8. Juli 2022

Wahlkampf im Krieg

Anfang Oktober 22 stehen in Lettland Parlamentswahlen an. "In der Genealogie lettischer Parteien ist es manchmal nicht einfach zu berechnen, wer von wem ein echter oder ein falscher Verwandter ist", so kommentierte kürzlich Journalist Aivars Ozoliņš (IR) die lettische Parteienlandschaft. So ist ein Übertritt von einer Partei in eine andere wesentlich üblicher als etwa in Deutschland, und auch Spaltung wie auch Neugründung von Parteien sind häufig beobachtete Vorgänge der Vorwahlzeit. So ist es auch mit "Latvijas attīstībai" ("Für Lettlands Entwicklung"): 2018 neu gegründet, nach Aussage des eigenen Parteiprogramms "klassisch liberal, westlich orientiert" (attistibai). Aber in Zeiten, wo das gesamte politische und gesellschaftliche Leben in Lettland vom russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine dominiert wird - womit Wahlkämpfe gewinnen? 

Quelle: lett.Verteidigungsministerium
Artis Pabriks, lettischer Verteidigungsminister und Vorstandsmitglied bei "Attīstībai", schlug im Rahmen einer Pressekonferenz am 5. Juli die Wiedereinführung des allgemeinen Wehrdienstes in Lettland vor (lsm / tvnet). Pabriks, der in seiner Zeit als Politiker auch schon mehrere Parteimitgliedschaften durchlaufen hat ("Tautas Partija", "Sabiedrība citai politikai", "Vienotība") meint, der Übergang zu einer Wehrpflicht könne in mehreren Stufen geschehen: ab 2023 soll die Absolvierung des Wehrdienstes bereits freiwillig möglich werden. In fünf Jahren soll dann ein 11 Monate dauernder Wehrdienst für alle Männer im Alter zwischen 18 und 27 Jahren obligatorisch werden. Ausnahme: wer mit 18 Jahren noch eine berufsbildende Schule besucht, soll erst nach Ende der Schulzeit eingezogen werden. Für Frauen soll der Wehrdienst auf freiwilliger Basis möglich sein.
Innerhalb des Wehrdienstes stehen dann vier Bereiche zur Wahl:
- allgemeine Landesverteidigung
- Dienst bei der "Zemessardze" (Vertrag über 5 Jahre)
- Lehrgang für leitende Kommandeure an einer Hochschule
- Alternativer Wehrdienst (Arbeit in Einrichtungen der Ministerien für Inneres, Gesundheit oder Soziales)
"Die lettische Gesellschaft muss sich ihrer wichtigsten Überlebensvoraussetzung bewusst sein – je größer die Zahl der militärisch vorbereiteten und ausgebildeten Bevölkerung, desto unwahrscheinlicher wird es, dass Russland seine militärische Aggression gegen Lettland richten wird", so Minister Pabriks (mod.gov.lv). Schätzungen des Ministeriums gehen davon aus, dass für den gesamten Prozess der Wiedereinführung des Wehrdienstes insgesamt 120 Millionen Euro notwendig sein werden (andere Quellen sprechen von 800 Millionen). Als Ziel wird ausgegeben, nach Ablauf von fünf Jahren 50.000 Bürger und Bürgerinnen verteidigungsfähig geschult zu haben: 14.000 Personen beim aktiven Militär, 16.000 bei den Zemessardze, und 20.000 in den Reserveeinheiten (nra).

Die ministeriellen Maßnahmen stehen offenbar auch in Zusammenhang mit gegenwärtigen Schwierigkeiten der lettischen Berufsarmee (Nacionālie bruņotie spēki NBS), die 2007 eingeführt wurde. Bei der Rekrutierung von Soldaten gäbe es erhebliche Probleme, so NBS-Kommandeur Leonīds Kalniņš in der lettischen Presse (lsm) Üblich sei ein Vertrag auf fünf Jahre. Im Jahr 2021 habe die Truppe aus 6600 Soldaten und 8200 Zemessargi bestanden, so Zahlen des Ministeriums. "Im aktuellen Jahr haben wir 98 Soldaten rekrutiert", berichtet Kalniņš, "In den Vorjahren waren es noch um die 300. Einerseits gibt es eine demografische Lücke, aber vielleicht motivieren Eltern die Jugendlichen auch weniger zu einem derartigen Engagement." Ein vom lettischen Parlament 2016 beschlossenes Konzept geht von Streitkräften von insgesamt 6500 Berufssoldaten (zu Friedenszeiten) aus. Im Jahr 2018 waren noch 614 Soldaten neu aufgenommen worden (mil.lv)

Das lettische Verteidigungsministerium bietet angesichts des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine auch bereits seit dem 28.Februar, also schon vier Tage nach Kriegsbeginn, die Möglichkeit an sich als Freiwilliger zur ukrainischen Armee zu melden (saeima.lv /mod.gov.lv). Dies gilt allerdings nur für Personen, die nicht schon in der Berufsarmee oder bei den Zemessardze aktuell dienen (also Berufssoldaten sind). 

In der lettischen Presse werden Untersuchungen zitiert, denen zufolge im Falle einer militärischen Invasion 34% der Bevölkerung bereit zur Landesverteidigung seien (50% der Männer). Aber nur 0,5 % bis 2 % der Bevölkerung Lettlands verfügen schätzungsweise über praktische (militärische) Vorkenntnisse. (nra) Ein Blick auf die Nachbarländer: in Estland existiert eine Wehrpflicht von zwischen 8 und 11 Monaten Dauer, Litauen führte 2016 eine neunmonatige Wehrpflicht wieder ein (für alle zwischen 18 und 23 Jahren)

Aber während "im Netz" viele bereits die Wiedereinführung der Wehrpflicht in Lettland als vollzogen vermelden, wird man abwarten müssen, wie sich diese Diskussion in der nun beginnenden "heißen Phase" des lettischen Wahlkampfs entwickelt. Der Interessenausgleich innerhalb lettischer Koalitionsregierungen scheint oft undurchsichtig, und es ist noch nicht absehbar, wer nach den Wahlen Regierungschef oder Verteidigungsminister sein wird. "Ein interessanter und innovativer Vorschlag", kommentiert Pabriks momentaner Koalitionskollege, Außenminister Edgars Rinkēvičs (Partei "Jauna Vienotiba") - fügt aber hinzu: "entscheidend werden aber die Details bei der Umsetzung sein." Viele würden sich vielleicht noch an die Jahre der Sowjetunion oder die ersten Jahre nach wiederhergestellter Unabhängigkeit erinnern, meint Rinkēvičs, als der Wehrdienst viele Schwächen aufgewiesen habe. Begrüßenswert sei eine breite Debatte statt bloßer Wahlkampfparolen (Latvijas Avize). 

"Ich zweifle, ob die Regierung sich in dieser Frage einig werden wird," kommentiert Politologe Filips Rajevskis in der "Diena". "Es ist zunächst einmal ein bequemes Wahlkampfthema, scheinbar einfacher als die Probleme der Inflation oder der Energiekrise". Außerdem prognostiziert Rajevskis Ungleichheiten in der lettischen Gesellschaft, wenn Pabriks Vorschlag so umgesetzt werde. "Dann werden die einen den Militärdienst absolvieren, die anderen aber erst den Schulabschluß machen und so dem Arbeitsmarkt früher zur Verfügung stehen."
"Ich glaube nicht, dass sein Vorschlag viel Zustimmung für Pabriks unter den jungen Wählern bringen wird", meint auch Politologin Ilga Kreituse. "Die ältere Generation, die daran glaubt dass Disziplin und Ordnung wichtig sind, bei denen dagegen schon. Aber es kommt darauf an, wieviel Wahlmüdigkeit es bei den Jüngeren wie bei den Älteren geben wird." (lsm) Zudem sei die Finanzierung des Pabrik-Konzeptes bisher noch völlig unklar, und der gesamte Prozess der Umstellung des Bildungssystems auf eine Wehrpflicht könnte bis zu 12 Jahren dauern, meint Jānis Strencis in seiner Analyse für "Delfi.lv".

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