24. Januar 2014

Lettischer Bücherwurm

"Tu un tagad!" Wörtlich übersetzt klang es fast wie im Befehlston, wenn Riga zu "Du und jetzt!" aufrief. Gemeint war der Auftakt zum Kulturhauptstadtsjahr 2014.

Der Aufruf galt vor allem den Lettinnen und Letten selbst. Denn der Jahresanfang 2014 war nicht automatisch Garant für gute Stimmungslage. Manche meinten eine Kette unglücklicher Vorzeichen zu sehen: vom Brand wertvoller Teile des Rigaer Schlosses im Sommer, über den Streit ums Personal in der Kulturpolitik, den erzwungenen Rücktritt von Kulturministerin Jaunzeme-Grende (siehe Beitrag). Dann das Unglück um den Supermarkt-Einsturz im Stadtteil Zolitude. Und bringt die Euro-Einführung denn anderes als Preiserhöhungen? Müssen nicht sowieso schon genug Lettinnen und Letten ins Ausland fahren, um dort Jobs zu finden die für den Lebensunterhalt ausreichend sind? Genug Gründe, warum Optimismus Anfang 2014 kein Automatismus war.

Bestimmte die Bilder des Eröffnungswochenendes:
die "Kette der Bücherfreunde" zwischen dem
alten und dem neuen Gebäude der lettischen
Nationalbibliothek

Vielleicht war es gerade diese Spannung, die in der Luft lag, die das Mitmach-Event der Bücherkette ("Grāmatu draugu ķēde") so herausragend machte - da geriet selbst die Euro-Einführung in den Hintergrund. "Offiziell" hatten 14.000 Menschen ihre Teilnahme zugesagt: per Email, Anruf oder persönlichem Erscheinen in einem der Organisationsbüros. "Von Mensch zu Mensch" wurden einige Tausend Bücher weitergereicht, sicher eingepackt in Plastik, von der alten in die neue Bibliotheks-Hauptstelle.
Eigentlich sollten "Standzeiten" von etwa 30 Minuten pro Person zugeteilt werden, aber soweit kam es gar nicht. Das lag einerseits daran, dass die Organisatoren nicht etwa Namenslisten und Einsatzzeiten der freiwilligen Helfer bereithielten, sondern erst bei Eintreffen der Interessierten anfingen, Bedarf und Ansturm unter einen Hut zu bringen.
Bei minus 12 Grad auf offener Straße
über Bücher diskutieren - für Lettinnen
und Letten aller Altersstufen offenbar
eine willkommene Aktivität
Andererseits wurde schnell nachdem die ersten Bücher aus dem alten Bibliotheksgebäude heraus den wartenden "Kettenmitgliedern" übergeben worden waren klar, dass es weitaus länger dauern würde, bis so ein Buch die (irgendwann einmal ermittelte Strecke von angeblich genau 2014 Metern) bis auf die andere Seite der Daugava schaffen würde. "Ach, mein altes Schulbuch!" "Oh, ein Buch über Riga!" "Sieh mal, das habe ich in meiner Kindheit gelesen!" - das Volk hatte Diskussionsbedarf. Oder wollte man sich nur davon überzeugen, dass wirklich und tatsächlich Bücher ins neu gebaute, 68m hohe 13stöckige "Schloß des Lichts" (Gaismas pils) gelangen würden - und nicht etwa nur noch Virtuelles künftig dem Lesefreund bereitgehalten wird?

Kette der Bücherfreunde - zweite Etage ...
Es zeigte sich, dass nicht nur ganze Familien (von Opa und Opa bis zu den Kleinsten) teilnahmen, sondern auch Gruppen von Studierenden (im Werbe-TShirt ihres Studienzweigs), Polizei und Militär, Betriebsgruppen, Freundeskreise, und vereinzelt auch sich um Volksnähe bemühende Politiker. Mindestens den Buchtitel schien nun jeder beim Weiterreichen lesen zu wollen - ein Buch ist eben doch kein beliebiger Gegenstand! Schließlich war kostenloser heißer Tee von Sponsoren bereit gestellt worden, und über die überall aufgestellten Lautsprechern erklangen bekannte Melodien, nach denen es sich beim Warten aufs nächste Buch oder auf die persönliche Einsatzzeit wunderbar bewegen und auf den Straßen tanzen ließ.

Und schließlich das Erstaunen derjenigen, die ins neue Gebäude selbst (in überschaubaren Besuchergruppen eingeteilt) vorgelassen wurden. Freude, ein wenig Erfurcht, und auch Ergriffenheit war in den Gesichtern abzulesen - ein pathetischer Moment, wie es sich die Betreiber eines solchen Kulturtempels nur wünschen konnten.

Ja, allein die Baukosten stiegen von 200 auf mehr als 300 Millionen Euro - sehr viel, verglichen mit den vielen Notwendigkeiten eines lettischen Sparhaushalts, der den meisten Arbeiter und Angestellten während der Wirtschaftskrise kurzfristig beträchtliche Lohnkürzungen zumutete. 6 Millionen Euro beträgt allein die Anschaffungssumme für die Möblierung der Biliothek. Die Eröffnungsaktion der "Bücherkette" jedoch wird allen die dabei waren uneingeschränkt positiv in Erinnerung bleiben.

Ungewöhnliches deutsches Medieninteresse
an Lettland: "What makes Riga so special?"
Wie in der lettischen Öffentlichkeit, so geriet die Bücherfreundekette auch in den deutschen Medien zum Hauptthema. Ja, es gab auch noch eine Wagner-Oper, das Thema 1914 (100 Jahre Ausbruch 1.Weltkrieg) und eine Bernsteinausstellung am Eröffnungswochenende - aber neben einem Festival von Feuerskulpturen (der wärmenden Feuer wegen?) und einer musikalisch untermalte Aktion in den Rigaer Markthallen wurde vor allem die Bücheraktion für die verschiedenen deutschen Fernsehkameras für sendetauglich erklärt. Die Devise der angereisten deutschen medialen Berichterstatter war diesmal offenbar: lassen wir uns an die Hand nehmen! So reüssierte der MDR mit der Schriftstellerin Dace Rukšane (die auch an ARD und Tagessspiegel weitergereicht wurde, und spontan gleich zu "Lettlands bekannteste Schriftstellerin" erklärt wurde - auch diese Redakteure sollten vielleicht mal mehr als ein Buch lesen!), der NDR mit Sängerin Māra Upmane-Holšteine, und "hej-då-Udo Biss" vom NDR Ostseemagazin mit der Tourismusexpertin Aija van-der-Steina. Ach ja, und Kabel 1 mit Anete Jurcika. Na, hoffentlich wird damit auch die Nachhaltigkeit der deutschen Berichterstattung zu Lettland verbessert - der im Vergleich zu sonst gewöhnlich berichteten Oberflächlichkeiten nötige Rechercheaufwand war erkennbar. Weiter so!

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