So sieht es der Karikaturist der Zeitung "Diena": das von Regierungs- chefin Straujuma mühsam konstruierte Gebäude der Postenverteilung könnte wieder ins Wanken kommen |
Posten und Ämter
Aber ist es denn schon vorbei? Der vorgesehen "Tag der Verkündigung" jedenfalls - eigentlich war dafür der vergangene Dienstag dieser Woche ausgerufen worden - wurde vorerst verschoben. Grund: die drei Möchtegern-Regierungsparteien können sich nicht auf die Verteilung der Ministerämter einigen. Was ist daran so kompliziert?
Es scheint sich also niemand zu scheuen, öffentlich Postengeschacher vorzuführen. Der in Deutschland so gern gebrauchte Satz in ähnlichen Situationen "erst reden wir über Inhalte, dann über Personen" gilt hier offensichtlich nicht.
Ich versuche einige andere Faktoren nachzuzeichnen.
Punkt 1 - der "falsche Hase"
Um überhaupt erstmal festzustellen, wer als Abgeordnete/r tatsächlich gewählt ist, muss die lettische Wahlkommission diesmal genau nachzählen. Durch die Möglichkeit jedes Wahlberechtigten, nach Belieben auf der Kandidatenliste der bevorzugten Partei Namen zu streichen oder hochzuwerten, ist eh schon viel Zeit nötig. Nun sind aber Vorwürfe des "Stimmenkaufs" aufgetaucht, und das hatte schon eine Konsequenz: Dzintars Zaķis (Zaķis = Hase), bisher Fraktionsvorsitzender der Regierungspartei "Vienotiba", ist bereits von diesem Posten zurückgetreten. In seinem Wahlbezirk gibt es zumindest sehr auffällige krasse Anstiege von Wählerstimmen, bis zu 10mal mehr als bisher. Das verwundert besonders dort, wo keiner sich mehr erinnern kann diesen Kandidaten überhaupt im Wahlkampf vor Ort gesehen zu haben. Inzwischen sind bereits sechs verschiedene staatsanwaltliche Untersuchungen wegen ähnlichen Vorwürfen eingeleitet worden, dazu kommen Beschwerden und Forderung einer Nachzählung in insgesamt acht Wahlbezirken in Riga, wo die GrüneBauernpartei sich ungerecht behandelt fühlt (Pressemeldung cvk).
Punkt 2 - unklare Rochaden
Die bisher einflussreichste Politikerin der "Vienotiba", Solvita Āboltiņa, wegen ihrer rot gefärbten Haare gelegentlich auch "rote Kardinalin" (oder auch "eiserne Kardinalin") genannt, fiel wegen zu großer Anzahl negativer Bewertung auf den Wahlzetteln in ihrem Wahlbezirk durch. Nun kann sich aber niemand vorstellen - offenbar auch ihre Gegner nicht - dass die bisherige Parlamentpräsidentin Āboltiņa einfach so "am Wegesrand liegen gelassen" wird. Zwei mögliche Auswege gibt es, die beide aber erst geklärt werden müssen: entweder einer der vor ihr auf der Liste Gewählten wird Minister, oder Ints Dālderis, von den Wählern statt Āboltiņa "nach vorn gewählt", könnte ins Büro des zukünftigen EU-Kommissars Dombrovskis wechseln. In beiden Fällen würde die ehrgeizige Āboltiņa, von der es heißt sie würde auch gern als zukünftige Präsidentin kandidieren, nachrücken und vielleicht auch Parlamentspräsidentin bleiben können.
Aber mit der Schwächung der "starken Figuren" in der Regierungspartei, der schon mit dem freiwilligen Abgang Dombrovskis eingeleitet wurde, ist der zunehmende innerparteiliche Konkurrenzkampf nicht zu übersehen. Ilze Viņķele, ein Mitglied des Parteivorstands, musste bereits ihre Absichten den Parteivorsitz von Āboltiņa übernehmen zu wollen, dementieren. Ihr "zur Zeit nicht" klingt aber sehr nach "Abwarten auf einen besseren Moment".
Punkt 3 - entweder der Mann mit dem Hut, oder die Leute mit dem Hakenkreuz
Ein wichtiger und gravierender Unterschied zur Regierungsbildung nach den Wahlen 2011 ist jetzt ja, dass damals ausdrücklich eine Regierung "ohne die Oligarchen" gebildet wurde. Erst der Niedergang von Zatlers Reformpartei und der Abgang Dombrovskis machte es notwendig, die "GrüneBauernliste" wieder dazuzunehmen - hinter der Aivars Lembergs als "Großsponsor" steht, bekannt durch sein selbst konstruiertes riesiges Geflecht vieler undurchsichtiger Finanzgeschäfte. Dazu dann Laimdota Straujuma, die lange Jahre Mitglied der "Tautas Partija" war, hinter der mit Andris Šķēle ein weiterer der "Oligarchen" stand. Erst rückte Straujuma parteilos (da sich die "Tautas Partija" aufgelöst hatte) ins Ministeramt, dann aus der dritten Reihe an die Stelle Dombrovskis. Nun also ihre erste, eigene Regierungsbildung: mit einer wesentlich wiedererstarkten "Grüne-Bauernliste" an der einen Seite und mit ebenfalls starken Nationalisten an der anderen. Das sind grundlegende andere Voraussetzungen als 2011, als "Vienotiba" die Leitsätze der Politik vorgeben konnte. Straujuma versucht nun von der auch internationalen Reputation der "Vienotiba" zu retten was zu retten ist: wenigstens sollen auch in Zukunft keiner der zukünftigen Minister an den jährlichen Aufmärschen zum "Gedenken" an die Bildung der lettischen SS-Einheiten am 16.März teilnehmen dürfen (der Grund zum Rücktritt eines Ministers der nationalen Liste im März 2014, gerade frisch ernannt).
Punkt 4 - neue Koalitionsmöglichkeiten
Nein, nicht die "Saskaņa" mit ihrem ambitionierten "Spitzenkandidat" Ušakovs ist hier gemeint - die müssen weiter vom selbstgebauten Wunsch-Image leben, die Partei sei gleichzusetzen mit "benachteiligten Russen" und daher "automatisch" ausgegrenzt (Mitleidseffekt im Ausland, mindestens). Aber sowohl die ehemalige Chefin des lettischen Rechnungshofs, Inguna Sudraba ("no sirds Latvijai" - "Von Herzen für Lettland"), wie auch der ehemalige Büroleiter von Ex-Präsidentin Vaira Vīķe-Freiberga, Ex-Basketballer Mārtiņš Bondars ("Latvijas Reģionu apvienība" - "Verband der Regionen Lettlands"), beide könnten von ihrem politischen Programm her auch Regierungspartner sein. Würde aber auch nur eine der Parteien hinzugeholt könnte die Gefahr bestehen dass die schon angedeuteten Gegensätze innerhalb der Straujuma-Partei "Vienotiba", die ja selbst auch erst aus dem Zusammenschluß verschiedenen kleinen Parteien entstanden ist, sich verstärken könnten. Wäre Sudraba die Partnerin, könnte die Überlegung entstehen: "Brauchen wir denn die Nationalisten wirklich noch, denen offenbar die SS-Gedenkfeiern wichtiger als die Regierungsarbeit sind?"
Fiele die Wahl dagegen zugunsten der Regionalpartei LRA, dann stünde sie erstens in Konkurrenz zur GrünenBauernliste, die ihre Stärke ebenfalls eher in den Regionen hat und vorgibt, vor allem für die Menschen auf dem Lande Politik zu machen. Und zweitens entsteht dann angesichts der Tatsache, dass Parteichef Bondars früher auch mal Mitglied bei der "Tevzemei" (Vaterlandspartei) war die Frage, ob sich diese beiden Parteien dann vielleicht zu einer gemeinsamen Liste entwickeln und Gegner einer zu starken Übertreibung des nationalistischen Ansatzes es dann noch schwerer hätten.
Die "lieben Kollegen"
So betonen dann lieber alle drei bisherigen Koalitionspartner, wie "gern" sie doch alle zusammenarbeiten. Das würde aber nur dann "wie gewohnt" funktionieren, wenn alle ihre jeweiligen Ministerämter behalten können - ein Verfahren, was durch den Wegfall der ehemaligen Vertreter der nahezu untergegangenen "Reformpartei" nicht möglich ist. So will zum Beispiel das Gesundheitsministerium angesichts der vielen bevorstehenden schwierigen Fragen offenbar niemand besetzen, während die "GrünenBauern" gern den "Nationalen" das Umwelt- und Regionalministerium wieder entreissen würden.
Aber auch die drei für die Oppositionsrolle vorgesehenen Parteien reden miteinander, und verkünden dann - wohl um den Druck auf die laufenden Verhandlungen zu erhöhen - ihre Gesprächsergebnisse laut und gern der Presse.
Die Regionale Allianz (LRA) hat sich angeblich sogar mit der oppositionellen "Saskaņa" in drei Punkten auf eine Zusammenarbeit geeinigt: beide Parteien sind dafür, künftig den Präsidenten vom Volk wählen zu lassen, sie stimmen überein einen größeren Anteil der Steuereinnahmen den Gemeinden zufließen zu lassen, und darin, zum Supermarkteinsturz von Zolitūde einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss einzusetzen.
Auch Inguna Sudraba, Parteichefin der zweiten Neulingspartei im Parlament, hat sich schon mit der oppositionellen "Saskaņa" an einen Tisch gesetzt, nachdem Versuche mit den drei Regierungsparteien in ersthafte Gespräche zu kommen, offenbar scheiterten. Hier wird zum Beispiel der Vorschlag als Gemeinsamkeit benannt, eine Senkung von Steuern auf gesundheitsfördernde Lebensmittel vornehmen zu wollen.
"Mein Gewissen ist rein, aber gegen mich und gegen Vienotiba wurde eine riesige Schmutzkampagne inszeniert!" so offenbart sie in einem Interview bei der "Neatkariga" typische Politiker-Reflexe. Lato Lapsa, ein Journalist, bekannt dafür bald schon alle bekannten und erfolgreichen lettischen Politiker einzeln journalistisch aufs Korn genommen zu haben, hatte vor der Wahl eine "Sonderausgabe" einer selbst produzierten Zeitung mit dem Thema "Āboltiņa" aufgemacht.
Zur Kritik an angeblich häufigen Dienstreisen äussert sie (Auslandsreisen von Politikern gelten in der lettischen Öffentlichkeit häufig als vorgeschobener Grund, statt Arbeit zu Hause lieber eine schöne Zeit fern den lettischen Wählern zu verbringen): "Teilnahme an Konferenzen ist eine schwere Arbeit, das wissen alle die sich damit beschäftigen." (NRA)
Lato Lapsa will 25.000 Euro von einem "Straujuma-Block" innerhalb Vienotiba bekommen haben für eine Āboltiņa-kritische Wahlkampfzeitung. Bisher hat die Partei den Journalisten noch nicht verklagt. Am 6.Dezember ist "Vienotiba"-Parteikongress, bis dahin werden Entscheidungen fallen müssen.
Tendenzen, Zahlen, Trends
Eine andere Tendenz ist klar erkennbar: ins neue Parlament werden wesentlich weniger Frauen einziehen als bisher.
Andere Beoachter betonen, dass noch nie eine so hohe Prozentzahl der Wahlberechtigten auch eine Vertretung im Parlament bekommen habe: nur weniger als 5% haben ihre Stimmen Parteien gegeben, die nicht im Parlament vertreten sein werden (das waren auch schon mal 16%!).
Eine andere Rekordzahl: 23.116 Wählerinnen und Wähler haben ihre Stimmen in einer Botschaft oder einem Konsulat im Ausland abgegeben - 2011 waren es noch 14.210, allerdings beim Referendum als es um Russisch als mögliche zweite Amtssprache ging waren es auch schon mal 40.000. In Deutschland stimmten 1680 Lettinnen und Letten ab (das war nach Großbritannien mit 7205 in Europa die meisten, in USA 2231).
Die Wahlauszählung in München wurde offenbar um Stunden verzögert, da hier kein Internet-Zugang verfügbar gewesen sei und die Ergebnisse auf anderem Wege übermittelt werden mussten (Bayern = Entwicklungsland?).
Für alle wählbar sein wollen - oder "allein in der Hundehütte"?
Und noch ein Wort auch zur "harmonischen" Saskaņa: die Gesamtzahl der Wahlberechtigten, die ihr die Stimme gaben, sank um nicht weniger als ein Fünftel - auch wenn knapp noch die meisten Mandate aller Parteien dabei herauskamen. Der Rückgang belief sich auf alle Bezirke: in Latgale um -31%, Riga -5%, zwei ihrer bisherigen "Hochburgen". Laut Untersuchungen der Agentur "Latvijas Fakti" sollen die Stimmen pro Saskana diesmal zu 20% von Lettinnen und Letten gekommen sein, beim vorigen mal seien es nur 10% gewesen. Ethnische Russen, befragt danach, welche Partei ihrer Meinung nach am ehesten die Interessen der Russischsprachigen berücksichtigt, antworten zu 2-3% "die Nationale Liste", 5-9% "Vienotiba", 10% äußern sich zugunsten der GrüneBauernListe.
Fällt in Lettland offenbar (noch) nicht unter ein Gesetz der (strafbaren) Verunglimpfung von staatlichen Symbolen: Logo der "Suņu būda" |
Auch der "Faktor Internet" spielte im lettischen Wahlkampf eine Rolle. Artuss Kaimiņš, eigentlich Schauspieler, wurde durch seine schlicht bei Youtube im Internet eingespielten Sendungen mit dem Titel "Suņu būda" ("Hundehütte") bekannt und erreicht Zugriffszahlen bis zu 30.000 pro Sendung. Markenzeichen ist bisher, sich an möglichst wenig Regeln zu halten, Studiogäste eher zu kritisieren, offen zu "verarschen" oder gar durch heimliche Aufnahmen bloß zu stellen, und dies als Markenzeichen einer "offenen, ehrlichen und direkten Sprache" zu verkaufen, mit Hilfe von Sponsoren aus dem Bereich der Alkoholindustrie, die ja anderswo Einschränkungen der Werbemöglichkeiten hinnehmen müssen. Abzuwarten bleibt was nun passiert, wenn Kaimiņš zum Parlamentarier wird. Er kandidierte auf einem hinteren Rang der Regionalpartei LRA, und wurde mit der Rekordzahl von 71,9% der Wähler dieser Partei nach ganz vorn gespült (erzielt damit mehr "Pluszeichen" als 2011 Valdis Dombrovskis, den als Regierungschef damals 71,7% seiner Wähler besonders hervorhoben). So entstand bei der LRA die kuriose Situation, dass offenbar viele bis auf die beiden Namen "Bondars" und "Kaimiņš" auf der gewählten Liste alle anderen Namen strichen - also die übrigen NRA-Abgeordneten von den eigenen Wählern mehr Minus- als Plus-Zeichen bekamen.
Für die nächsten Monate hat Regierungschefin Straujuma eines bereits klarzustellen versucht: sie möchte nicht während der lettischen EU-Ratspräsidentschaft (erste Jahreshäfte 2015) über Ministerrücktritte diskutieren müssen - wenigstens das. Regierungsbildung? Alles wie gewohnt, Frau Straujuma - also dann!
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen