22. Januar 2006

Tag des Frostes, Tag der Barrikaden

Die Erinnerung an den 20.Januar 1991, als sowjetische OMON-Sondereinheiten in Riga den Versuch unternahmen, die lettische Unabhängigkeitsbewegung gewaltsam zu stoppen, wurde in diesem Jahr durch eisige Temperaturen gekennzeichnet. Am Morgen des 20. Januar wurden in der lettischen Haupststadt Riga minus 27Grad gemessen - die für diesen Tag kältesten gemessenen Temperaturen seit dem Jahr 1907.
Im nordostlettischen Aluksne wurden gleichzeitig 32 Grad minus gemessen, während das Thermometer in Kolka, an der Spitze der Rigaer Bucht, "nur" 16 Minusgrade aufwies.
Da war es wohl das klügste, sich am nächstgelegenen Feuer zu wärmen - so, wie es die Tausende von Menschen 1991 ebenfalls gemacht hatten, als sie tagelang bei den um die Altstadt von Riga aufgetürmten Barrikaden ausharrten.


Viele Menschen in Riga erinnern sich noch gut an die Zeit der Barrikaden. Zwei, die damals mit zur Dokumentation des Geschehens beitrugen, die Filmemacher Andris Slapins und Gvido Zvaigzne, wurden am 20.August 1991 im Kugelhagel der Schießerei um das lettische Innenministerium schwer verletzt. Slapins starb kurze Zeit später, Zvaigzne erlag nach zwei Wochen seinen Verletzungen.
Aber Tausende andere Menschen harrten bei den Barrikaden aus, und sicherten so den Weg hin zur Anerkennung der lettischen Unabhängigkeit ein halbes Jahr später.

Heute sind die Probleme andere - aber zunächst hatten die frostigen Temperaturen Riga voll im Griff. Nicht nur kalte Zimmer, Arbeitsplätze und Amtsstuben stellen dabei ein Problem dar. Der Weg zur Arbeit oder zur Schule wird bei derart frostigen Verhältnissen zur Gefahrenstrecke. Ausser den Autos blieben auch die Buslinien ins Umland stecken: am 19.Januar fielen am Autobusbahnhof Riga über 60 Busslinien aus, und an den darauffolgenden Tagen sah es nicht besser aus.
Wie überall an kalten Wintertagen sorgte man sich vor allem um die Obdachlosen: Ministerpräsident Kalvitis wies die Polizeistationen an, bei ihren Kontrollgängen auf alle Menschen zu achten, die draußen zu erfrieren drohten, und sie in ein Krankenhaus oder den Unterkünften des Sozialministeriums zu bringen. In den Kirchen dagegen können sich Obdachlose nur tagsüber aufwärmen - nachts sind sowohl die katholische Jakobskirche, die evangelische Johanneskirche wie auch die Rigaer Domkirche geschlossen.

Wie zu befürchten war, kam es zu einer Reihe von Todesfällen. Teilweise waren die ersten Vorfälle durch Einfluß von Alkohol, teilweise auch durch "Unvorsichtigkeit" verursacht, wie Ärzte der Rigaer Krankenhäuser berichteten. "Ich hatte einen Fall, wo ein Mann nur schnell mal Metallabfall zum Abfallbehälter bringen wollte, und keine Handschuhe anzog. Er zog sich schwere Erfrierungen zu," berichtet der Direktor des Rigaer medizinischen Katastrophenzentrums KMC. In der Nacht vom 20. auf den 21.Januar wurden 22 Menschen mit Erfrierungen dort eingeliefert. "Aber selbst in den meisten Rettungsfahrzeugen ist es nur um die Null Grad", berichtet der Direktor des Einsatzzentrums, "nur in den neueren Wagen ist es wärmer."
Zum Glück sind unter den Betroffenen bisher keine Kinder. Dazu trug wohl bei, dass viele der Eltern ihre Kinder erst gar nicht auf den kalten Schulweg schickten.

Sechs Tote forderte der extreme Frost in der Nacht zum 21. Januar in Riga. Zwei verstarben in ihren Gartenhütten, einer in einem leerstehenden Haus. Eine ältere Frau starb direkt an der Brivibas iela (einer der bekanntesten Straßen in Riga), eine weitere Frau, 70 Jahre alt, wurde in einer anderen Straße gefunden. Ein weiterer Frosttoter starb in einem Haus auf der Treppe.

Zwei Tage später musste die Tageszeitung Neatkariga Riga Avize (NRA) melden: "Am Wochenende starben in Lettland mehr Menschen als in Moskau." Zwölf Tote hatte der Frost des Wochenendes gefordert, acht davon in Riga. Insgesamt gab es damit im Januar bereits 20 Frosttote. "Fast alle sind Obdachlose, die meisten sind stark angetrunken, und sie werden oft einfach auf der Straße gefunden", so gibt NRA Berichte von Ärzten und Polizei wieder. "Alkohol verschafft zunächst etwas Wärme, verringert aber die Sensibiliät für den Zustand des eigenen Körpers."
Dank den Polizeipatrouillen und aufmerksamen Menschen seien aber auch noch viele Gefährdete gerettet worden.

Ein besonders ungewöhnlicher Unfall ereignete sich am 21.1. nachts um 1.55 Uhr. In der Kleinstadt Lielvarde startete ein fünfzehnjähriger Junge ein Auto, einen VW Passat, und fuhr damit auf das Eis der zugefrorenen Daugava hinaus. Er verlor bald die Gewalt über den Wagen und schleuderte dann über das Eis direkt gegen einen Betonpfahl am Ufer. Mit im Auto saß noch ein Dreizehnjähriger - beide trugen erhebliche Verletzungen davon.

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