5. Juni 2019

Wer Riga kennt - könnte Brüssel langweilig finden ...

Nicht nur in Deutschland haben die Ergebnisse der Europawahl Veränderungen ausgelöst - auch in Lettland. Da war es fast Nebensache, dass Egils Levits vom Parlament mit 61 Stimmen (von 100) zum neuen Präsidenten Lettlands gewählt wurde - das hatte sich seit Wochen abgezeichnet. Auch dass zwei der Wahlberechtigten, darunter Ex-Ministerpräsident Māris Kučinskis, offenbar nicht in der Lage waren dabei gültige Stimmzettel abzugeben, war nur eine Randnotiz (lsm). 
Zumindest mit dem aktuellen Ministerpräsidenten dürfte sich Levits gut verstehen - beide kennen sich aus ihrer Zeit am Lettischen Gymnasium in Münster (lsm).

Rücktritt zum zweiten

Offiziell trat Rigas Bürgermeister Nils Ušakovs am 29.Mai zurück - und verabschiedete sich nach Brüssel (lsm). Schon vor den Europawahlen gab es aber Turbulenzen um die beiden Spitzenjobs in der lettischen Hauptstadt - auch um Ušakovs Stellvertreter Andris Ameriks. Beide standen schon länger in der Kritik u.a. wegen schlecht gemanagter und offenbar unendlicher Baustellen überall in der Stadt, und vor allem dem offensichtlichen Korruptionsfall bei den Rigaer Verkehrsbetrieben (Rīgas Satiksme) im Zusammenhang mit dem Ankauf von Niedrigflurstraßenbahnen in den Jahren 2013 und 2016 - hier sollen mehrere sogenannte "Berater" hohe Honorare erhalten haben ohne irgend etwas dafür getan zu haben (lsm). Ameriks trat deshalb schon am 17. Dezember 2018 zurück.

Die Berlin-Connection

Auch einige besondere Beziehungen Ušakovs wurden öffentlich, u.a. die nach Berlin: nein, gemeint ist damit nicht, dass er sich in der Berliner Charité hatte behandeln lassen (Blogbeitrag). Offenbar gibt es in Berlin für den Ex-Oberrigenser auch Vorbilder bei der Imagebildung: Lutz Meyer, mit seiner Werbeagentur "Blueberry" auch schon mal "Kanzlerinnenmacher" genannt (Tagesspiegel) und inzwischen mit "Fulberry" auf dem PR-Markt, hat offenbar erhebliche Geldzahlungen auch aus Riga bekommen. Das von ihm selbst verkündete Motto, sich "an der Schnittstelle zwischen Politik und Unternehmen" bewegen zu wollen, klingt für manche Ohren sicher vielversprechend - zuständig war Meyer offenbar für den Kommunalwahlkampf Ušakovs (lsm).
My town is my party? Warb Bürgermeister Ušakovs
für Riga, um damit gleichzeitig die Interessen seiner
Partei zu bedienen?
Soweit, so gut. Merkwürdig nur, dass offenbar auch Geschäfte auf Gegenseitigkeit gelaufen sind: 50.000 Euro wert sein soll ein Vertrag mit der Tourismusagentur Riga (“Rīgas tūrisma attīstības biroju” RTAB) über die Erstellung von "Werbeplakaten im Ausland" und der Veranstaltung von Seminaren zum Tourismus. Geflossen seien aber 300.000 Euro - so die lettische Presse (lsm / lsm_engl). Eine unzulässige Verquickung von städtischen Aufgaben und Parteiinteressen? Für Riga geworben werden sollte in Deutschland, Spanien und Schweden - genau dieselben Länder, in denen Meyers Agentur tätig ist. Die Stadt Riga besitzt 70% der Anteile am RTAB. Gegen insgesamt drei Personen des RTAB sei ein Strafverfahren eingeleitet worden, so teilte das lettische Anti-Korruptionsbüro KNAB mit.

Es folgten polizeiliche Untersuchungen in den Büros des (inzwischen entlassenen) Bürgermeisters und anderer Verantwortlicher. - Am 5. April entschloss sich Umwelt- und Regionalminister Juris Pūce dazu, Bürgermeister Ušakovs seines Amtes zu entheben - wegen "Nichterfüllung gesetzlicher Verpflichtungen und Verstößen gegen behördliche Vorschriften." Er bezog sich dabei ausdrücklich auf die Vorgänge um die Verkehrsbetriebe "Rigas Satiksme" (RS)
So ergab sich ein seltsamer Europawahlkampf: Spitzenkandidat Ušakovs wurde in der Öffentlichkeit nur noch selten gesehen - wegen des "öffentlichen Drucks", wie er selbst angab (lsm). Antreten konnten er und Ameriks natürlich dennoch - und genau diese beiden wurden auch gewählt.

Bisher regieren im Rat der Stadt Riga Ušakovs' "Saskaņa" zusammen mit Ameriks "Gods kalpot Rigai - GKR" - aber nur mit einer knappen Mehrheit von 32 der 60 Sitze. Beide traten bei der Kommunalwahl 2017 zusammen auf einer Liste an.

"Seht her! Wer hätte das gedacht, dass ich auch noch
mal Hauptstadts-Bürgermeister werde!" scheint
sich hier Dainis Turlais zu denken - dessen einzige
Einkünfte eine Aufwandsentschädigung als Ratsherr
und eine Rente aus Russland sind.

Stimmst Du nicht für uns - fliegst Du raus!

Im Stadtrat Rīga wurde dann zunächst ein neuer Bürgermeister gewählt: GKR-Kandidat Dainis Turlais konnte bei seiner Wahl auf die 32 Stimmen der beiden Mehrheitsfraktionen zählen.
Überraschung dann aber bei der Wahl des Stellvertreters: die Saskaņa-Franktion stellte nicht mehr den bisherigen Vize Vadims Baraņņiks auf, sondern Sandris Bergmanis, der erst kürzlich in die Schlagzeilen geraten war, weil er ungerechtfertigt hohe Beraterhonorare kassiert haben soll (ir).
Jetzt traten die Meinungsverschiedenheiten offen zu Tage: vier Ratsherren (darunter auch Baraņņiks) verweigerten Bergmanis die Zustimmung - und wurden, ja so schnell kann das in Lettland gehen, daraufhin umgehend aus ihrer Partei ausgeschlossen. Damit verloren GKR und "Harmonie" (Saskaņa) aber auch ihre Mehrheit im Stadtrat.

Was nun? Die Opposition im Stadtrat solle sich nicht zu früh freuen, mahnt Janis Ozols, Abgeordneter der oppositionellen "Neuen Konservativen" JKP, in einem Kommentar für die Zeitschrift "IR". Nach wie vor seien die vier "Ex-Harmonischen" (die inzwischen eine eigene Fraktion gebildet haben) politisch den beiden Regierungsparteien näher stehend - aber offensichtlich hätte die in den vergangenen 10 Jahren vom Duett Ušakovs/Ameriks geschaffenen Abhängigkeiten "mehr Münder als sie ernähren können."

Bezahlt aus Moskau

Viele sehen auch in dem frisch gewählten "Nachfolger" von Ušakovs, Dainis Turlais, kein Vorbild, in mehrfacher Hinsicht. 8490 Euro an Rente bezieht der neugewählte Bürgermeister aus Russland - so zählte die Tageszeitung "Diena" nach. Turlais, geboren 1950, gilt in der lettischen Politik als "bunter Hund" - da er ziemlich oft seine Parteizugehörigkeit wechselte. Im Sowjetsystem machte er zunächst eine militärische Karriere und diente auch in Afghanistan. 1992-94 war er Kommandeur des lettischen Militärs. Später war er Berater des lettischen Präsidenten Guntis Ulmanis in Verteidigungsfragen. 1995 wurde er auf der Liste der Partei "Saimnieks" ins Parlament gewählt, war Innenminister in der Regierung Sķēle, und musste 1997 nach einem schweren Unglück in Talsi zurücktreten, als dort acht Kinder zu Tode kamen. 1999 schloss Turlais sich der Partei "Lettlands Weg" (“Latvijas ceļš” LC) an, die er aber 2002 wieder verliess und nun Mitglied der “Tautas saskaņas partijā” (TSP) wurde. 2004 wurde er wiederum ins Parlament gewählt, dann wechselte er zur "Latvijas Pirmajā partijā" (Erste Partei - LPP). 2009 wurde er auf der Liste LPP / LC in den Stadtrat Rigas gewählt. Seitdem wechselte er seine Parteizugehörigkeit erneut und gehört nun "Gods kalpot Rigai" (GKR, "Ehre Riga zu dienen") an.

Vorerst kommen die Rigaer Stadtoberen nicht zur Ruhe. Am 4.Juni wurden sich die oppositionellen Parteien im Stadtrat einig, gegen den frisch gewählten Turlais ein Misstrauensvotum zu beantragen. Am 8.Juni feiert Nils Ušakovs seinen Geburtstag. Ob dann wohl sein Nachfolger noch im Amt sein wird? Neuwahlen werden von vielen derzeit nicht ausgeschlossen.


Info: 
Zur Europawahl traten in Lettland 16 Listen mit insgesamt 246 Kandidatinnen und Kandidaten zur Europawahl an, darunter 75 Frauen (30,5%).Die Wahlbeteiligung lag diesmal bei 33,53%. Gewählt wurden Valdis Dombrovskis und Sandra Kalniete (beide Jauna Vienotība), Nils Ušakovs und Andris Ameriks (Saskaņa" / GKR), Roberts Zile und Dace Melbarde (beide National-Konservative / Nacionālā apvienība "Visu Latvijai!"-"Tēvzemei un Brīvībai/LNNK"), sowie Ivars Ijabs ("Attistībai par" / "Für Entwicklung") und Tatjana Zdanoka (Vereinigung der Russen Lettlands). (cvk)

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