31. März 2011

Von lettischen Riesen

Die digitalen Archive wachsen - und mit ihnen die Möglichkeit, online Dokumente zu finden, zu lesen und zu vergleichen. Auch die Staats- und Universitätsbibliotek Bremen eröffnete jetzt ein neues digitales Angebot. 
Die Archive norddeutscher Sammlungen bergen offenbar Überraschungen. Oder wer hätte erwartet, dass norddeutsche Großmütter ihre Enkel beim Geschichten-Erzählen mit einem "guten Riesen aus Lettland" trösten? 

Dieser sagenhafte "lettische Riese" soll seine guten Werke unter anderem im niedersächsischen Stolzenau (Kreis Nienburg) getan haben. So erzählt es die jetzt digital zugänglich gemachte Zeitschrift "der Aufbau" (Bürger und Stadt, Ausgabe Dezember 1967). Wo doch in Lettland selbst die Katholiken eher in der Minderheit sind, soll laut dieser Sage der Retter für den eingerosteten Wetterhahn ausgerechnet aus Lettland gekommen sein. Zitat: "In seiner Not wandte sich der Bürgermeister an einen Riesen namens Milsis, der einige Jahre zuvor aus Lettland gekommen war und sich im Wesergebirge niedergelassen hatte."

Also ein früher Wanderarbeiter aus dem Baltischen? Neben seiner Gutmütigkeit ("er klopfte erst bei den Bauern an, bevor er ihnen ein Stück Vieh wegnahm um es aufzufressen") habe er "mehr Kraft als Verstand" gehabt. Die Aufgabe, den verrosteten Wetterhahn auf dem Kirchturm zu lösen habe er in der Form bewältigt, dass er den gesamten Kirchturm gedreht zurückgelassen habe. 

Als einer von nur 16 gedrehten Kirchtürmen in Deutschland gilt derjenige von Stolzenau - soweit die heutige Realität. Realität ist weiterhin, dass "milzis" (gesprochen "milsis") oder "milzenis" Lettisch das Wort für "Riese" ist. Eine Sage also, die in jedem Fall ihre Spuren in Norddeutschland hinterlassen hat - selbst wenn es auch die Gemeinde Stolzenau ab dem 1.November 2011 nicht mehr geben wird - sie soll mit einigen anderen zur "Samtgemeinde Mittelweser" zusammengelegt werden. 

die Darstellung des Riesen Mils in
einem Gemälde von Hugo Reinhart
Ob allerdings dieser "Milzis" irgend etwas zu tun hatte mit anderen Sagen rund um die Milseburg (Rhön) und den dort erwähnten Riesen "Mils" muss vorerst unklar bleiben. Mils benahm sich offenbar in der Rhön wesentlich mehr "typisch lettisch" als sein "Kollege" weiter nördlich. Zitat: "er erschwerte den Glaubensboten, die vom heiligen Gangolf angeführt wurden, ihre Bekehrungsarbeit, und bekämpfte diese" (die Milsenburg soll, der Sage nach, das Grab darstellen dass der Riese dann in Einsicht in die Ausweglosigkeit seines Tuns für sich selbst aufwarf - siehe Rhoenlexikon). Dies nahm der Rhöner Maler Hugo Reinhart zum Anlaß, Mils auch bildlich sich vorzustellen (siehe Gemälde, eine Abbildung entnommen von der Webseite von Herrn Reinhart)

Ob in der heutigen Zeit tatkräftige Letten märchenhafte Taten vollbringen - und ob sie eher für gutmütige oder für lästige Zeitgenossen gehalten werden - ich überlasse es für diesen Moment der Fantasie derjenigen, die von der Faszination alt hergebrachten Erzählens zehren.

16. März 2011

Murmeltiertag

Warum muss es in Lettland eigentlich einen speziellen Tag geben, an dem öffentlich denjenigen gedacht wird, die sich zu Zeiten nazideutscher Besetzung die SS-Uniformen angezogen haben? Oder: taugt dieser Tag etwa besonders gut für öffentlich zur Schau getragenen Anti-Faschismus? Wird das immer so weitergehen?
"Wir lassen uns den Besuch des Freiheitsdenkmals nicht verbieten" tönte es durch die lettischsprachigen Internetforen im Vorfeld zum 16.März. Wie in den letzten Jahren auch wogt der Gerichtsstreit hin und her: Genehmigung von Demonstrationen, Gedenkmärschen und Kundgebungen, Widerruf, Klage, Verbot von Demonstrationen, Erlaubnis. Für meinen Teil muss ich sagen: ich habe mir dieses "Ereignis" einige Male angesehen und kann nicht erkennen, dass es den Beteiligten oder gar Lettland besonders zur Ehre gereichen würde.

Da wirken auch die Verlautbarungen lettischer Politiker/innen meist eher seltsam. Innenministerin Linda Mūrniece - selbst nur noch auf Abruf im Amt und vorläufig vom eigenen Rücktritt zurückgetreten - empfahl öffentlich, heute das Freiheitsdenkmal nicht aufzusuchen - sowas dient national Gesinnten (keineswegs nur Extremisten) als Steilvorlage in ihrem Misstrauen gegen die amtierenden Regierungen (ähnlich passierte es auch schon Ex-Präsidentin Vīķe-Freiberga).
Auf der anderen Seite erscheint es ausländischen Beobachtern erstaunlich, dass in zeitlicher Nähe zum 16.März regelmäßig die Grenzkontrollen verstärkt werden. Denn die seltene Gelegenheit, mit allerlei Losungen und Slogans "im Protest gegen die Faschisten" auf der "guten" Seite zu stehen, lässt allerlei bunte Gruppierungen ebenso murmeltierartig wieder auferstehen und sich sammeln - am besten in fotografiertauglicher Nähe zu den alten lettischen Veteranen. Die Notwendigkeit, auch gegen Anfänge des Nazismus oder Faschismus sich wehren zu wollen, sei hierbei nicht bestritten. Aber viele - in thematischer Nähe zum Sowjetischen "Siegestag" des 9.Mai - tragen hier Litaneien der "Abrechnung" mit Lettland vor sich her, die weder ein Bekenntnis zu Demokratie und Rechtstaat darstellen noch eine bessere Form der Aufarbeitung geschichtlicher Ereignisse.

Nun denn: es ist angerichtet! Die Folgen des regierungsamtlichen Fehlers, Ende der 90er Jahre kurzzeitig die Ausrufung dieses Tages als "nationaler Feiertag" geduldet oder mit hervorgerufen zu haben, sind offenbar noch nicht beseitigt. Zur Hebung des nationalen Stolzes taugt dieser Tag allerdings ebenfalls kaum - diejenigen, die das glauben, behaupten dies wohl in Ermangelung an Erfahrung, was Schande und Blamage bedeuten können. Und das gilt besonders für diejenigen, die so viel Wert legen darauf zu behaupten, in die SS-Einheiten damals hineingezwungen worden zu sein.

12. März 2011

Wer zieht ein in die Rigaer Burg?

In den letzen Wochen und Monaten wurde die Frage nach der Besetzung des Präsidentenamtes wenig gestellt, weil eigentlich alle Beobachter von der Wiederwahl des Amtsinhabers ausgingen – auch aus der Politik war nichts Gegenteiliges zu hören. Dabei sei daran erinnert, daß in Lettland das Parlament den Präsidenten mit absoluter Mehrheit wählt.

Der vermutung einer Wiederwahl stand zunächst kein Argument entgegen. Daß Amtsinhaber Valdis Zatlers sich nach Anfangschwierigkeiten im Amt “gemacht” hat, wird allgemein anerkannt. Dabei gehört es zur Ironie der Geschichte, daß der 2007 plötzlich als Überraschung von der Regierungskoalition aus dem Hut gezauberte Orthopäde nach seiner politisch durchaus aktiven Vorgängerin von den Mächtigen wohl gerade als jemand favorisiert wurde, der sich eben nicht in den politischen Alltag einmischt. Doch kurz nach seiner Wahl im Frühjahr wurden die Auswirkungen der Finanzkrise im land spürbar, im Herbst demonstrierten die Menschen erstmals seit der Umbruchphase vor 20 Jahren in Massen und Regierungschef Kalvītis trat zurück. Seither ist der Präsident alles andere als zurückhaltend gewesen.

Und nun hat es den Anschein, als würde die Politik hinter den Kulissen doch eine andere Sprache sprechen. Kommt noch hinzu, daß die Regierungskoalition erst kürzlich bei der Neubestellung des Ombudsmannes keinen gemeinsamen Kandidaten auzustellen in der Lage war. Welche politische Kraft hat also welches Interesse und vor allem welche potentielle Kandidaten, die im Gegenteil zum genannten Job in die Rigaer Burg überhaupt einzuziehen bereit sind.
Auch Valdis Zatlers hat sich einstweilen bedeckt gehalten, wobei allgeimein davon ausgegangen wird, daß er wohl gerne wieder kandidieren würde. Das aber wird er sicher nur verkünden, wenn sein Sieg so gut wie sicher ist, denn wie sähe eine Niederlage bei der Wiederwahl in einer indirekten Wahl aus? Beobachter vermuten, daß sich nun die Parteien mit der Nominierung eines Kandidaten bis zum letzten Moment Zeit lassen werden. Da der Amtsinhaber dies schwerlich tun kann, sinken damit Zatlers Chancen deutlich. Erklärt er sich aus dem genannten Grund nicht rechtzeitig, wirkt es ebenso komisch, den Hut in den Ring zu werfen, WENN plötzlich jemand nominiert ist.

Die größte Regierungspartei, die Einigkeit, plant unter Federführung der Parlamentspräsidentin Solvita Āboltiņa die Bildung einer Kommission, welche mögliche Kandidaten bewerten soll. Einstweilen sind aber sogar die Mitglieder dieser Kommission noch ihr Geheimnis. Genannt warden immer wieder Namen wie die Leiterin des Rechnungshofes, Inguna Sudraba, Europakommissar Andris Piebalgs oder auch der Europarichter Egils Levits. Aber Sudraba hat mehrfach den Gang in die Politik abgelehnt und bei Piebalgs und Levits stellte sich die Frage, ob sie bereits sind, sich in die Niederungen der lettischen Politik zu begeben. Einerseits ist das Präsidenteamt in Lettland repräsentativ gedacht, aber die Zwischenkriegsverfassung gibt dem Amt viel mehr Möglichkeiten, als in anderen parlamentarischen Republiken bekannt.

11. März 2011

Die ganz andere politische Bedeutung des ÖP(N)V

Die baltischen Staaten sind dünn besiedelt und kommen auf eine Bevölkerungsdichte von ungefähr 35 Einwohnern pro Quadratkilometer. Gewiß, die meisten Menschen leben in den Städten, aber gerade in Estland und Lettland mit den historischen Einzelgehöften leben manche Menschen so abgelegen, daß es bis zu ihnen von der Landstraße noch mehrere Kilometer zu Fuß sind. Wer kein Auto hat, ist darauf angewiesen, daß auf dieser kilometerweit entfernten Straße ab und zu einmal etwas fährt, daß einen zum nächsten Geschäft, Post oder Arzt, einfach in ein Dorf oder eine kleine Stadt bringt – aber nicht nur das, natürlich auch zum nächsten Wahllokal.

Wenn also die Wahlbeteiligung niedrig ist, dann stellt sich nicht nur die sozialwissenschaftliche Frage, ob die Leute von der Politik enttäuscht sind, und sich für kein „kleinstes Übel“ entscheiden können, es stellt sich auch die Frage, wer an einer Wahlbeteiligung physisch gehindert ist.

Mit dem öffentlichen Verkehr gibt es gleich zwei Probleme. Nachdem zur sowjetischen Zeit die Energieversorgung kein Thema war und die teilweise abenteuerlich anmutenden Gefährte so gut wie nichts kosteten, haben sich zwei einander gegenseitig bedingende und verstärkende Schwierigkeiten eingestellt. Da die Menschen das Geld für die Fahrkarte nicht haben und die Busse halb leer fahren, steigen die Preise der Fahrkarten und gibt es weniger Busse.

Die Situation wird durch zwei Aspekte verschärft. Da die Busse extrem selten fahren und eben auch nicht unbedingt dann, wenn das Angebot nachgefragt wird, sehen sich viele Menschen gezwungen, private Vereinbarungen zu treffen. Auf diese Weise entstehen illegale Geschäfte. Jemand hat ein Auto und bringt andere zum gewünschten Zeitpunkt irgendwo hin und nimmt dafür natürlich einen kleinen Obolus. Auf der anderen Seite verdienen auch die Busfahrer so wenig, daß sie schon einmal gerne das Geld kassieren, aber dem Fahrgast keinen Fahrschein aushändigen. Statistisch gesehen ist dann dieser Fahrgast nicht gefahren und der Fahrer steckt das Geld anstatt in die Kasse in die Tasche.

6. März 2011

Wer hat Angst vor Sarrazin?

Wieviel Euro waren es noch, die nach Sarrazin für eine tägliche gute Ernährung reichen sollten? Naja, das galt ja nur für Deutschland.

Lettland hat im Rahmen der Finanz- und Wirtschaftskrise und der damit verbundenen steigenden Arbeitslosigkeit das sogenannte „simtlatnieku“-Programm aufgelegt. Menschen arbeiten also für 100 Lat im Monat, was umgerechnet etwa 150 Euro sind. Und das klingt nicht nur nach wenig Geld, das ist es auch in Lettland. Und im Gegensatz zu den 1-Euro-Jobs in Deutschland, wo die Menschen nebenbei anderweitig „versorgt“ werden, heißt das bei 100 Lat eben auch 100 Lat. An diesem Programm nehmen nach Angaben der lettischen Presse derzeit 80.000 Menschen teil.

Dies steht vor dem Hintergrund, daß jüngst erneut in Lettland durch die Presse ging, welche Mitarbeiter der Regierung eine Gehaltserhöhung erhalten. Unter anderem auch im Verteidigungsministerium, das von dem im dänischen Århus promovierten Politologen Artis Pabriks geführt wird. Und diesem rutschte nun in einer Pressekonferenz heraus, daß für 100 Lat nur Trottel arbeiteten.

Der Autor dieser Zeilen kennt Pabriks lange genug persönlich, um beurteilen zu können, daß eine Beleidigung von Menschen in sozialen Nöten sicher nicht das Anliegen des Ministers war – im Vergleich zu Sarrazin?

Dennoch, die unbedachte Äußerung hat Folgen. Elīna Kolāte, eine einfach Dame aus dem Volk verlangt nun gerichtlich eine moralische Entschädigung – von exakt 100 Lat. Sie begründet ihre Eingabe auch damit, daß sie die 100 Lat nicht einmal verdiene, aber trotzdem keine Idiotin sei. Frau Kolāte wünscht, daß sich Pabriks bei ihr persönlich entschuldigen möge.

Artis Pabriks entschuldigte sich bereits öffentlich und erklärte, es handele sich um ein Mißverständnis. Er habe eigentlich sagen wollen, daß es extrem schwierig sei, Menschen für konkrete verantwortungsvolle Aufgaben zu finden, die bereit sind, für sehr wenig Geld zu arbeiten. Wer im Privatsektor oder öffentlichen Dienst ordentlich arbeite, habe auch eine ordentliche Bezahlung verdient. Pabriks erklärte überdies, er sei wütend über sich selbst, denn es sei erforderlich, immer Herr seiner Sinne und seiner Äußerungen zu sein.

3. März 2011

Verzählte Versuchskaninchen

Dass die in dieser Woche per Online-Verfahren in Lettland gestartet "Selbstzählung" von Menschen und Wohnungen in Lettland (siehe Beitrag in diesem Blog) relativ blauäuigig gestartet schien, konnten selbst unbefangene Beobachter leicht ahnen. Nach nur wenigen Tagen muss nun bereits bilanziert werden: es ist sowohl bezüglich der Zählung selbst, wie auch für das gewählte Online-Verfahren und die Sicherheit der Teilnehmenden eher eine Übung am lebenden Objekt.

Offiziell läuft das Verfahren zwar weiter, aber schon nach wenigen Stunden waren etliche Pannen festzustellen, die lettische Medien jetzt bereit zweifeln lassen, ob die für das Verfahren veranschlagten 6,5 Millionen Lat (ca 10 Millionen Euro) entweder nicht ausreichen oder vergebens ausgegeben sind sowie ob mit verlässlichen und belastbaren Ergebnissen gerechnet werden kann. 
 Die lettische Statistikbehörde hatte die Möglichkeit, Zählungsfragebogen online auszufüllen, nach nur wenigen Stunden stoppen lassen. Einerseits war es aufgrund der Vielzahl von Anfragenden zu längerandauernden Blockaden der Server gekommen, andererseits hatte sich herausgestellt, dass durch das gewählte Verfahren entweder Personencode oder Bankdaten als Zugang zu verwenden, persönliche Daten auch für andere einsehbar waren. Wer eines von beiden - Personencode oder Bankdaten - von jemand anderes eingab, konnte ohne weiteres auch weitere persönliche Daten einsehen. Da wirkte der Hinweis der durchführenden Behörde auf die Strafbarkeit solchen Verhaltens eher hilflos. Das Portal "Delfi" berichtet sogar von erfolgreichen Versuchen, mittels Passnummern in das System zu gelangen und dort die bestehenden Daten sogar verändern zu können.

Derweil schütteln auch lettische IT-Experten inzwischen nur den Kopf über die Naivität, mit der die laufenden Volkszählung begonnen wurde. Daten wie eine Passnummer seien derart verbreitet und auch öffentlich zugänglich, dass sie für die Sicherung eines persönlichen Zugangs zu sensiblen Daten völlig ungeeignet seien. Da habe wohl die Eile, ein Zählungssystem zu entwickeln die Sicherheitsbedenken und die Sorgfaltspflicht in den Hintergrund treten lassen.
Nutzungsdaten der lettischen Volkszählung
(erfolgreiche Authorisation) der ersten 24 Stunden
- insgesamt 77570 Einwahlen

Dass solche Bedenken aber durchaus nicht alle teilen, zeigen die Aussagen von Ex-Ministerin Ina Gudele, die unter den Regierungschefs Kalvītis und Godmanis für "E-Government" zuständig war. "Nun ja, es ist nicht gut, wenn jemand an die Daten anderer herangekommen sein sollte, aber machen wir daraus keine Tragödie," so wird sie bei Delfi zititiert. Die Ex-Ministerin, zurückgetreten 2008 wegen Vorwürfen ihre Geburtstagsfeier aus Steuergeldern bezahlt zu haben, weist zudem darauf hin, dass ja auch beim persönlichen Verfahren die Volkszähler die Daten anderer aufschreiben oder kopieren könnten - wenn diese böswillig seien. Es endet wohl auch hier in dem beliebten Politikerspruch: "eine hundertprozentige Sicherheit gibt es nie."

Inzwischen ruft die für die Zählung zuständige Behörde wieder zur Beteiligung auch am elektronischen Verfahren auf und bittet nun nur noch entweder die Bankdaten oder eine elektronische Unterschrift als Zugang zu nutzen.Wirtschaftsminister Artis Kampars bedankte sich auf einer eigens eingerufenen Pressekonferenz bei den "wachsamen Medien", denn dies sei die richtige Methode um solche Fehler aufzudecken. Die Verantwortung für diese Fehler sei im fahrlässigen Handeln von Amtspersonen zu sehen. 
Auswertung der Nutzerdaten des ersten Tages:
76,5% der Teilnehmer/innen gaben
Passdaten und Personencode ein
Derweil wird auch über die Kosten des Zählungsverfahrens weiter gestritten. Während die eine Seite meint, man hätte sich gern die 10 Millionen Lat in Zeiten der Wirtschaftskrise für andere Zwecke aufgespart, vergleichen andere die vergleichbaren Verfahren dieses Jahres in Estland und Litauen. "2,78 der 6.5 Millionen Lat werden allein für die Erfassung mittes Laptops verwendet," rechnet Elmārs Barkāns im Journal "Kas jauns" nach. "Insgesamt wendet Estland für die Erfassung pro Einwohner 10.1 Lat auf, Litauen 3,04 und Lettland gerade noch 2 Lat. Da gilt wohl der lettische Spruch: 'ko taupa taupītājs, to laupa laupītājs' (in etwa: was der Sparsame glaubt einzusparen das stiehlt der Räuber)." Aus Kreisen der lettischen Regierung war zu vernehmen gewesen, man fühle sich zur Durchführung aufgrund des Vorliegens internationaler Vereinbarungen verpflichtet - im Falle der Nichteinhaltung drohten Strafgelder. Auch diese Haltung wird nicht ganz passen zum Online-Optimismus, den die lettischen Behörden in dieser Woche gern verbreitet hätten.

Angst vor dem Ombudsmann

In Lettland gibt es die Institution des Ombudsmannes noch nicht lange, nach vielen innenpolitischen Konflikten erst seit 2007, gerade einmal endet die erste Amtszeit des ersten Amtsinhabers. Und damit beginnen die Schwierigkeiten, denn Romāns Apsītis will nicht erneut antreten und es scheint auch sonst (unter den Juristen des Landes) niemanden zu geben, der bei diesem Angebot nicht abwinken würde. Der Ombudsmann muß kein Jurist sein, sollte es aber nach verbreiteter Ansicht. Es scheint, als hätten alle potentielle Kandidaten Angst vor dem Ombudsmann und / oder vor den Abgeordneten der Saeima, die dieses Amt durch Abstimmung besetzen.

Das aber ist alles nichts Neues. Seit Mitte der 90er Jahre gab es ein Menschenrechtsbüro, das mit Unterstützung der OSZE gegründet worden war und von Olafs Brūvers geleitet worden war. Brūvers, in Riga geboren, war während der Sowjetzeit als Gegner des Regimes kurzzeitig inhaftiert und lebte dann im Exil. Nach der wiedergewonnen Unabhängigkeit des Landes wurde er als Abgeordneter der Christdemokraten ins Parlament gewählt und anschließend Staatsminister für Menschenrechtsfragen, obwohl seine Partei der Koalition gar nicht angehörte. Aber schon zwei Jahre später gelangte er auf der Liste der Demokratischen (Zentrums) Partei in die Saeima, jener politische Kraft, in der sich damals viele alte kommunistische Kader organisiert hatten.

Das Büro litt unter seiner Führung an der schlechten Finanzierung, was auch von Präsidentin Vaira Vīķe-Freiberga kritisiert wurde. Erst 2007 gelang es endlich, aus dem Büro die Institution des Ombudsmanns zu schaffen. Und auch damals konnte sich die Politik kaum auf einen Kandidaten einigen. Mit dem von der damals in der Regierung einflußreichen Volkspartei nominierten Juraprofessor der Universität Lettlands, Ringolds Balodis, und der von der nationalistischen Für Vaterland und Freiheit portierten Professorin für Politikwissenschaft und Exillettin Rasma Kārkliņa gab es zwei Kandidaten, die im Parlament keine Mehrheit fanden.

Politisch waren beide Kandidaten nicht durchsetzbar. Balodis’ Hindernis war vor allem seine fehlende politische Neutralität; aber auch seine Reputation als Wissenschaftler wurden in Zweifel gezogen und seine Publikationen vom damaligen Präsidenten des Verfassungsgerichtes, Aivars Endziņš, heftig kritisiert. Ironischerweise war es Balodis, der Jahre später die Nationalisten in Frage der diskutierten Verfassungsänderungen beriet.

Rasma Kārkliņa hingegen verfügte einerseits nicht über eine juristische Ausbildung und keine Erfahrung im Bereich der Menschrechte, aber als Exilantin unterstellte man ihr auch fehlende Verwurzelung in der lettischen Gesellschaft. Obwohl die Neue Zeit damals Kārkliņa unterstützte, waren ihre Aussichten von Beginn an noch geringer als die Balodis’.

Hauptproblem war freilich, daß sich schon die Regierungskoalition nicht auf einen Kandidaten einigen konnte. So wurde schließlich der Verfassungsrichter Romāns Apsītis gewählt, dessen Reputation untadelig ist, der aber unmittelbar nach seiner Bestellung in der Wirtschaftskrise mit der Diskussion konfrontiert wurde, ob sein Büro nicht den nötigen Sparmaßnahmen zum Opfer fallen sollte. Doch Apsītis wird nun vorgeworfen, sich selbst nicht aktiv genug eingemischt zu haben. Im Fernsehen verkündete er jüngst, er habe sich schon 2007 nicht um das Amt gedrängt und stehe für eine zweite Amtszeit nicht zur Verfügung.

Vier Jahre später können sich die Koalitionsparteien schon wieder nicht auf einen gemeinsamen Kandidaten einigen. Die größere Partnerin, die Einigkeit, hielt sich über Wochen bedeckt und nannte keinen einzigen Namen – so lange, bis der kleinere Partner, die Union der Grünen und Bauern den Vorschlag des oppositionellen Harmoniezentrums, den Liquidator der bankrotten Rigaer Krankenversicherung Juris Jansons positiv beurteilte. Erst dann bewegte sich die Einigkeit und schlug die Verwaltungsrichterin und frühere Mitarbeiterin des Menschenrechtsbüros Anita Kovaļevska vor.

Aber das Geschacher hatte bereits vorher begonnen. Nachdem zunächst die Verfassungsjuristin Jautrīte Briede als potentielle Kandidaten gehandelt wurde, der Unterstützung durch die Einigkeit nachgesagt wird, unterstrichen einige Politiker, es habe noch keine Entscheidungen gegeben. Die Aussichten dieser Kandidatur waren gering, denn der Chef der Union aus Grünen und Bauern, Augusts Brigmanis, wies auf die Ämterhäufung der Einigkeit hin.

Für die Partei Brigmanis’ mag ein weiterer Hinderungsgrund gewesen sein, daß Briede einmal Soros-Stipendiatin war. Über diese Organisation ranken sich in Lettland unzählige Verschwörungstheorien. Die „Soroser“ gilt in einschlägigen Kreisen als Schimpfwort.

Die frühere Verfassungsrichterin und Abgeordnete der Einigkeit, Ilma Čepāne, wurde ebenfalls erwähnt, erklärte aber ihrerseits, kein solches Angebot erhalten zu haben und auch nicht kandidieren zu wollen. Die politische Kultur in Lettland sei leider so, daß die Politiker die Empfehlungen des amtierenden Ombudsmannes ignorierten und die Wahl politisierten. Sie habe mehrere Juristen angesprochen, doch alle hätten abgewinkt.

Der bereits erwähnte frühere Präsident des Verfassungsgerichtes, Aivars Endziņš, der 2007 erfolglos für das Amt des Präsidenten kandidiert hatte, steht nach eigenen Angaben ebenfalls nicht zur Verfügung.

Der Streit um die Besetzung stört nun den Koalitionsfrieden. Bereits nach der Wahl im Oktober hatte es für die Regierungsbildung verschiedene potentielle Modelle gegeben. Das als russisch geltende Harmoniezentrum kommt mit der Union der Grünen und Bauern ebenfalls mit 51 Mandaten auf die absolute Mehrheit von 100 Abgeordneten. Was für eine Regierungsführung zu knapp sein mag, könnte aber in einer einmaligen Abstimmung den Ausbruch aus der Koalitionsraison ermöglichen.

Die Einigkeit reagierte ein wenig wie die „beleidigte Leberwurst“ und machte den für einen demokratischen Staat geradezu absurden Vorschlag, sämtliche Ämterbestellungen durch das Parlament – Generalstaatsanwalt, Leitung des Rechnungshofes, Chef der Anti-Korruptionsbehörde etc. – künftig in offener Abstimmung durchzuführen. Dies hebe die Reputation des Parlamentes. Die anderen Fraktionen bezeichneten den Vorschlag hingegen als Populismus. Präsident Valdis Zatlers wiederum wiederholte seinen Vorschlag, solche Ämter sollten künftig auf Vorschlag des Präsidenten besetzt werden. In der Tat ist eine solche Diskussion für Lettland typisch. Gibt es irgendwo Probleme, so kritisiert auch den lettische Journalist und Medienwissenschaftler Ainārs Dimants, wird zunächst eine Änderung der „Statuten“ diskutiert.

Juris Jansons erklärte während Anhörungen in den Fraktionen, er sei mit dem Harmoniezentrum politisch nicht verbunden. Für ein kleines Land wie Lettland aber nicht untypisch stellte sich heraus, daß der Abgeordnete der Partei, Juris Silovs, der Jansons zu den Terminen begleitete, ein alter Kollege von Jansons aus dessen Zeiten bei der Nationalbank ist.

Jansons wurde am 3. März mit 53 Stimmen gewählt.

Rücktritt oder nicht Rücktritt, das ist hier die Frage

Die lettische Innenministerin Linda Mūrniece von der Parteienkoalition Einigkeit versieht ihr Amt, seit Valdis Dombrovskis im März 2009 Regierungschef wurde. Das Ministerium gilt nicht nur jetzt, sondern war schon in den Boomjahren nach dem EU-Beitritt das „ärmste“. Dies ist insofern von Bedeutung, als das für die innere Sicherheit zuständige Ministerium Dienstherr der diversen operativen Dienste ist. Und daß deren Mitarbeiter schlecht verdienen, weiß im Lande jeder. Daher ja auch das weit verbreitete und nicht unbegründet Vorurteil, die Polizei in Lettland sei korrupt.

Linda Mūrniece beschäftigte sich in ihrer Amtszeit mit verschiedenen Reformversuchen, zog aber auch viel Kritik auf sich, etwa als sie 2009 die Sondereinheit der Polizei, Alfa, in die lettische Provinzstadt Bauska schickte, um eine spontane Brückenblockade als Protest der Einwohner gegen die Krankenhausschließung aufzulösen. Ihre harten Kommentare zur nicht genehmigten Demonstration wurden auch hier kritisiert. Als jüngst Polizisten dieser Einheit an einem Überfall auf ein Spielcasino in einer anderen Kleinstadt beteiligt waren, wurde Alfa spontan abgeschafft. Erneut wurde Mūrniece kritisiert, sie habe ihren Apparat nicht im Griff. Trotz Rücktrittsforderungen blieb sie aber im Amt.

Kritisiert wurde auch die Vorführung der Tatverdächtigen vor Gericht. Da die zum Tatzeitpunkt getragene Kleidung polizeilich untersucht wird, wurden sie in in vorübergehend gestellten, aber in der Konfektionsgröße viel zu großen Kleidungsstücken und zusätzlich verbundenen Augen in den Saal gebracht. Auch Mitleid in Abrede stellend werteten dies ehemlige leitende Mitarbeiter der Polizei und Psychologen als unprofessionell.

Als aber nun vor kurzem in einem Internetvideo beobachtet werden konnte, wie zwei Polizisten in Riga ein Auto stehlen, war dies offenbar für die Innenministerin persönlich der Tropfen, der das Faß zum überlaufen brauchte. Sie reichte ein Rücktrittsgesuch ein – welches Ministerpräsident Dombrovskis aber nicht annahm.

Nun wird Mūrniece angeblich erst im Juni zurücktreten, wenn noch einige weitere Schritte der Polizeireform beendet wurden. Der Partei- und Fraktionsvorsitzende des Koalitionspartner Union aus Grünen und Bauern, Augusts Brigmanis, zweifelte, ob der Schritt nicht eher damit zu begründen sei, daß es der Einigkeit an politischen Personal fehle, die Vakanz erneut zu besetzen. Schon seit der Regierungsbildung im November des letzten Jahres gibt es Konflikte, weil die Einigkeit mit Regierungschef und Parlamentspräsidentin nicht nur viele Ämter einnimmt, sonder der Koalitionspartner auch im Kabinett die schwierigeren Posten innehat – von der schwierigen inneren Sicherheit einmal abgesehen.

Experten weisen allerdings auch auf den Vorteil für die Union aus Grünen und Bauern hin, wenn die Einigkeit im Kabinett mit unpopulären Ministern vertreten ist. Linda Mūrniece wurde im Januar nach Umfragen noch von 45% der Befragten negativ bewertet. Im Februar waren es bereits 65%. Die Ablehnung, die der Ministerin entgegenschlägt, ist nicht neu. Im lettischen Wahlsystem mit lose gebundenen Listen war Mūrniece bei der Parlamentswahl im Oktober die Königin der ausgestrichenen Kandidaten ihrer Partei und verdankt ihr Parlamentsmandat – welches sie freilich als Ministerin ruhen lassen muß – nur dem Verzicht der Parteifreundin Vaira Paegle.

1. März 2011

Polizei außer Rand und Band?

Im lettischen Jēkabpils wurde im Januar ein Spielsalon überfallen, während die Einnahmen abgeholt wurden. Gewalttätige Überfalle waren in Lettland Mitte der 90er Jahre nicht Ungewöhnliches. Später besserte sich die Situation und auch das erwartete Ansteigen der Kriminalität infolge der Krise hat nicht zu spektakulären Fällen geführt. Dieser Fall ist aber nun spektakulär, weil hier Polizisten gegen Polizisten vorgehen mußten. Vier der fünf beteiligten Räuber waren Polizisten, zwei gehörten der Spezialtruppe Alfa an. Der Polizist Andris Znotiņš verlor dabei im Dienst sein Leben.

Die maskierten Räuber betraten den Spielsalon und die Polizisten behaupteten, sie seien in einen Einsatz im Rahmen der Drogenfahndung. Die in entsprechenden Etablissements regelmäßig anwesenden Mitarbeiter einer Sicherheitsfirma mußten sich auf den Boden legen, ihnen wurde bekamen Tränengas in die Augen gesprüht. Ein Angestellter des Spielsalons wurde angeschossen, weil er die Alarmknopf gedrückt hatte. Die Höhe der Beute ist unbekannt, doch als die Räuber gestellt wurden, entdeckte die Polizei im Fahrzeug 104.500 LVL. Daß der Überfall ausgerechnet im Moment der Übergabe der Einnahmen an einen Geldtransport stattfand, läßt vermuten, daß die Polizisten über Insiderkenntnisse verfügten.

Dies ist nicht der erste Fall, der einen Schatten auf den Ruf der Polizei in Lettland wirft. Abgesehen von der Korruption der Verkehrspolizei, die in den letzten Jahren nachgelassen haben soll, gelang 2007 einem Untersuchungshäftling während der Überführung angeblich in Handschellen die Flucht aus dem fahrenden Streifenwagen durch einen Sprung von der Inselbrücke in die Düna. Der Verdächtige wurde zwar schnell wieder verhaftet, doch der damalige Innenminister Ivars Godmanis, der inzwischen EU-Abgeordneter ist, kam in Erklärungsnot.

Linda Mūrniece
(Foto des lett. Innenministeriums).
Innenministerin im Kabinett Dombrovskis ist derzeit Linda Mūrniece. Sie stand schon mehrfach in der Kritik und wurde zum Rücktritt aufgefordert, so auch in diesem Fall. Sie nahm die Polizei allerdings in Schutz und leugnete, daß die geringen Einkommen der Polizisten, die im Rahmen der Krise wie vielen anderen Staatsdienern noch einmal gekürzt worden waren, die Ursache für den „Seitenwechsel“ der Polizisten sein könne. Sie erklärte in einem Radiointerview, die betreffenden Kollegen hätten nun ihr wahres Gesicht gezeigt und seien entweder als Kriminelle geboren oder aus anderen Gründen zu solchen geworden.

Tatsächlich sind die Einkommen in Staatsdienst und Polizei so gering, daß viele weiteren Nebentätigkeiten nachgehen. Gerade Polizisten eignen sich durch ihre Ausbildung für die Mitarbeit in einem Sicherheitsdienst. In den freien Tagen des Schichtdienstes anderorts dazu zu verdienen, ist nicht untersagt.

Inzwischen wurde bekannt, daß zwei der Polizisten aus der Kleinstadt Tukums im Einzugsbereich von Riga stammen und dort im Rahmen einer Restrukturierung eigentlich hatten entlassen werden sollen. Infolge einer Intervention der Polizeigewerkschaft, wie das Innenministerium dieser vorwirft, wurden ihre Verträge jedoch erneuert. Die Gewerkschaft kontert, das Ministerium selber habe keine Rechtsmittel gegen einen entsprechenden Gerichtsbeschluß eingelegt, wobei Mūrniece zugeben mußte, daß angeblich aufgrund orthographischer Fehler die Kündigungen von den Richtern als nicht rechtswirksam angesehen wurden.

Trotzdem hatten sich die Räuber unter anderem beim außer Gefecht gesetzten Sicherheitspersonal bewaffnet. Die zwei gestohlenen Waffen wurden vermutlich nach dem Überfall in einen Schneehaufen geworfen, denn sie tauchten zunächst nicht wieder auf.

Mūrniece räumte im fraglichen Interview grundsätzliche Probleme mit der Polizei und besonders der Sondertruppe Alfa ein. In vier Jahren habe es dort 40 Dienstaufsichtsbeschwerden gegeben. Die Innenministerin klagte, eine elitäre Truppe müsse sich auch dementsprechend verhalten. Sie reagierte durch die Beurlaubung einiger hoher Amtspersonen, darunter des Kommandanten der Spezialeinheit Alfa. Darüber hinaus werden alle mehr 7.000 Mitarbeiter der Polizei von Psychologen befragt würden und das Ministerium prüfe, ob Nebenjobs der Ordnungshüter zu Interessenskonflikten führen könnten.

Die Innenministerin und die Spezialeinheit Alfa waren 2009 ins Gerede gekommen, als im Rahmen der geplanten Schließung eines Krankenhauses im südlettischen Bauska spontane Demonstrationen die Brücke einer wichtigen Verkehrsachse besetzten. Damals wurde ebenfalls aus Riga die Sondereinheit geschickt. Mūrniece sagte nun, diese Entscheidung habe sie seinerzeit gar nicht selbst getroffen.

Als Reaktion auf die jüngsten Ereignisse hat die Innenministerin nun beschlossen, den Polizisten ihr Gehalt – allerdings erst im kommenden Jahr – um 50% zu erhöhen, womit sie indirekt ihrer eigene, früheren Behauptung widerspricht, die Höhe des Einkommens könne nicht Grund dafür sein, daß Polizisten kriminell würden. Als weitere Folge des Überfalls von Jēkapbils wird die Einheit Alfa außerdem liquidiert – allerdings wohl nur dem Namen nach. Aufgaben wie die Festnahme von Verbrechen werden einer anderen Einheit übertragen, aber die an dem Vorfall unbeteiligten Polizisten weiterbeschäfigt, ohne den Namen Alfa zu verwenden, der nach Aussage des Chefs der Polizei von Riga, Ints Kužis, nun in Verruf geraten sei. Andererseits benenne man andere Abteilungen der Polizei schließlich auch nicht mit Sondernamen. Linda Mūrniece will außerdem disziplinarisch durchgreifen, jedes kleinste Vergehen solle nun wieder geahndet werden, mit der Demokratie sei es in diesem Sinne vorbei. Unangemeldete Kontrollen finden bereits statt.

Eine Psychologin sagte, jeder Polizist brauche wenigstens 20 Therapiestunden, um zu lernen, wie er seine Aggressionen in einem Job beherrscht, in welchem er beständig mit Aggression konfrontiert wird. Agris Sūna, der Chef der Polizeigewerkschaft verlangt nach wie vor den Rücktritt der Ministerin, die jetzt nun eine Hexenjagd beginne.

Zählt euch selbst!

Mit dem heutigen Tag startet in Lettland eine Erhebung zur Bevölkerungszahl und zu den vorhandenen Wohneinheiten. Eine Volkszählung also. Bis Ende Mai sollen genaue Zahlen erhoben werden zu den Lebensumständen der in Lettland wohnenden Menschen. 

"Meine Damen und Herren: bitte zählen Sie sich selbst!"
(offizielles Video des lettischen Statistikamtes)
Der Start wirkt für Außenstehende überraschend: bis zum 10.März wird zu "freiwilliger Selbsterfassung"aufgerufen. Lettland, ein Land das bisher weder durch Tests zur Sicherheit im Internet, E-Voting oder Ähnlichem aufgefallen ist, scheint plötzlich auf eine spontan aufkommende Euphorie der Selbstanzeige zu hoffen. Allen, die diese Möglichkeit bis zum 10.März nicht nutzen, wird bis Ende der Erfassungsperiode ein "Hausbesuch" eines staatlich bestellten Befragers angekündigt. "Seid neuzeitlich! Ausfüllen des Fragebogens im Internet ist leichter, schneller und bequemer!" preist das Statistikamt (CSP) die eigenen Angebote.

Mit deutschen Augen gesehen - wo in den 80er Jahren ganze Volksbewegungen sich gegen allzu fleissige staatliche Datensammelwut richteten und im scheinbar so ordnungsliebenden Deutschland fleissig Aufrufe zum Ungehorsam gegen die Lust an der Bürgerüberwachung schrieben, scheint der lettische Ansatz mehr als optimistisch. Wer sich die Umfragebögen ansieht, wird schnell feststellen, dass hier eine Reihe sehr sensibler Daten gehandelt wird. Immerhin müssen Passdaten oder Bankdaten online eingegeben werden um teilnehmen zu können - eine Standard-Chipkarte (elektronischer Ausweis) wie z.B. beim E-Voting in Estland gibt es bisher in Lettland nicht. 
Auch die Fragen werden einige vielleicht erstaunen. Gefragt wird "Pēteris Pilsonis" unter anderem auch nach der Anzahl und persönliche Details zu allen in einem Haushalt lebenden Bewohner/innen, sowie danach, wer sich mehr als ein Jahr oder weniger als ein Jahr im Ausland aufhält (offenbar also der Versuch einer Erfassung der Bewegung von "Arbeitsemigranten").

Vielleicht ist auch - da in der heutigen lettischen Politik kaum etwas ohne kommerziellen Nebeneffekt geplant wird - der ganze Aufwand auch als Werbung für die Online-Dienste der Banken gedacht. Wer Kunde bei der "Citadeles banka" (früher "Parex"), "DnB Nord banka", "Latvijas Krājbanka", "SEB bankas" oder "Swedbank"ist, kann mit seinem Bankpasswort auch die virtuellen Fragebögen ausfüllen. Die staatlichen Zählüberwacher betonen allerdings, dass auch alle 874 lettischen Bibliotheken mit entsprechend nutzbaren Internetzugängen ausgestattet seien. Es reicht aus, wenn immer nur ein "Haushaltmitglied" den Fragebogen ausfüllt. Dazu muss er oder sie lediglich die Personencodenummern der anderen Haushaltsmitglieder wissen.
Zur Datensicherheit gibt es nur allgemeine Beteuerungen der staatlichen Stellen zu lesen. In den Werbefilmchen sind Sätze wie "die Datensicherheit garantiert das Gesetz" oder "Jede bei der Zählung eingesetzte Person garantiert persönlich für die Vertraulichkeit der Daten". Knaststrafen für Plaudertaschen? Die Strategie scheint hier zu sein, den Fall der "Zuwiderhandlung" als möglichst unvorstellbar darzuzustellen.Als hauptsächliches Argument gegen Zählungsunwillige wird betont, dass keine Fragen zu persönlichem Einkommen, Vermögen und Besitz, sowie Gesundheit gestellt werden.

Die Ergebnisse der Zählungen sollen erst 2012/2013 veröffentlicht werden. Hoffentlich haben die Behörden wenigstens ausreichend schnelle Leitungen und Zugänge in allen Regionen geschaltet - bei meinen heutigen Versuchen, die Informationen der offiziellen Webseite aufzurufen, brach die Verbindung regelmäßig zusammen ...

Leicht ironische Reaktionen rief die Ankündigung der Zählungsbehörde hervor, die Erhebung auch zur Zählung von Lettlands Obdachlosen nutzen zu wollen. "Solange es draußen entsprechend kalt ist, und sich diese Personen in Notunterkünften aufhalten, werden wir diese Möglichkeit nutzen," wird der stellvertretende CSD-Direktor Pēteris Veģis zitiert.

Webseite der Volkszählung

Lettisches Statistikamt CSP