18. Juli 2022

Warten auf Schultag zwei

Wer die Arbeitswelt in Lettland kennt, hat vielleicht schon öfter darüber gestaunt, wie niedrig das Lohnniveau bei Lehrerinnen und Lehrern ausfällt. Was ist da los? Ist es Lettinnen und Letten egal, wer ihre Kinder erzieht und bildet? Aber dieser Zustand dauert inzwischen schon viele Jahre an - in sofern ist es wenig überraschend, wenn für den 2. September, also den Beginn des neuen Schuljahres, nun ein Generalstreik angekündigt wurde. Lettische Lehrkräfte bekommen nominell eines der niedrigsten Gehälter in der Europäischen Union (GEW)

Überarbeitet, unterbezahlt, perspektivlos?

Streik im lettischen Schulwesen? Die lettische Gewerkschaft der Beschäftigen in Wissenschaft und Bildungswesen (Latvijas Izglītības un zinātnes darbinieku arodbiedrība LIZDA), gegründet 1990, ist mit über 24.000 organisierten Mitgliedern die einflußreichste Organisation in diesem Bereich (nach Angaben der LIZDA sind das 42,8% der in diesem Bereich insgesamt Beschäftigten). Gewerkschaftschefin Inga Vanaga zur Streikankündigung: „Den 1. September wollen wir als Tag des Wissens feiern. Aber was dann kommt - es liegt in den Händen der Politik, einen Streik zu vermeiden.“ Aus früheren, kurzfristigeren Streiks habe man gelernt, meint Vanaga: "Effektiv ist es nur, wenn es zeitlich unbegrenzt sein wird" (lsm).

Einkommen von Lehrerinnen und Lehrern im Vergleich: Lettland weit hinten

Koeffizienten und Multiplikatoren

Was sind die Forderungen? Es ist erstens eine Anhebung der Lehrer/innengehälter (mittelfristig auf ein EU-Durchschnittsniveau, zumindest auf das durchschnittliche Niveau anderer Fachkräfte im öffentlichen Dienst). Zweitens klagen die Pädagig/innen über Arbeitsüberlastung, und drittens hat die Regierung gerade ein neues Schulfinanzierungsmodells beschlossen - das die Gewerkschaft heftig kritisiert (likumi). Einerseits lockt zum neuen Schuljahr 22/23 eine Erhöhung des Mindestlohns für Pädagog/innen von 830 auf 900 Euro, bei Grundschullehrer/innen von 872 auf 970 Euro (izm.gov.lv). Andererseits strebt die neue Finanzierung eine stärkere Orientierung an den exakten Schüler/innenzahlen in den betreffenden Gemeinden an. So sieht das Ministerium nun beispielsweise pro Schüler und Monat in der 1.-6. Klasse 126 Euro vor, in der 7.-9. Klasse 162 Euro und in der 10.-12. Klasse 172 Euro. Wer nun die Zukunft einiger Schulen voraussagen will, muss sich mit Koeffizienten und Multiplikatoren genau auskennen. Die Regierung sieht es so: 2,5 Millionen Euro zusätzlich sei für 2023 notwendig, bis 2026 sollen insgesamt 30,6 Millionen Euro zur Verfügung stehen (LA)

Inga Vanaga, Chefin der Gewerkschaft LIZDA kritisiert unter anderem, vom Ministerium nicht vollständig über die geplante Neuregelung informiert worden zu sein. Nachdem es bereits einen Demonstrationszug am 16. Juni mit 3.000 Teilnehmer/innen vor dem Parlament in Riga gegeben hatte (tvnet), kommt jetzt der Streikaufruf. (lsm) - Das Ministerium macht Versprechungen, bis 2027 werde der Mindestlohn weiter von 900 auf 1327 Euro steigen. Vanaga dagegen weist darauf hin, dass gerade in Lettland die Lehrkräfte bis zu 70% ihrer bezahlten Zeit für die Schulstunden aufbringen, während der Durchschnitt international (EU und OECD) hierfür nur bei 45% läge (IR). Es fehle die Zeit für die Vorbereitung von Unterrichtsmaterialien, Beratung, Bewertung von Arbeiten, und für Kindern mit besonderen Bedürfnissen. Ein anderes Phänomen sei die Übernahme mehrerer Teilzeitjobs, um über die Runden zu kommen (tvnet)

Erhöhte Stundenzahl, lange Ferien

Einer Umfrage unter den Lehrkräften zufolge, an der 1400 Lehrerinnen und Lehrer teilnahmen, fühlen sich 48% oft überarbeitet, 60% geben zu, wegen Überlastung nicht die gewünschte Arbeitsqualität liefern zu können. Und nur 24% sehen sich selbst mit Sicherheit auch in 5 Jahren noch im Lehrer/innenberuf. Nur 11% glauben, dass sich das Ansehen der Pädagog/innen in der lettischen Gesellschaft in den letzten Jahren verbessert habe - aber immerhin 78% würden die eigene Schule anderen als guten Arbeitsplatz weiterempfehlen (Skolatāju balss). Aus dem Ministerium heißt es dazu, dass man eine Wochenstundenzahl von 30 Stunden empfehle - viele aber 40 Stunden und mehr arbeiten. 

Zwei Organisationen unterstützen bisher den Streikaufruf: neben der bereits genannten LIZDA auch der Verband der Leitungskräfte im Bildungswesen (Latvijas izglītības vadītāju asociācija LIVA). "Wahrscheinlich wird keine lettische Regierung unsere Forderungen unterstützen - aber niemand wird uns verbieten, die Stimme zu erheben" meint Rūdolfs Kalvāns, Direktor eines Gymnasiums in Sigulda und LIVA-Chef. Gunta Lāce, Leiterin eines Gymnasiums in Limbaži, weist auf nicht besetzte Planstellen in den Fächern Mathematik, Chemie, Englisch, Phasik und Geschichte hin - das sei der Grund für eine Wochenstundenzahl von 40 Stunden für die anderen verfügbaren Lehrkräfte, und die Wochenstundenzahl steige auf 70-80% der Arbeitszeit (IR).

Die geforderten Lohnerhöhungen würden den lettischen Staat 119 Millionen Euro kosten - meint  Bildungsministerin Anita Muižniece (Konservatīvie), und um die Reduzierung des Arbeitspensums zu erreichen, wäre die Einstellung von 4000 zusätzlichen Pädagogen notwendig. (lsm) Eine lettische Besonderheit ist es, dass in den allgemeinbildenden Schulen über 84% der Lehrkräfte Frauen sind (Litauen 82%, Deutschland 66%). Und nach wie vor besteht das lettische Schuljahr nur aus 169 Pflichtschultagen (Deutschland 188, Litauen + Estland 175, OECD)

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