überstehend? Aber nun, nur ein Jahr nach den letzten Parlamentswahlen, erscheint die lettische Regierung gleichermaßen ausgebrannt wie starrsinnig. Schon die kurzfristige Installierung eines „regierungsfreundlichen“ Präsidenten (der durch die Regierungsmehrheit im Parlament gewählt wurde) hatte Züge von Selbstherrlichkeit nach dem Motto: wer kann es verhindern, wenn die Regierung sich doch einig ist?
Heute wurde Aleksejs Loskutovs, Chef der staatlichen Antikorruptionsbehörde (lett. Abkürzung KNAB) entlassen. Vorwurf: angeblich Unregelmäßigkeiten in der Buchführung. Dies, obwohl eine von Generalstaatsanwalt Jāņis Maizītis geleitete Untersuchungskommission keinerlei erhebliche Gesetzesverstöße in den (für die Öffentlichkeit geheimen) Unterlagen der Behörde feststellen konnte. Loskutovs Pech: Die Vorwürfe stammten von Regierungchef Kalvitis selbst. So etwas nennt man in Lettland dieser Tage "Bulldozerpolitik" - regiert wird ohne Rücksicht auf Verluste (auch im öffentlichen Ansehen!).
Schneller kaufen, schneller leben
Einige Gründe, warum die Lett/innen ihre Regierung leid zu werden scheinen:
a) zwar gibt es im Land einen ungebremsten Konsumrausch (wer z.B. nur einmal „Trakas dienas“ – verrückte Tage – bei „Stockmann“ miterlebt, der weiß, was das bedeuten kann…). Das Land baut an allen Ecken, die Banken geben günstige Kredite, die EU ihre Aufbaugelder dazu. Das Wirtschaftswachstum wird nun aber überholt von einer (gefühlt ungebremsten) Inflation: im September erreichte sie 11,4%. Die Regierung muss nun für Ärzte, medizinisches Personal und Lehrer eine 10%ige Lohnsteigerung für 2008 einplanen. Aber nicht einmal das wird die Kostensteigerungen auffangen, ganz zu schweigen von den anderen Berufsgruppen, die nicht zurückgesetzt werden wollen. Bei einem mittleren statistischen Lohnniveau von 555 Euro musste, verglichen mit dem Jahr zuvor, das Lohnnivau in verschiedenen staatlichen und privaten Sektoren bereits um 32,4 - 44,5% angehoben werden, nur um die Kostensteigerungen aufzufangen. So schnell wie möglich auf EU-Niveau? Oder gibt es bald einen großen Crash? In den Zeitungen erscheinen bereits Ratgeberkolumnen, die nur noch zu Geldanlagen in Euro raten, weil dem Lat eine Abwertung drohe. Allen, die nicht gerade mit Aktien spekulieren oder mit Immobilien handeln, ist das eine Horrorvision.
b) Die Hauptstadt Riga erscheint in mancher Hinsicht geradezu als Schmelztiegel der unerfüllbaren Illusionen. Allein in Riga wurden seit Jahresbeginn 35.000 Autos neu registriert, und das bedeutet: Luxuslimousinen aller Länder vereinigt euch – im Stau! Auf holprig gepflasterten Straßen (selbst die Altstadt ist immer noch nicht autofrei!), ohne intelligente Ampelschaltungen oder Maßnahmen zum störungsfreien Vorrangbetrieb für Bus & Straßenbahn. Gefühlter Eindruck: als einzige Maßnahme sind die Ampeln auf „schneller blinken“ gestellt. Jeden Tag werden neue „Notmaßnahmen“ öffentlich diskutiert, doch nichts der teilweise teuer bezahlten Ratschläge verschiedener Consultingagenturen wurde bisher umgesetzt. Keine Radwege, keine Maßnahmen zur Abgasreduzierung, keine Sperrungen oder verkehrsberuhigte Zonen. Lettland bleibt das Land der meisten Verkehrstoten pro Einwohner in Europa. Oder soll man das glauben, was Bürgermeister Birks gelegentlich von sich gibt? Da sollen mal die ungeraden, mal die geraden Autonummern fahren dürfen, oder gesetzlich das Fahren auf Straßenbahnschienen verboten werden. Oder doch eine Straßenbenutzungsgebühr für ganz Riga? Doch wie soll das umgesetzt werden? Angeblich überlegt jetzt die Regierung, die Arbeitszeiten der staatlichen Institutionen zu verlagern (früher anfangen, später aufhören …). So sieht Hilflosigkeit aus – aber vom Fahrersitz eines luxuriös ausgestatteten auf Kredit gekauften Privatwagens gesehen fühlt es sich vielleicht wie Wohlstand an?
c) Allmählich erklingen die ersten Ratschläge fürs neue Jahr. Dem Volk raten, mehr Münzen in den Sparstrumpf zu tun, und den Arbeitgebern, die Löhne einzufrieren? Solche Töne kamen kürzlich von Präsident Zatlers. Am schmerzhaftesten wirkt aber die Selbstherrlichkeit der Regierung. Wer mal eben kurz den Chef der Anti-Korruptionsbehörde (KNAB) entlassen kann – hat der selbst etwas zu vertuschen?
Zwar sitzt einer der gewieftesten Geldwäscher und Geschäftermacher, Aivars Lembergs, nach wie vor hinter Gittern und wartet auf seinen Prozeß. Wenn es aber ein amtierender Minister wie Ainars Šlesers nicht für nötig hält, saubere Bilanzen der von ihm geführten Firmen der staatlichen Steuerbehörde vorzulegen, sondern die Entlassung der Direktorin eben dieser Aufsichtsbehörde verlangt, wie ist das zu verstehen?
Einsame Entscheidungen
Die Regierung glaubt, sie kann machen was sie will. Der Haushalt für 2008 soll am 31.Oktober beraten und am 22.November verabschiedet werden. Die Gelder zur Unterstützung zivilgesellschaftlicher Aktivitäten in Lettland (= Projekte von Nichtregierungsorganisationen) werden wahrscheinlich ganz gestrichen.
Deutsche mag eine Regierung Kalvitis vielleicht an ein Leben unter der Regierung Kohl erinnern. „Die Hunde bellen, die Karawane zieht weiter…“ war ein oft gehörter Spruch zu diesen Zeiten. In Lettland aber werden selbst die bellenden Hunde lieber in den Keller geschickt.
Oder sind es nervöse Überreaktionen für eine hinter den Kulissen vorbereiteten Umbildung der Regierung?
Infos im Web:
Webseite der lettischen Antikorruptionsbehörde KNAB
Zielsetzung und Funktion der Antokorruptionsbehörde (engl.)
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