231.751 Menschen in Lettland haben sich gemäß vorläufigen Ergeb- nissen an einer Unter- schriften- aktion für eine Änderung der lettischen Verfassung beteiligt, die seit dem 12.März lief und am 10.April abgeschlossen wurde. Ziel war die Einbringung eines Entwurfs in das lettische Parlament, der Ergänzungen an den Paragraphen 78 und 79 der lettischen Verfassung vorsieht: es soll die Möglichkeit geschaffen werden, dass künftig 10% der Wahlberechtigen die Durchführung einer Volksabstimmung beantragen können, deren Ziel auch die Entlassung des Parlaments sein kann. Stimmen dann mehr als 50% bei der Volksabstimmung dem zu, so soll auch eine amtierende Regierung künftig zurücktreten müssen.
Nochmals zur Erinnerung: 2006 war erstmals seit Wiedererlangung der Unabhängkeit Lettlands eine amtierende lettische Regierung durch Wahlen im Amt bestätigt worden. Ein Jahr später aber, im Herbst 2007, erschien vielen Lettinnen und Letten das Kabinett Kalvitis als allzu selbstsicher, überheblich und wenig volksnah. Der Versuch, die Entlassung des Chefs der Antokorruptionsbehörde KNAB regierungsamtlich (wegen angeblicher Verfehlungen) zu veranlassen, brachte die sogenannte "Regenschirmrevolution" auf die Straßen Rigas (wegen des dauerhaft regnerischen Wetters so genannt). Regierungschef Kalvitis wurde der öffentliche Druck zu groß - aber ohne Neuwahlen bildete Ivars Godmanis eine erneut eine Regierung mit derselben Zusammensetzung an Parteien.
Nun also die Nachwirkungen. Denn die Protestierenden haben ein Problem: wer interessiert sich schon für Politik? Schimpfen auf Politiker/innen ist das eine, alle für korrupt und selbstsüchtig halten - aber selbst aktiv werden? Einigkeit und Gemeinschaftsgeist - davon ist oft nur im Protest gegen andere etwas zu merken. Aber dass Parteien sich spalten, Abgeordnete das Parteibuch wechseln wie ein frisches Hemd, kurz vor Wahlen neue politische Gruppierungen gegründet werden, neureiche Unternehmer zu Politikern werden und ihre Geschäftsinteressen nicht einmal verstecken dabei - das kennt das neue Lettland seht gut.
Schritte heraus aus der Korruption machen, das wünschen sich wohl die meisten (und die Anti-Korruptionsbehörde war auf einem guten Weg) - aber selbst aktiv werden?
Was nach "Politik" riecht, gilt als eher unpopulär. Die momentan stark materialistisch ausgerichtete lettische Gesellschaft (nur wer nach schicken Autos, Handy, PC und Ähnlichem strebt und sich schick kleidet, wird problemlos akzeptiert) stöhnt lieber über hohe Inflation als über fehlendes Engagement in der Gesellschaft - bei gleichzeitigem Wunsch nach wesentlich höheren Löhnen natürlich. Nichtregierungsorganisationen gelten da schon mal leicht als "vom Ausland gekauft und gelenkt", und Einzelkämpfer werden mit einem der lettischem Lieblingssprüche abgefertigt: "Was ist die liebste Speise eines Letten? Ein anderer Lette." So schien es bisher - oder ändert sich da gerade etwas?
Die Ansinnen der erfolgreichen Unterschriftensammlung wird nun zunächst einmal an das Parlament weitergereicht. Option 1: das Parlament stimmt mehrheitlich zu, ohne den Entwurf zu ändern, damit wäre die Verfassungsänderung angenommen. Option 2: das Parlament ändert den Entwurf, dann muss nach einem Monat - aber nicht später als nach 2 Monaten - eine Volkabstimmung über die Verfassungsänderung stattfinden. Die Kosten der Durchführung einer Volksabstimmung werden auf ca. 2,5 Millionen Lat geschätzt (3,75 Mill. Euro) - auch ein Argument in der politischen Diskussion.
Noch im Frühsommer 2007 konnte eine ähnliche Unterschriftensammlung, die zu einer Volksabstimmung über die im Parlament zu beschließenden neuen Sicherheitsgesetze aufrief, nicht genügend Unterschriften sammeln. Jetzt ist dieser neue Versuch, auch zwischen den Wahlen den Wahlberechtigten mehr Einfluß und Partizipation zu sichern, schon mal einen Schritt weiter. Die meisten Unterschriften wurden in Riga und im Umkreis von Riga gesammelt (am wenigsten in Ventspils).
Text der vorgeschlagenen Verfassungsänderung (lett.)
Resultate der Unterschriftensammlung
Verfassung der Republik Lettland (englische Übersetzung)
Lettisches Gesetz über Volksabstimmungen (engl. Fassung)
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