Solche Zeiten möchten einige der wenigen heute noch verbliebenen Umweltaktivisten gerne wieder aufleben lassen. Und auch heute ist wieder ein Thema des öffentlichen Nahverkehrs gefunden: die Planungen der Stadt zu einer neuen Straßenbahnlinie. Das Projekt wiederspreche "den ethischen Normen, so wie sie die Letten verstehen", meint Elita Kalniņa, Vizepräsidentin des "Vides Aizsardzības kluba VAK" (Umweltschutzklub), eine Aktivistin auch noch aus Rubiks Tagen.
Am 11.Oktober beschloss eine Mehrheit im Rigaer Stadtrat mit einer Mehrheit von 34 gegen 15 Stimmen ein Projektvorhaben zur Schaffung einer neuen Straßenbahnlinie, nach dem zu durchquerenden Ortsteil "Skanstes Linie" genannt (lsm) - dem ersten Erweiterungsvorhaben für die Straßenbahn seit 1984. Durchführen soll das Projekt "Rīgas satiksme”, das städtische Verkehrsunternehmen. Für die 3,6km langen Strecke, die zu bauen etwa 100 Millionen Euro kosten soll, sollen auch 12 neue Niederflurstraßenbahnen angeschafft werden. Einziges Manko: es fehlt bisher die detaillierte Einbeziehung der Bürgerinnen und Bürger, also der Öffentlichkeit. Und: notwendig wird auch eine Verbreiterung der Senču iela um etwa 10 Meter. Symbolischer könnte der Name dieser Straße kaum sein: die "Straße der Vorfahren" führt nämlich durch das Areal des "Großen Friedhofs", der Hauptumstand, der Gegner auf den Plan ruft.
Schnell hatten sich im Internet die "Lielo-Kapi-draugi" (Freunde des Großen Friedhofs) zusammengeschlossen (Facebook), ein Protestschreiben an Regierung und Präsident wurden aufgesetzt, auf dem Abstimmungsportal "Mana Balss" (Meine Stimme) fand dieser Brief über 1600 Unterstützer gegen die "Friedhofs-Straßenbahn". Die Gegner zweifeln dabei die Behauptung der Planer an, die Totenruhe keines einzigen Grabes stören zu wollen, und bezeichnen das Gebiet als Ort an dem "viele Helden und große Geister Lettlands" beerdigt seien - also richte sich das Projekt gegen "Lettlands Identität und Geschichte". Am beeindruckendsten aber ist die Unterstützerliste der Gegner: Dainis Īvāns, Ex-Volksfront-Aktivist und Leitfigur der Unabhängigkeitsbewegung, Valters Nollendorfs, Leiter des Lettischen Okkupationsmuseums, weiterhin zahlreiche Schriftsteller, Journalisten, und Denkmalschützer; stolz wird auch die Unterschrift von Werner von Sengbusch vermeldet, als "Ur-Ur-Ur-Enkel eines Rigaer Bürgermeisters" gefeiert. Ja, neue "Atmoda-Identität", danach sehnen sich offenbar viele.
Allerdings muss wohl gesagt werden, dass 1600 Protestunterschriften noch nicht besonders viel sind: auf "Mana balss" bekamen andere Initiativen, wie etwa für kostenloses Mittagessen in Kindergärten, für steuerfreie Renten, die Direktwahl des Präsidenten, oder häufigere technische Überprüfungen bei PKWs jeweils mehr als das sechsfache davon.
Und auch die Straßenbahn-Ausbaufans machen mobil. Der Ortsteil Skanste bekam gleich so etwas wie eine neue "korporative Identität" verpasst: neues Logo, schicke neue Webseite.
Mit eigenen Karten und Zeichnungen versucht man aufzuzeigen, wie wenig die Straßenbahn die lettischen Helden stören wird: George Armitstead, auch ein früherer Bürgermeister, "liegt" noch am nächsten dran: 36,5 Meter. Zu den Gedenkstätten von Krišjānis Valdemārs und Krišjānis Barons seien es aber mehr als 400 Meter Entfernung (siehe Riga.lv). Die Proteste bezeichnen die Befürworter als "lettischen Halloween-Spuk". Bereits 2012 seien die Planungen für das Projekt angelaufen, mit öffentlichen Anhörungen 2013, im Rahmen der Entwicklung der nachhaltigen Strategie "Riga2030". 574 Eingaben habe es damals gegeben, 277 davon seien in die endgültige Planversion aufgenommen worden.
Rigas "Lieli Kapi" heute: fast wie ein Wald, mit Spuren und Resten von Gräbern hier und dort |
Weht nun auch in Riga - neben dem heftigen Schneefall, der inzwischen niederging - auch der leichte Hauch des postfaktischen Zeitalters? Manche mögen es so sehen. Es gibt auch kritische Bürgergruppen, die sich um einen Vergleich der Argumente beider Seiten bemühen (siehe "pilsēta cilvēkiem"). Für andere ist es nur einer von vielen Versuchen, dem russischstämmigen Bürgermeister und den ihn stützende Parteien - die im lettischen Parlament Teil der Opposition sind - endlich und endgültig eine schlechte Amtsführung nachweisen zu können: für den 3.Juni 2017 sind die nächsten Stadtratswahlen angesagt.
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