4. Mai 2017

Lettischer Mai

4.Mai 1990: die lettischen Volksfront-Vertreter jubeln:
obwohl noch Teil des alten Systems, sprach
sich damals eine Mehrheit des "Obersten Rates"
für die lettische Unabhängigkeit aus.
Vielleicht ist nicht jedem klar, welche Bedeutung der 4.Mai 1990 für Lettland hatte - ein richtiger Nationalfeiertag ist es nicht, der Tag konkurriert mit der erneuten Unabhängigkeitserklärung Lettlands nach Scheitern des Putsches gegen Gorbatschow im August 1991, der dann bald auch die internationale Anerkennung folgte. Aber ohne den 4.Mai 1990 hätte sich vielleicht weder die sogenannte "singende Revolution" durchsetzen können, noch die politische Erneuerungsbewegung, die schließlich die Unabhängigkeit des Landes und ein demokratisches System wiederherstellen konnte. Am 4.Mai 1990 stimmten die Abgeordneten des damals noch existierenden "Obersten Sowjet Lettlands" mehrheitlich für die Wiederherstellung der Unabhängigkeit Lettlands - die lettische Verfassung wurde wieder in Kraft gesetzt (siehe Wortlaut der Erklärung).138 Abgeordnete waren das damals, die sich - obwohl noch nicht demokratisch gewählt - der 1988 gebründeten Lettischen Volksfront (Latvijas Tautas fronte LTF) und deren Zielen nahe fühlten (siehe Namensliste). Einer enthielt sich, 57 Abgeordnete, politisch der Vereinigung "Līdztiesība" (Gleichheit) nahestehend, stimmten damals dagegen. Viesturs Sprūde, Journalist der lettischen Zeitung "Latvijas Avize", hat jetzt mal nachgeforscht, was diese 57 eigentlich heute machen.

Bekannt war damals die "Interfront" - nicht nur Gegner der lettischen Unabhängigkeit, auch Befürworter des Sowjetsystems, im August 1991 dann auch Unterstützer des Putsches gegen Gorbatschow (Internationale Front der Arbeiter Lettlands - Latvijas PSR Internacionālā Darbaļaužu fronte, abgekürzt "Interfront").
Bekannteste Figur - damals wie heute - Tatjana Ždanoka. Damals "Interfront", heute Europaparlament - als vermeintliche Repräsentantin "der Russen in Lettland", so sieht sie sich selbst. Ein ähnlicher Fall ist Alfrēds Rubiks - Ex-Bürgermeister von Riga. Er stand als aktiver Unterstützer des Putsches gegen Gorbatschow schon mal vor Gericht, und ist, wie Ždanoka, als nachgewiesene Gegner der lettischen Verfassung, Unabhängigkeit und demokratischer Ordnung vom passiven Wahlrecht ausgeschlossen. Das gilt allerdings nicht für das Europaparlament - und so wurde ein Sitz dort für beide zum Kuschelparadies für Träume von der sowjetischen Vergangenheit, nach außen, für gutgläubige Medien verkauft als Kampfzentrale für Menschenrechte. Und das, obwohl Rubiks den EU-Beitritt Lettlands als "politischen Selbstmord" bezeichnete. - Ždanoka reist da schon mal zur Unterstützung Russlands auf die Krim, Rubiks fühlte sich lange als Vorsitzender der Sozialistischen Partei Lettlands am wohlsten (trat 2015 zurück, als er 80 Jahre alt wurde) und schickt seine beiden Söhne Artūrs und Raimonds in die politische Arena, die beide zu jung sind um ähnlich vorbelastet sein zu können.

In Siegerpose verlassen die Volksfront-Delegierten
am 4.Mai 1990 nach der entscheidenden Abstimmung
des Parlament - davor hatten sich Tausende
Menschen in erwartungsfroher Stimmung versammelt
13 der "Interfrontisten" vom 4.5.1990 stimmten auch im August 1991, nach Scheitern des Putsches in Moskau, noch gegen die lettische Unabhängigkeit - auch hier war Ždanoka wieder unter ihnen. Tālavs Jundzis, Politologe mit einem Schwerpunkt bei der lettischen Unabhängigkeits-bewegung, sieht Forschungsbedarf auch zu den damaligen Gegnern der lettischen Unabhängigkeit. Militärangehörige kehrten nach Russland zurück, manche wurden zu Geschäftsleuten ("Biznesmeņi"), der ein oder andere ist auch inzwischen bereits verstorben. "Aber treffen sich die ehemaligen Genossen heute noch? Was denken sie heute über ihre Entscheidungen damals? Das bleibt vorerst weitgehend unbekannt," sagt Jundzis der "Latvijas Avize" im Interview. Vielleicht wollten sie ja damals einen eher stufenweisen, sanfteren Übergang, oder zwar ein freies Lettland, aber nicht dieses? Vorerst sind Antworten darauf nur bei denen, die wie Mihails Gavrilovs noch heute politisch aktiv sind,
bekannt. "Wir hätten vielleicht dafür gestimmt damals, wenn damit auch eine klare Antwort in der Staatsbürgerschaftsfrage gegeben worden wäre," sagt er. Gavrilovs hat selbst inzwischen den Einbürgerungsprozess überstanden, ist lettischer Staatsbürger und bei der Partei "Gods kalpot Latvijai" ("Ehre, Lettland zu dienen") aktiv, die in Riga im Stadtrat zusammen mit der "Saskaņa" (Harmonie) Bürgermeister Nils Ušakovs unterstützt.

Einige Ex-Interfront-Unterstützer hat Journalist Viesturs Sprūde in der Unternehmerwelt ausmachen können: darunter Boulingbahn-Betreiber, Tankstellenchefs oder Bankenvertreter. Aber wer träumt heute noch wirklich von einer Rückkehr zum Sowjetsystem? Die Probleme des heutigen Lettland wie Arbeitslosigkeit, Landflucht, Niedriglöhne und Massenauswanderung könnten zu einer "früher-war-alles-besser"-Haltung verleiten. Wie auch immer die Gegenwart heute gesehen wird - der 4.Mai 1990 wird wohl auf absehbare Zeit im Geschichtsbewußtsein von Lettinnen und Letten, wie auch in der persönlichen Erinnerung vieler Menschen, einen sehr wichtigen Platz einnehmen.

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