Für lettische Leser habe ich den Titel gewählt: Ein wie lettisches Lettland ist für die Letten erforderlich? (Cik latviska Latvija latviešiem nepieciešama?) Ein lettisches Lettland propagierte der autoritäre Herrscher Kārlis Ulmanis. Die Folgen dieser Politik kann man noch heute in der Altstadt von Riga bewundern, wo historische Bausubstanz aus Mittelalter und Hansaepoche durch die Monumentalarchitektur der 30er Jahre ersetzt wurde.
Ende der 80er Jahre protestierten die Letten gegen den geplanten U-Bahn-Bau. Heute würde man sich im Stau steckend manchmal wünschen, es gäbe eine solche Tunnelbahn. Aber damals wäre mit dem Bau des modernen Verkehrssystems die weitere massenhafte Ansiedlung von Arbeitskräften aus Rußland in der lettischen Haupstadt Riga verbunden gewesen, in der die Letten sowieso zu diesem Zeitpunkt schon in der Minderheit waren. Die Überfremdung war ein wichtiger Grund für den Protest gegen die Sowjetherrschaft in der liberaleren Gorbatschow-Ära und den anschließenden Kampf für die Wiederlangung der Unabhängigkeit.
Welchen Wert ein eigener Staat für ein Volk bedeutet, betonte in seiner Ansprache im Rigaer Dom am 90. Jahrestag der Staatsgründung jüngst auch Bischof Jānis Vanags. Viele Völker dieser Welt, die an Zahl mehr Menschen umfassen als die Letten, haben ihren eigenen Staat nicht. Selbstverständlich ist jedem Volk auch die eigene Sprache heilig. Weltweit sind viele durch Druck oder Assimilierung bereits ausgestorben wie in Lettland beispielsweise nahezu auch das Livische.[1] Mancherorts wird von staatlicher Seite darum gerungen, Minderheitensprachen zu erhalten wie etwa mit dem Rätoromanischen in der Schweiz. Lettland erkämpfte sich 1991 schließlich die Freiheit. Doch viele russischsprechende Einwohner, die während der Sowjetzeit nach Lettland gekommen waren sowie deren Kinder und Kindeskinder haben das Land anschließend nicht verlassen – entgegen dem Wunsch in nationalistischen Kreisen.[2] Mit der Gesetzgebung zur Staatsbürgerschaft und dem Status des Lettischen wurde über Jahre versucht, diesen in Staat und Gesellschaft zu festigen. Und das bedeutete auch, Russisch nicht als zweite offizielle Staatssprache anzuerkennen.[3]
Philologen in Sorge
Jetzt fürchten Sprachwissenschaftler in Lettland die Einführung der Zweisprachigkeit im Lande, durch die Hintertür. So wenigstens äußerten sich einige in einer Sendung des lettischen Radios. Dort sagte der Professor an der Fakultät für moderne Sprachen der Universität Lettlands, Andrejs Veisbergs, der auch der staatlichen Sprachkommission vorsitzt, daß immer häufiger in Stellenanzeigen unbegründeterweise Kenntnisse des Russischen verlangt würden. Der Gebrauch des Russischen im öffentlichen Raum weite sich generell zunehmen aus etwa durch die Präsenz von russischen Serien im Fernsehen. Ebenso häufig sei etwa im Fitnessstudio, in billigen Cafés oder auch in Geschäften die Verständigung nur auf Russisch möglich. Besonders stört sich der Sprachwächter an der Hauptnachrichtensendung Panorāma des lettischen öffentlich-rechtlichen Fernsehens, wo manchmal von sieben kurzen Straßeninterviews fünf auf Russisch geführt würden. Freilich, lenkt Veisbergs ein, würden diese übersetzt. Aber es sei psychologisch schlecht, wenn das Russische überall so präsent sei. Die Anbieter von Kabelfernsehen, fährt der Wissenschaftler fort, verkauften Pakete mit hauptsächlich russischen Kanälen. Folglich lebten die Einwohner nicht im Informationsraum der Europäischen Union, sondern Rußlands. Dies könne eine Gefahr auch für die nationale Sicherheit sein etwa im Falle der Berichterstattung über den Georgienkonflikt im vergangenen August.
In Lettland sei es möglich zu überleben, ohne die Lettische Sprache zu benutzen oder überhaupt nur zu verstehen. Die Abgeordnete der Neuen Zeit und frühere Bildungsministerin (Dezember 2004 bis April 2006) und Professorin an der Fakultät für Pädagogik und Psychologie der Universität Lettlands, Ina Druviete, stimmt den Befürchtungen Veisbergs bezüglich der Gefahr für die nationale Sicherheit zu. Die Vorsitzende des nationalen Rundfunkrates, die Juristin Dace Buceniece, meint allerdings, daß man nicht alles mit Gesetzen regeln könne. Dies könnten die Privatsender auch als Beschränkung ihrer Tätigkeit auffassen. Die Wissenschaftlerin der Lettischen Universität, Dzintra Hirša, schlägt darum vor, auf andere Möglichkeiten zurückzugreifen, etwa steuerliche Erleichterungen für jene Sender einzuführen, die vorwiegend auf Lettisch senden. Alle in der Sendung befragten sind sich einig über die Bedrohung des Lettischen, wenn auch Professor Veisbergs einräumt, daß er die Existenz des Lettischen nicht als grundlegend gefährdet betrachtet. Gegen die von ihm bemängelten Beobachtungen könne die Wissenschaft jedoch nichts unternehmen, dies sei Aufgabe der Politik. Auch Staatspräsident Valdis Zatlers habe ihm beigepflichtet und versprochen, in der Öffentlichkeit ausschließlich Lettisch zu sprechen. Dies ist nach Meinung des Professors auch die Pflicht aller Politiker, in Ausübung ihres Amtes nur in der offiziellen Staatssprache zu kommunizieren. Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel spreche schließlich mit den zehn Millionen Türken in Deutschland auch nicht türkisch.
Leider beteiligt sich der Professor auf diese Weise an der Verbreitung von in Lettland sowieso schon verbreiteten Mythen, daß etwa Deutschland voller Türken sei, die in Wahrheit etwa vier Millionen Menschen sind und bei einer Gesamtbevölkerung von fast 82 Millionen damit einen Anteil von weniger als fünf Prozent stellen. Auch lassen alle erwähnten Wissenschaftler ein regelmäßiges Bekenntnis vieler Letten außer Acht, daß sie wegen des nicht mehr vorhandenen Bedarfes einer beständigen Verwendung des Russischen inzwischen diese Sprache auch deutlich schlechter zu sprechen als in Sowjetzeiten. Darüber hinaus haben viele Jugendliche überhaupt keine Russisch-Kenntnisse, weil die Sprache seit der Unabhängigkeit kein obligatirisches Schulfach mehr ist. Viele haben auch nicht die Gelegenheit, Russisch automatisch beim Spiel mit den Nachbarskindern zu erlernen. Bildung Sprachkenntnisse sind ein Reichtum. Sie ermöglichen, sich in verschiedenen Informationsräumen zu bewegen.
Aber dafür bedarf es vielschichtiger Bildung. Ein Mensch mit mehr Wissen ist erstens fähig, die angebotene Information kritisch zu bewerten, was vielen Studenten in Lettland bezüglich sozialer, ökonomischer und politischer Fragen sehr schwer fällt. Zweitens wird in den Schulen der Sprachunterricht so weit vernachlässigt, daß jungen Menschen nicht nur kein Russisch verstehen und lesen, sondern häufig auch kein Deutsch, Französisch oder Spanisch, ja nicht einmal Englisch. Sie leben also einzig im lettischen Informationsraum, dessen Möglichkeiten sehr beschränkt sind. Hauptsächlich im Internet surfend kommen sie regelmäßig auf die Seiten der öffentlichen Enzyklopädie Wikipedia, die auf Lettisch meist nur Grundinformationen anbietet, welche überdies häufig fehlerhaft sind. Zu einer kritische Bewertung auch dieser Tatsachen sind die Studenten ebenfalls meist nicht imstande. Dace Buceniecei hat Recht, daß man mit Gesetzen die Zugänglichkeit von Fernsehkanälen nicht einschränken sollte. Das wäre auch ein ziemlich zweifelhaftes Mittel. Hitler verbot, die BBC zu hören. In der DDR war es offiziell nicht erlaubt, Westfernsehen zu schauen, was aber in der Realität nicht durchzusetzen war. Im Volksmund des Ostens wurde die ARD zu „Außer Raum Dresden”, weil es technisch durch die geographische Entfernung dort mit Antennen nicht möglich war, Westkanäle zu empfangen.
Aber was eigentlich wollen die genannten Wissenschaftler eigentlich erreichen? Denkt man ihre Gedanken konsequent zu Ende, dann müßten alle Russen Lettisch können, die Letten aber am besten kein Russisch, damit sie nicht durch das russische Fernsehen beeinflußt werden können? Auf Nachfrage konkretisiert Veisbergs, es ginge ihm vorwiegend um lettische Russen. Sicher, auf diese Bevölkerungsgruppe treffen die Beobachtungen zu. Aber diese Menschen werden einmal nicht mehr da sein. Junge Russen dagegen studieren auf Lettisch. Es gibt auch genug patriotisch gesinnte ältere Letten, deren einzige Fremdsprache Russisch ist, die Putin verehren und sich einen vergleichbaren Politiker für ihre Heimat wünschten. Daß ein Unternehmen von seinen Mitarbeitern erwartet, eine im Land so weit verbreitete Sprache wie das Russische mit der Fähigkeit zum Kundenkontakt zu beherrschen, ist völlig normal. Und es kann nicht im Interesse eines lettischen Staates sein, wenn im Verhältnis zwischen Letten und Russen sich die Sprachkenntnisse im Vergleich zu sowjetischen Zeiten ins gegenteil verkehren. Ganz im Gegenteil. Das führt dann zwar zu einer wenigstens weit verbreiteten Zweisprachigkeit, die aber den Letten ihren Staat nicht raubt. Druviete hat als Professorin das Bildungsministerium bereits einmal geleitet! Auf diese Weise beweist die Elite Lettlands, daß an Stelle der in der Politik erforderlichen Weitsicht und der in den Wissenschaften erforderlichen neutralen Analyse manchmal Provinzialismus vorherrscht.
[1] Diese finno-ugrische Sprache verschwand durch die Assimilierung der Liven, die noch zu Zeiten der Kreuzritter namensgeben für ihr Land waren, im lettischen Volk.
[2] Die Partei für Vaterland und Freiheit war mit einer solchen Forderung 1993 in den Wahlkampf gezogen: Deokkupation, Debolschiwisierung und Dekolonialisierung. Die aus der Interfront, also den Unabhängigkeitsgegnern hervorgeangene Bewegung „Gleichberechtigung“ wiederum plakatierte, die Uhr könne nicht zurückgedreht werden.
[3] Gleichberechtigung verwies gern auf das Beispiel Finnland, wo die Muttersprache der Nachfahren des früheren Kolonialherren Schweden dieses Status genießt. Dabei wurde in aller Regel unterschlagen, daß die finnischen Schweden einen weit geringeren Anteil an der Gesamtbevölkerung stellen und des Finnischen mächtig sind, die Voraussetzungen sich also grundlegend unterscheiden.
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