Jagd nach dem migrierenden Wähler: 99 Wahllokale in 42 Staaten hat das lettische Außenministerium einrichten lassen |
Für den laufenden Wahlkampf (Parlamentswahlen am 4.Oktober) gelten einige Besonderheiten. Vor allem haben sie mit dem starken Engagement Russlands in der Ukraine zu tun, die vom Westen - analog zu der nun an die Macht gekommenen ukrainischen Regierung - als Einmischung verstanden wird.
Strategien und Rochaden
Jedenfalls ist auf lettischer Seite ähnliche Nervosität zu spüren wie vor dem Referendum vom 18.Februar 2012, als es darum ging, mit möglichst eindrucksvoller Mehrheit für längere Zeit die Möglichkeit auszuschließen, dass Russisch wieder zur zweiten Amtssprache werden könnte. 79,2% Lettinnen und Letten, die eine Wahlurne im Ausland aufsuchten, sprachen sich dagegen aus. - Aus Sicht der Anhänger der gegenwärtigen Regierungsparteien war dies sicherlich einer der drei wichtigsten politischen Schritte der vergangenen Jahre. Es steht in einer Reihe zusammen mit der Zurückweisung der sogenannten "Oligarchenparteien" im Zusammenhang mit den von Ex-Präsident Zatlers veranlassten außerordentlichen Neuwahlen 2011, die für sämtliche der von Ainārs Šlesers, Aigārs Lembergs und Andris Šķēle unterstützten und finanzierten Parteien negativ ausgingen und eine Regierung ohne sie gebildet werden konnte. "Sparfuchs" und Europa-Vorbild Dombrovskis schien unbeirrbar Kurs zu halten - auch wenn davon immer noch wenige Lettinnen und Letten so profitieren, dass sie sich ein Auskommen erarbeiten können und sozial besser abgesichert wären. Dann kam der Supermarkt-Einsturz von Zolitude. Und ob diese Rochade - Dombrovskis nimmt seinen Hut, verabschiedet sich aber als EP-Abgeordneter nach Brüssel - Erfolg haben wird, ist äusserst unsicher. Zwar gelang es in ungewöhnlicher Weise, bei den Europawahlen gleich 46,19% der Wählerstimmen auf die Regierungspartei "Vienotiba" (Einigkeit) zu vereinen und vier der acht lettischen Sitze im Europaparlament zu sichern - aber bei einer Wahlbeteiligung von nur sehr knapp über 30% ist das alles andere als ein sanftes Ruhekissen, und auch kein Ruhmesblatt. So muss sich die "reinroutierte" neue Ministerpräsidentin Laimdota Straujuma im laufenden Wahlkampf immer wieder fragen lassen, ob sie denn wirklich für den Posten der Ministerpräsidentin auch für eine neu zu bildende Regierung zur Verfügung stehen wird. Vieles, was an Themen im aktuellen Wahlkampf eine Rolle spielt, wird - wie in alten Zeiten der frisch errungenen Unabhängigkeit in den 90er Jahren - nur unter dem Gesichtspunkt einer möglichen Strategie einer Einflußnahme Moskaus gesehen.
Grabenkämpfe
So sieht es zunächst also wiedermal nach einem Wahlkampf der "zwei Lager" aus. Auf der einen Seite die gegenwärtigen (größtenteils lettisch orientierten) Regierungsparteien - "Vienotiba" (Einigkeit), "Liste der Grünen und Bauern" und die Nationalisten. Auf der anderen Seite die "Saskana" (Einklang) mit "Frontmann" und Bürgermeister Nils Ušakovs, dazu als Konkurrent um die Stimmen der russophilen Russischsprachigen die "Krievu Savieniba" ("Russische Vereinigung") - zwar mit neuem, sachlich klingendem Namen ausgestattet, aber immer noch mit der aus glorrreichen Sowjetzeiten rübergeretteten "ewigen Tatjana" (Zdanoka) als Retterin der Krim und der lettischen Unterstützung für Groß-Russland. Gibt es denn wirklich (auf der einen Seite) keine lettischen Sozialdemokraten und (auf der anderen Seite) keine konservativen, demokratisch an einem freien Lettland orientierten Russen? Offenbar zu wenige, um sich im Parteiensystem entscheidend bemerkbar zu machen.
"Kleinstparteien diskreditieren ernsthafte Politik und verschärfen die Skepsis der Gesellschaft gegenüber der Politik als solche" (Māra Zālīte, Schriftstellerin, in einer Wahlkampfzeitung). Auch für Nichtwähler hat die einstige Führungsfigur der Unabhängigkeitsbewegung wenig übrig: "Die Unabhängigkeit haben wir mit unserem Schweiss und Blut erkämpft. Jetzt nicht wählen zu gehen, das ist wie ein Verbrechen gegen den eigenen Staat!"
Die einzige (der kleineren und neu gegründeten) Parteien, die gemäß den neuesten Umfragen den Sprung ins Parlament schaffen kann - Ex-Rechnungshofchefin Inguna Sudraba mit ihrer Partei "von Herzen für Lettland" (nun ja, prosaische Namen haben sie fast alle ...), wird dem entsprechend heftig angegriffen. Für die bisherigen Spitzenpolitiker ist sie unangenehm - aus einer für unbestechlich gehaltenen, unabhängigen, energischen Frau mit eigener Meinung wird so schnell eine politische Gegnerin, für die kein gestreutes Gerücht zu schade zu sein scheint, um ihr heimliche Kontakte nach Russland zu unterstellen. Dennoch liegt "die Silberne" (sudrabs = lett. silber) in Umfragen stabil über 5%.
Immerhin zeigen sich vier Tage vor den Wahlen immer noch etwa 15% in Umfragen als unentschlossen. Dazu gibt es Berichte, dass Befragte absichtlich nicht die Partei ihrer Wahl angeben, um sich nicht politisch festlegen zu müssen - das birgt große Chancen für einige Überraschungen am Wahltag.
Blick aus dem Westen
Wie erwähnt - gegenwärtig sind es erstaunlich viele Berichte deutschsprachiger Medien schon im Vorfeld der lettischen Parlamentswahlen. Fast alle nehmen dabei den Faktor der russischsprachigen Minderheit in Lettland als Grund für die Berichte. "Zum Glück sind wir Mitglied in EU und NATO" zitierte das ARD-Europamagazin lettische Quellen, um dann über junge Männer aus dem Osten Lettlands zu berichten, die sich den Pro-russischen Verbänden in der Ukraine angeschlossen haben und damit daheim zweifelhafte Berühmtheit erlangten. Und auch die Anwesenheit einer deutschen Fernsehkamera bei einer lettischen Debatte unter Lokalpolitikern dürfte bisher einmalig für deutsche Fernsehzuschauer sein (plus Interviews mit Vertretern verschiedener Parteien).
Harmlos unbedarft dagegen der ZDF-Bericht vom 5.9. in "Heute in Europa", wo EP-Parlamentarierin Zdanoka, damals wahrscheinlich frisch zurück von ihrer Unterstützerreise für eine russische Krim, hier wie zufällig als entschiedene Verteidigerin benachteiligter lettischer Russen vorgestellt wird.
Im WDR-Hörfunk werden sogar noch zusätzliche Legenden geknüpft - offenbar passt es gerade gut. Nachdem (fast bedauernd!) festgestellt wird, für die Letten stünden "EU, NATO und Euro" für Sicherheit, wird gleich anschließend behauptet: "Die russische Minderheit jedoch – immerhin ein Drittel der Bevölkerung – sieht das ganz anders." Offenbar sind die deutschen Kommentatorinnen hier den eingeschliffenen Phrasen derjenigen Parteifunktionäre auf den Leim gegangen, die auch immer gern "die Russen" als monolithischen Block sehen würden, mit nur einer einheitlichen Meinung. Zum Glück ist die Realität anders, wie man sich leicht denken kann.
Auch die "Tiroler Tageszeitung" mag nicht nachstehen und bietet mehr: eine Liste der "wichtigsten lettischen Parteien", erstmals fast alle dreizehn Listen. Und hält es zudem eine Schlagzeile wert, dass nun doch Alt-Oligarch Lembergs gerne Regierungschef werden möchte. Erstaunliche Details! Die "Berliner Morgenpost" konstatiert "alte Wunden" und fokussiert auf die Möglichkeit, Putin könnte Lettland nach dem "Modell Ukraine" gestalten wollen. Sogar die Computerfreunde von "Heise.de" meinen eine "Ukraine in Klein" in Lettland zu erkennen, und auch die "Neue Züricher" sieht "Schatten der Ukraine" über Lettland. Dagegen schreibt der sonst ausführlicher berichtende "Standard" etwas hektisch "russischsprachige Partei in Umfragen vorn" - und unterstellt damit, im lettischen Parlament würde nicht von allen lettisch gesprochen werden.
Irgendwie kommt mir - und wahrscheinlich nicht nur mir - diese plötzliche Aufmerksamkeit nicht ganz geheuer vor. Aber zumindest bis zur Bekanntgabe des Wahlergebnisses wird das Interesse ja vielleicht reichen - und die Ukraine ist ja auch noch nicht raus aus der Krise. Leider.
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