8. Februar 2009

Lettische & deutsche Demokratie

Nachdem in diesem Blog in der vergangenen Woche schon so viel darüber diskutiert worden ist, ob in Lettland demokratische Strukturen existieren, oder ob die Demokratie überhaupt die wünschenswerte Staatsform ist, möchte ich nun auch ein paar Gedanken dazu beitragen. Die Teilnahme am Kongreß "Demokratie wagen" der Heinrich-Böll-Stiftung hat mich dazu angeregt. Dieses Motto ordnen die Westdeutschen natürlich Kanzler Willi Brandt zu, am Beginn seiner Regierungszeit. Inzwischen gibt es ja auch schon andere Zwischenrufe wie "mehr direkte Demokratie wagen" (Volksabstimmungen sind gemeint) oder auch die Unkenrufe, man sei schon in der "Postdemokratie" angekommen, wo nicht so sehr Wählerentscheidungen wichtig sind, sondern Expertenkommissionen und Lobbygruppen (Colin Crouch). Ein paar Gedankensplitter des Nachdenkes über Demokratie möchte ich hier posten - zunächst mit Schwerpunkt bei den Thesen des Politikwissenschaftlers Claus Offe.

Was ist Demokratie?
"Demokratie findet in Staaten statt", so stellt Claus Offe fest. Klingt simpel, aber zu den weiteren Grundbedingungen zählt er, dass diese Staatlichkeit weder durch äußere noch durch bestimmte innere Kräfte dominiert werden darf. Die schlicht klingende logische Auswirkung für Lettland: die Existenz eines unabhängigen, lettischen Staates ist als Grundvoraussetzung unverzichtbar. Aber auch: die Existenz einer bloßen ethnischen Gruppe reicht nicht allein - weder für die Letten vor 1990, noch für die russischstämmige Minderheit heute.

Offe weiter:

"Demokratien sind immer potentiell suizidale Regimeformen" - Der Deutsche denkt an 1933 - der Lette an die Gegenwart?

"Alle Demokratien sind Nachfolgeregimes" - Hier erinnert Offe daran, dass keine Gesellschaftsform gleich zur Demokratie als Versuch des Ausgleichs der Interessen und der Mitsprachemöglichkeit findet. Vielleicht ein Trost für das lettische Selbstwußtsein, wird man doch von bestimmten Kreisen immer mit Begriffen wie "Nachfolgestaaten der SU" oder "Post-SU-Staat" belegt.

"Bürger können nur die Rechte wahrnehmen, die sie wahrnehmen KÖNNEN"
. Hier wird den Staatsbürgern Trost zugesprochen: ein Regime wird nicht allein dadurch demokratisch, dass Rechte verkündet werden, die in der Praxis nicht wahrnehmbar sind (Beispiel: wenn Menschen, die ihre Meinung kundtun, auf offener Straße erschossen werden, und der Staat nichts unternimmt, um die Meinungsfreiheit zu schützen).

"Nicht einfach der TINA-Logik folgen"
- Die These oder Behauptung "There is no alternative" (abgekürzt "TINA") führt nicht zu Demokratie. Wenn die Alternative nur gleich 1 ist, ist die Demokratie = 0.

"Die Macht muss zur Verantwortung zu ziehen sein"
. Gut, manche denke da nur an Wahlen alle 4 oder 5 Jahre, aber immerhin ist die Veraussetzung, dass es auch Wahlalternativen gibt, Opposition, oder mehr als Alternative = 1 (wenn also jetzt etwa das lettische Parlament entlassen würde, was dann?). Gleichzeitig äußert Offe übrigens seine Zweifel an Volksabstimmungen: für die Umsetzung der hieraus zu ziehenden Schlußfolgerungen könne ja niemand zur Verantwortung gezogen werden, wenn sich nur auf einen unbestimmten, per Momentaufnahme eingefangenen "Volkswillen" berufen wird.

"Folgen post-demokratischer Tendenzen" - Offe nennt als Beispiele aus Deutschland auch "Präsidialisierung" (Regierungschef mit "Alleinvertretungstendenzen" wie Gerhard Schröder), oder "Medienstrategien im Dienste der Macht". Die Auswirkungen bei den Staatsbürgern sind aber klar: Apathie, Mißtrauen, Zynismus, Enthaltsamkeit gegenüber politischer Mitwirkung.

"Beispiele demokratischer Innovationen" - Offe tritt für das freie Nachdenken über Änderungen der bisherigen Demokratieformen ein. Beispiele:
a) Einführen einer "NOTA"-Alternative. Das heißt, auf dem Wahlzettel gäbe es eine Ankreuzmöglichkeit "non of the above" (keine der obigen Aufgeführten). Vielleicht würde dies den Grad der Unzufriedenheit mit dem politischen Personal spiegeln, aber gleichzeitig die politische Beteiligung sichern? Im Internet ist bereits eine entsprechende NOTA-Initiative zu finden. Oder
b) Jeder Wähler hat nicht eine, sondern 100 Stimmen. Würden sich dann Schwankungen und Zwischentöne von verschiedenen politischen Konzepten besser abbilden lassen, wenn ich z.B. 10 Stimmen der Partei A, 30 Stimmen Partei B, und 60 Stimmen Partei C zuweisen könnte?
c) Repräsentationsgutscheine. Gegen die weit verbreitete Politikerunsitte, zu behaupten "ich bin demokratisch gewählt, ich repräsentiere auch sie - was wollen sie also noch?" Einen Großteil der Steuern abschaffen, dafür jedem Bürger die freie Wahl lassen, seine jedem in gleicher Höhe gewährten Zuwendungen in freier Wahl unter den ca. 800 beim Bundestag (beim lettischen Finanzministerium) registrierten Interessenorganisationen frei zu verteilen?
d) Elternwahlrecht. Eltern bekommen so viele Stimmen mehr, wie sie Kinder haben (= Betonung der Zukunftsfähigkeit der Demokratie).

Sicher gibt es noch mehr gute Ideen. Die auf dem erwähnten Kongreß anwesenden Politiker äußerten übrigens teilweise eher Unbehagen gegenüber so viel "Pessimismus", wenn die gegenwärtigen verfügbaren Formen demokratischer Teilhabe diskutiert werden. Aber erinnert uns das nicht an den üblicherweise einer Eltern-Generation zugeschriebenen Spruch: "Wir wollten doch immer nur euer bestes!" Darauf die selbstbewußte Antwort: "Aber wir geben es euch nicht!"
Irgendwo zwischen "Parlament komplett nach Hause schicken", "nicht mehr wählen gehen" und Moralpredigten über den ideelen Wert der Demokratie muss es doch noch mehr geben! Jedenfalls wird es mehr sein müssen, als das bloße Einführen von "E-Demokratie" - über die Begeisterung an technischen Neuerungen hinaus bedarf es auch mehr Möglichkeiten von Partizipation der Bürger/innen an politischer Entscheidungsfindung (wohl gemerkt: BEVOR politische Funktionsträger Entscheidungen fällen!).

6 Kommentare:

Anda hat gesagt…

Der Artikel wäre eine gute Lektüre für den lettischen Leser. Ist er auch auf Lettisch übersetzt? Oder haben Letten in Lettland keine Interesse daran?

Axel Reetz hat gesagt…

Erst einmal danke für diesen Beitrag, damit es nicht immer so aussieht, als würde ein Kommentator Selbstgespräche führen. Umfangreiche Anmerkungen zu Offe beschäftigten sich zu wenig mit dem Thema Lettland. Ob die Letten einen solchen Text brauchen und / oder haben? Gewiß, www.politika.lv ist voll von Artikeln aus meiner Feder und Veiko Spolītis, Andris Sprūds, Ivars Ījabs und anderen.

Anda hat gesagt…

Man könnte ja denken, dass die Politologie die Leitwissenschaft ist...
Ist das nicht so, dass die Kommentare nur von den Politologen selbst gelesen werden?

Axel Reetz hat gesagt…

Frage ein: wieso?
Frage zwei: sicher nicht, auf www.politika.lv usw. kommentiert das Volk munter.

Anda hat gesagt…

Da muss ich Marx zitieren: es kommt nicht darauf an, die Welt zu interpretieren oder zu beschreiben; "es kommt aber darauf an, sie zu verändern".

Axel Reetz hat gesagt…

Christian Graf von Krockow definiert Politik als den Kampf um Veranderung UND Erhaltung. Was ok ist, muss ja nicht geandert werden.