Wie romantisch wirken doch die Bilder von den Menschenketten und Protesten gegen sowjetischen Größenwahn aus den 80er Jahren: das überdimensionierte, auf unsicherem Untergrund gebaute und in der Bauweise höchst unsichere Atomkraftwerk Ignalina bei Visaginas in Litauen wurde zum Symbol nicht nur der litauischen Bewegung zur Wiedererlangung der Unabhängigkeit. Endlich wieder selbst bestimmen, und unabhängig von ignoranten und menschenfeindlichen Planungen irgendwelcher Funktionäre Apparatschiks in Moskau sein!
So klangen zumindest die Parolen. Und es gab Erfolge: einige der im Bau befindlichen Blöcke des AKW Ignalina wurden erst gar nicht fertig gestellt, und in den 90er Jahren wurde der in Betrieb genommene Teil durch westeuropäische Sicherheitstechnik so weit wie möglich nachgerüstet, so dass Hoffnung bestand, wenigestens bis zur Abschaltung ohne Umweltkatastrophen davonzukommen. Lettland unterhielt nur einen kleinen Forschungsreaktor bei Salaspils, und auch der wurde in den 90er Jahren mit internationaler Hilfe ausser Betrieb gesetzt.
Dann kamen die EU-Beitrittsverhandlungen. Verstimmung kam bei einigen Litauern auf, dass die EU konkrete Beschlüsse zur Abschaltung des AKW Ignalina zur Vorbedingung für den Beitritt machte. Besonders die Bewohner des östlichen Landesteils Litauens sahen sich unnötig in die Defensive gezwungen, denn in den "modernen Zeiten" der Marktwirtschaft wurde der riesige Energieüberschuß, über den Litauen durch den Betrieb des AKW verfügte, zur willkommenen Einnahmequelle. Mit der Abschaltung bis 2009 sieht eine ganze Region den endgültigen Niedergang voraus, denn die meisten Auslandsinvestitionen gehen in die Hauptstadt Vilnius oder ni das auch bei West-Touristen leichter zugängliche West-Litauen. Litauische Lokalpolitiker machten schon lange Wahlkampf mit dem "Mit- mir-nicht"-Slogan und machten ihren Mitbürgern glauben, das Thema AKW-Schließung komme wie gerufen, um die Eigenständigkeit gegenüber der EU klarzustellen - obwohl gerade die EU bereits Milliarden von Euro allein in die Sicherung des AKW Ignalina investiert hatte.
Auslöser für strahlende Träume: die Ostsee-Pipeline
Endgültig die Wende an der Meinungsfront hat nun der geräuschvolle Abgang des deutschen Ex-Kanzlers Schröder und sein Vorsorgungposten bei der russischen GAZPROM geschaffen. Während seine Partei-Kollegen bisher noch den Atomausstieg durch die schwarz-rote Koalition retten wollen, sorgen die Schlagzeilen um die ohne Beteiligung der baltischen Länder geplante Ostseepipeline für neue Hoffnung bei Atom-Jüngern.
Für ein kleines Land wie Litauen hatte ein Neubau eines AKW bisher immer für zu teuer und nicht lohnend gegolten. Nun steigen die Öl- und Gaspreise, das Verhalten der europäischen Großmächte kommt hinzu, und schon gibt es neue atomare Freunde.
Ķārlis Miķelsons, seines Zeichens Vorstandsvorsitzender bei der lettischen LATVENERGO, sagte bereits am 25.Januar 2006 in einem Interview mit der Zeitung "Latvijas Avize": "Wir arbeiten an der Sicherung der Energieversorgung für unser Land. ... Die Frage ist nur, zu welchem Preis, und ob die Gesellschaft bereit ist, dafür zu bezahlen." Ausserhalb der für Lettland begrenzten Möglichkeiten der Wasserkraft habe man zwei Alternativen, neue Kraftwerke zu bauen: Kohle oder Atomkraft. Eine "politische Entscheidung" müsse her, so Miķelsons, denn den bereit stehenden Investoren reiche der gegenwärtige Marktpreis für Energie nicht aus. Dann sei LATVENERGO auch bereit, zum Aktionär eines "baltischen AKWs" zu werden, dass dann in Litauen zu bauen sei.
Alles hat seinen Preis - Atomlobby Schritt für Schritt
Also die Preise erhöhen, und dafür noch ein AKW vor der Nase stehen haben? Wem könnte diese Möglichkeit verlockend erscheinen?
"EU-Energiekommissar Andris Piebalgs sitzt wieder einmal zwischen zwei Stühlen," so beschrieb es noch am 4.Januar DER STANDARD aus Österreich. Piebalgs habe Physik studiert und sei erklärter AKW-Befürworter, so eine Pressestimme aus einem Land, das mehrheitlich sehr atom-kritisch eingestellt ist und gegenwärtig die EU-Präsidentschaft einnimmt.
"Balten wollen neues Atomkraftwerk" titelte dann aber schon am 5.Februar der TAGESSPIEGEL, und zitierte dabei ebenfalls vornehmlich lettische Quellen - Aussenminister Pabriks. Dieser wiederum bringt dann erstmals auch litauische Unterstützer ins Spiel: Präsident Valdas Adamkus habe sich bereits für das Vorhaben stark gemacht. "Angesichts der Debatte um Europas Energieversorgung, die durch den Gas-Streit zwischen Russland und der Ukraine ausgelöst worden war, erhoffen sich die Balten nun mehr Verständnis für ihr Projekt," heißt es da ebenso schlicht wie durchschlagend.Die gemeinsame Abschlußerklärung eines am 26./27.Januar 2006 in Vilnius durchgeführten gemeinsamen estnisch-lettisch-litauischen Seminars zur Sicherung der Energieversorgung aller drei Länder sagt Ähnliches aus. Dort stellen die Vertreter aller drei Länder fest, dass die Energieversorgung unter den gegenwärtigen Umständen spätestens nach 2015 unsicher sei.
Die Schlußfolgerung der drei Baltenstaaten ist dabei nicht nur, dass die eigenen Länder eines neuen Energieversorgungskonzepts bedürfen. Schließlich hat man mit dem Letten Piebalgs erstens einen EU-Kommissar, und zweitens einen Atomjünger in den eigenen Reihen. Bei den internationalen Begrifflichkeiten ist man sich ebenso sicher, und so wird denn eine "Road map" der nachhaltigen und ausgewogenen Energieversorgung gefordert, die einen guten "Energiemix" enthalten müsse.
Litauen: Atommacht mit Erfahrung?
Nunmehr ist nur noch davon die Rede, dass Litauen ja Erfahrung habe mit dem Betrieb und der Sicherung von atomaren Anlagen. Soviel Lob vom lettischen Nachbarn? Auf eines kann zumindest die litauische Regierung bauen: die Bewohner der Region Ignalina werden wohl kaum auf die Barrikaden gehen, sollte ein AKW-Neubau in Angriff genommen werden. Und welche andere Region kann das schon von sich behaupten?
Die Regierung des Nachbarlandes Lettland zum Beispiel nicht. Kaum, dass die drei Ministerpräsidenten Kalvitis, Ansip und Brazauskas am 27.Februar 2006 höchstselbst verkündeten, den Bau eines neuen AKW im östlichen Litauen nun gemeinsam zu planen (LETA, TVNET, NRA, DIENA, DEUTSCHE WELLE, BBC,. BALTIC TIMES), regte sich im lettischen Daugavpils Protest. "Wir verstehen nicht, warum Bürgermeister und Bezirks-Vorsitzende nicht nach ihrer Meinung gefragt werden. Das ist ein großer Bezirk, in dem 60.000 Menschen leben. Ich gehe davon aus, dass es in der Stadt heftigen Protest geben wird," wird etwa die Bürgermeisterin von Daugavpils, Rita Strode, von der DEUTSCHEN WELLE zitiert. Man habe eine Anfrage an die lettische Regierung in Riga gerichtet, wie solch ein Beschluß zustande gekommen sei.
Proteste kalkulierbar?
Aber werden solche Stimmen überhaupt ernst genommen? Schließlich gilt Daugavpils als Randregion Lettlands, die von der lettischen Regierung wegen des hohen Anteils an russischstämmiger Bevölkerung auch nicht gerade mit einer bevorzugten Behandlung beglückt wird. In Estland waren bisher nur leise Proteste von der PRO PATRIA UNION zu hören (BALTIC TIMES 28.2.06), die sich gegenwärtig in der Oposition befindet, und die auch nur kritisert, dass über die gemeinsame Erklärung der drei Regierungschefs vom 27.2. in Estland nicht vorher diskutiert worden sei.
Auch die lettische Umweltbewegung protestiert. "Lieber heute aktiv als morgen radioaktiv", so kramt man einen alten Spruch hervor. Gegenwärtig nutze die lettische Regierung nur 10% des von internationalen Wirtschaftsexperten diagnostizierten Potentials an Windenergie aus, so eine Presseerklärung des Umweltschutzklubs VAK. Zudem sei die zweitgrößte lettische Stadt Daugavpils eben nur 25km vom zukünftigen Bauplatz entfernt. Aber schon bei dem Bemühen um fachliche Kompetenz werden die Schwächen erkennbar: VAK muss in derselben Erklärung tschechische Fachleute und Expertisen zitieren - aus Mangel an eigenen Experten?
Wer die lettische Umweltbewegung in den letzten Jahren beobachtet hat, wird ohne große Mühe gleich mehrere Schwächen erkennen.
Trotz gegenteiliger Beteuerungen und Berufungen auf ideele und kulturelle Beweggründe ist der gesamte politische Teil der Umweltbewegung von der Unterstützung aus Kreisen der lettischen Ölindustrie abhängig. Im gerade aufkommenden Wahlkampf für die Parlamentswahlen im Herbst 2006 wird der "Ölkönig von Lettland", Aivars Lembergs (Bürgermeister von Ventspils), offen als Spitzenkandidat und Regierungschef gehandelt, unterstützt durch die Partei der Grünen und Bauern, deren Wahlkampf er seit Jahren bereits finanziert. Und Mitglied der Regierung Kalvitis, die jetzt so vollmundig den Atomkurs verkündete, ist auch der Grüne Raimonds Vejonis, seines Zeichens Umweltminister. Ein Regierungsbeschluß, der offenen die Atomkraft unterstützt, ist aber offensichtlich ebenso für die Grünen Lettlands kein Grund, aus der Regierung auszutreten. Lieber beschäftigt man sich auf Parteikongressen mit Bemühungen, wie bekannte rechtsnationale Kräfte noch stärker an die Partei gebunden werden können - wie die liberale DIENA jüngst süffisant in einem Kommentar bemerkte.
Gemeinsam bemüht um Einfluß am Rad der Globalisierung
"Wenn EU-Energiekommissar Piebalgs sich vor fünf Jahren für die Nutzung von Atomkraft ausgesprochen hätte, wäre er politisch tot gewesen", so sieht es LAVENERGO-Chef Miķelsons. Müssen die Atom-Profiteure also nur auf den richtigen Moment warten?
Auf der einen Seite sind es baltische Ängste - von Deutschen und Russen kräftig geschürt - bei den Verhandlungen um die (wirtschaftliche) Zukunft Europas aussen vorgelassen zu werden. Zu Hause wird das Feld den ausländischen Investoren überlassen, während die einheimischen Arbeitskräfte nach Irland reisen, um dort für einige Monate u:m so ziemlich jeden Preis einen Billigjob anzunehmen.
Drei Milliarden Euro soll der Neubau eines AKW in Litauen kosten - so die ersten Schätzungen (Presseberichten zufolge: LETA, TVNET, NRA, DIENA), und wenn sie von AKW-Jüngern kommen, dann kann man gewöhnlich darauf vertrauen, dass sie beträchtlich höher liegen werden. Diese Kosten können auch von den drei baltischen Energieversorgern EESTI ENERGIA, LATVENERGO und LIETUVOS ENERGIA nicht zusammen aufgebracht werden.
Einen prominenten Unterstützer hat man bereits gewonnen: Mohamed El Baradei, seines Zeichens Generaldirektor der Internationalen Atomenergieagentur IAEA, lobte das baltische Atomprojekt bereits als "Musterbeispiel regionaler Zusammenarbeit" - das verkündete das lettische Aussenministerium gleich lieber selbst stolz in einer Presseerklärung am 7.März. Und nur einen Tag später wurde ebenfalls in der lettischen Presse bekannt (TVNET), die drei baltischen Regierungen hätten nunmehr mittels eines gemeinsamen Memorandums eine Machbarkeitsuntersuchung eines AKW-Baus in Litauen beschlossen.
Strahlende Zukunft für die "baltischen Tiger"?
In der "Neatkariga Rita Avize" (NRA) waren am 25.Januar Äusserungen von Aigars Meļko nachzulesen, der dort als Vizepräsident von LATVENERGO zitiert wird. "Zu Anfang könnten wir uns an einem AKW-Bau in Ignalina beteiligen," so Melko, "so um 2025 bis 2030 könnten wir dann ein eigenes AKW in Lettland bauen."
Verrückte Träume eines unbeirrbaren Atomjüngers, der nun mal mit dem Verkauf von Energie sein Geld verdient? Im gleichen Artikel stehen aber interessante Einzelheiten. Bereits zu sowjetlettischen Zeiten in den 80er Jahren habe man konkret den Bau eines AKW im Küstendörfchen Pāvilosta vorgehabt, erzählt Melķo. Heute aber müsse man in erster Linie drei Faktoren im Auge behalten: die reale Sicherheit einer Anlage, die Möglichkeit Geld von Investoren in Lettland einzusetzen, und die öffentliche Meinung. Der Einschätzung von Uģis Sarma, Leiter der Abteilung Energiewirtschaft im lettischen Wirtschaftsministerium zufolge, ist in Lettland vorläufig aber keine Einigung absehbar, an welchem Ort ein neues lettischen AKW stehen könne. Natürlich müsse man auch für die "Abfallsicherung" selbst sorgen, und auch dafür sei kurzfristig keine Lösung in Sicht (ausserdem ein feiner Hinweis darauf, dass man Litauen mit der Abfallentsorgung für ein neues AKW wohl ebenfalls am liebsten allein lassen möchte!).
Der Engergieverbrauch in den baltischen Staaten steigt momentan parallel zum beständigen Wirtschaftsaufschwung. Dennoch habe man noch sehr wenig über Einsparmöglichkeiten nachgedacht, geben politische Kommentatoren wie Pēteris Strautiņš in der DIENA zu bedenken. Da sei es eben einfacher, wenn Politiker sich überdimensionierten "Riesenspielzeugen" wie den atomaren Großprojekten widmeten, mahnt er. "Was wäre billiger - an jede Familie 20 Energiesparglühbirnen zu verschenken, oder neue Kraftwerke zu bauen?" Schon diese Überlegung sei es wert, über die angebliche Unverzichtbarkeit jeder neuen Großinvestition gründlich nachzudenken, mahnt er.
Solche ketzerischen Fragen finden aber offensichtlich in der baltischen Wirtschaftspolitik momentan kein Gehör.
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