Zu einem der nervösesten Tage des Frühjahrs ist in den letzten Jahren ist in der lettischen Hauptstadt Riga der 16.März geworden. Mehr als 15 Jahre nach Wieder- erlangung ärgern sich die meisten Letten nur noch über die Art und Weise, wie dieser Tag von verschiedenen Gruppierungen jeweils für die eigenen Zwecke instrumentalisiert wird.
Wie ist es dazu gekommen? Zumindest läßt sich sagen, dass die junge Republik nicht sehr souverän sich den anstehenden Themen genähert hat. Wie zu besten Zeiten des "kalten Krieges" schien in den 90er Jahren zu gelten: wer eine andere Meinung hat als ich selbst, der muss wohl mein Feind sein.
Da kamen Kriegsveteranen auf die Idee, ihrem zwar nicht erfolgreichen, aber doch der eigenen Ansicht nach ehrenvollen Kampf am Ende des 2.Weltkriegs gedenken zu wollen. Dieses Gedenken ist beeinflußt vom Kriegsverlauf: Lettland wurde zunächst von Sowjetruppen okkupiert, Tausende wurden nach Sibirien deportiert - Unterstützer für ein solches Regime gab es nur wenige. Der angeblich "Beitritt" Lettlands zur Sowjetunion war mehr ein Fußtritt für die demokratisch gesinnten Kräfte. Die stillschweigenden Übereinkünfte, die Hitler und Stalin dabei erzielten, schockierten viele und betrafen die meisten in Lettland persönlich: durch die Zuschlagung Lettlands zum "russischen Interessengebiet" war das Schicksal eines unabhängigen Landes besiegelt.
Es folgte dann die Besetzung durch die Truppen Nazideutschlands, die zwar im ersten Moment durch die Befreiung von den ungeliebten roten Machthabern ein Aufatmen hervorrief, aber bald ebensoviele Schrecken offenbarten. Die Teilnahme von einigen im Lande aktiven lettischen Rechtsradikalen bei der Judenverfolgung kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch diese Jahre in den Augen der meisten Letten Schreckensjahre waren. Zehntausende Juden wurden ermordet, und Regimegegner mussten entweder ausser Landes flüchten, oder wurden gnadenlos verfolgt. Die Letten erhielten unter den Nazis natürlich nicht die Selbstverwaltung zurück - sehr vertrauenswürdig können ihnen diese also nicht vorgekommen sein. Eigene lettische bewaffnete Einheiten waren nicht erlaubt - bis kurz vor Kriegsende, als Hitler meinte keine andere Wahl mehr zu haben. Wehrfähige Männer wurden dann zu SS einberufen - und diese Vergangenheit brandmarkt sie in den Augen der meisten europäischen Medien heute am meisten.
Tatsache ist aber auch, dass es nicht immer ehrenvolles Erinnern war, was "patriotisch gestimmte Kräfte" im Hochgefühl der Wiedererlangung der lettischen Unabhängigkeit da jahraus, jahrein inszenierten. Das meist gehörte Argument war: "Wir sind ja damals in die SS gezwungen worden." Gut, möglich ist es, denn man kann sich ja vorstellen, was in der Nazi-Propaganda alles als "freiwillig" hingestellt wurde. Aber deshalb Jahr für Jahr sich ins Zentrum Rigas zu plazieren, und ausgerechnet diesen SS-Einheiten speziell zu gedenken - wer glaubt, dabei Pluspunkte für das Ansehen Lettlands zu erzielen, muss wohl blind sein. In einigen Jahren nahmen an diesen feierlichen Gedenkmärschen auch Amtspersonen aus Politik und Armee teil: aus Verpflichtung zum Wahlvolk, oder aus falsch verstandener Staatsräson.
Nach einigen Jahren gewohntem Ritual nahmen die starren Fronten schon nicht mehr ganz ernstzunehmende Formen an. Nationalistischen Russen, die nicht ganz einfache Integration der russischstämmigen Bevölkerung im unabhängigen Lettland ausnutzend, riefen nunmehr so laut sie konnten: Letten sind alle Faschisten! Ob Gegner der Schulreform, Arbeitslose, arme Rentner oder frisch rekrutierte 15-jährige Nachwuchsideologen: sie alle hatten eine dankbares Zielscheibe für ihre Sorgen. Sich selbst zum Antifaschisten auszurufen, gilt immerhin selten als unehrenhaft.
So wurde der 16.März zu einem echten "Event". Attraktiv nicht nur für alte Haudegen auf beiden Seiten, sondern auch für kreative Hardliner auf beiden Seiten. Wo etwas los ist, geht man doch gern hin! So gesellten sich auf der einen Seite die gewaltbereiten Nationalbolschewiken hinzu, auf der anderen Seite die bleichen Jünglinge der lettischen Nachwuchsnationalisten. Erstaunlich die Zahlenverhältnisse: als ich im März 2005 vor Ort war, schien ein Drittel der anwesenden Menschen aus Polizeitruppen verschiedener Einheiten zu bestehen, und ein zweites Drittel aus dem pünktlich herbeibestellten Troß von Journalisten, meist auf russisch oder englisch eloquent eingewiesen und auf das folgende Schauspiel eingestimmt. Erstaunlich bei allen angeblichen Tumulten (so wie es die meisten Presseberichten darstellen) wirkt dabei die Erfurcht der verfeindeten Aktivistengruppen vor der Staatsmacht. Weder Steine noch Rauchbomben fliegen irgendwo, auch keine Wasserwerfer kommen zum Einsatz. Alles läuft wie eine gut geplante Inszenierung ab - und "Ordner" gehören in jedem Gedränge eben dazu. Bekommen die einen ihren "Umzug", und seien es auch nur die 800 Meter Wegstrecke vom Okkupationsmuseum zum Freiheitsdenkmal, so ist die Gegenpartei schnell zufrieden, wenn die mit Davidssternen und auffälliger Sträflingskleidung ausgestatteten Aktivisten zwei Minuten lang eine Straße blockieren können - direkt vor den Kameras und Mikrophonen der Presse natürlich.
In diesem Jahr scheint die lettische Regierung nunmehr dem ganzen Theater überdrüssig geworden zu sein. Im Herbst 2006 stehen Parlamentswahlen an in Lettland, und so denkt so manche politische Gruppierung zeitig über die richtige Strategie nach. Schon am 16.Januar titelte die "Latvijas Avize": "Wieder wartet der 16.März." Aufmerksam wurde da registriert, dass beide Seiten sich neu zu formieren begannen. Lettlands Rechtsradkale, bisher im "Klub 415" lose organisert, schlossen sich zu einer neuen politischen Partei zusammen, die auch zu den Wahlen anzutreten beabsichtigt. Die lettische Regierung sah sich veranlaßt bekanntzugeben, die Durchführung von "pseudo-patriotischen Veranstaltungen" doch bitte am 16.März zu unterlassen (BALTIC TIMES 16.2.06). Man überlegte auch, ob lange geplante Renovierungsarbeiten am Freiheitsdenkmal nicht so gelegt werden könnten, dass ein direkter Zugang in den Tagen um den 16.März unmöglich werden würde.
Auch die Nationalradikalen auf der russischen Seite hatten diesmal eine spezielle "Geheimwaffe". Ein Filmteam brachte einen reißerischen Schinken auf den Markt unter dem Titel "die Faschisten des Baltikums", der nun genau am Abend des 16.März 2006 in einem russischen Fernsehkanal gezeigt wird. Der russisch-lettischen Freunschaft jedenfalls wird es wenig dienlich sein.
Am 13.März nun, also vor wenigen Tagen, entschieden sich die zuständigen Behörden der Stadt Riga, keinerlei öffentliche Demonstrationen am 16.März zuzulassen (NRA, LETA). Wen kann das überraschen? Die eifernden Aktivisten beider Seiten wird es enttäuschen.
Die alternden ehemaligen Legionäre werden sich auf dem Friedhof des kleinen kurländischen Ortes Lestene treffen, wo viele der Gefallenen begraben liegen, und auch ein Ehrenmal errichtet wurde.
Die russischen Fernsehzuschauer werden einen Fernsehfilm sehen, der sie hoffentlich nicht dazu verleiten läßt, von Letten pauschal Schlechteres zu erwarten als von anderen Völkern.
Viele lettische Stimmen empfehlen sowieso, den Kämpfern für Lettlands Freiheit (die es ja bei vielen Gelegenheiten gab, dazu braucht man das SS-Gedenken nicht) zusammen mit dem Gedenken an die Soldaten am 11.November zu begehen (Lacplesis-Tag). "Es darf nicht zugelassen werden, dass Verteidiger Lettlands und des lettischen Volkes einfach gleichgesetzt werden mit Radikalen, Extremisten, und Anhängern totalitärer Ideologien," schreibt nun auch LATVIJAS AVIZE. Ob damit aber Ruhe einkehrt? Ob den somit zwangsabgerüsteten Aktivisten nicht "langweilig" werden wird?
"Die Dänen dürfen Karikaturen veröffentlichen, warum dürfen wir nicht am 16.März unserer Legionäre gedenken?" so fragt etwas ketzerisch Atis Lejins, seines Zeichens Leiter des lettischen aussenpolitischen Instituts, in einem Zeitungskommentar (DIENA). Er schreibt die heftigen Proteste in erster Linie denen zu, die sich immer noch nicht damit abfinden können, dass Lettland heute ein unabhängiges Land sei.
Lejins weist aber auch darauf hin, dass in Estland der damalige estnische Aussenminister und heutige Abgeordnete des Europaparlament, Henrik Ilves, es geschaffte habe, die estnischen ehemaligen SS-Legionäre von einem öffentlichen Gedenkmarsch abzuhalten. Soviel Staatstreue war selbst dort vorhanden, und sie hätten verstanden, dass sie mit einem allzu lauten Beharren auf pompöse und gestenreiche Gedenkfeiern ihrem eigenen Staat schaden. In Estland sei es inzwischen so, dass potentielle Provokateure nur noch alte Männer zum Gottesdienst und wieder nach Hause gehen sehen können.
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