21. Juli 2008

Bolderāja: ein Blick durch die Ritzen Aufzeichnungen einer Transitreisenden

Etwas Abgesichertes kann ich über Bolderāja nicht schreiben. Ich lebe nicht dort, ich habe auch kein Sommerhaus in Vakarbuļļi an der Daugavamündung, und mein privates und berufliches Leben ist nicht abhängig vom Fahrplan des Autobusses Nr.3.
Ich weiß fast nichts über den Leuchtturm in Daugavgrīva, nichts über die Liebesinsel oder die Festungsanlage von Daugavgrīva. Ich atme nicht den Duft des Meeres ein, auch nicht das schlechtere Aroma der Industrieanlagen; ich lernte weder in der Schule Nr.33 noch Nr.67, ging auch nicht in einen der Nightclubs „Nelda“, „Bonanza“ oder „Tirgus“.
Was bin ich überhaupt?

Aber es gibt ein Genre – der Verkehrszeichen. Niemand erwartet ja von dessen Macher die Präzision eines Juweliers in der Wiedergabe von Tatsachen, oder ernsthafte Argumentation. Das Prinzip ist einfach und alt: was ich sehe, das singe ich auch. Niemandem ist es verboten die Schönheit der Straßen im Frühling zu besingen.
Sie wissen noch weniger über Bolderāja als ich, oder?

Bolderāja ist ein Stadtteil Rigas. Ein wenig entfernt gelegen, ein wenig vergessen, ein wenig wie ein Reservat oder eine kleine Oase. Ein wenig Daugavgrīva.
Zusammen mit dem Stadtteil Vecmīlgrāvis läßt sich Bolderaja als Maßstab von Rigas Straßen ansehen. — Komm zu Besuch! Ach – zu weit? Ach hör doch auf – ich rufe ja nicht gleich nach Bolderāja!
Da gibt es ein Gerücht, irgendein Politiker hätte gesagt: „als ich in Bolderāja wohnte, bin ich immer nur mit der Straßenbahn oder dem Trolleybus gefahren!“

Ich glaube, das ist nur Gerede. Ein allzu eifriger Fehler – es kann nicht sein, dass ein Rigenser, sei es auch ein Politiker, solch einen Fehler begehen könnte. Es gehen nämlich weder Straßenbahnen noch Trolleybusse nach Bolderāja. Nur Autobus Nummer 3. Oder das Fährboot bis Vecmīlgrāvis. Oder bis nach Schweden. Auf der einen Seite das Meer, auf der anderen Seite die Bucht der Daugava, und überall sonst: Wald.
Es gibt auch noch den Fluß Buļļupe, der Bolderāja vom Stadtteil Daugavgrīva trennt, und die Buļļupe ist ein Futterplatz der Schwäne. Und die Einwohner von Bolderāja an der Küste kommen um diese Schwäne zu füttern. Dort schwimmen die Schwäne, weiß, stolz, elegant biegen sie ihre Schwanenhälse und nehmen majestätisch von der Wasseroberfläche die nassen Brotstückchen auf. Und im Röhricht verstecken sich die in Riga seltenen Schellenten. Sie fürchten sich weder vor den Schwänen noch vor den Möven. Wenn einmal Enten aus dem Röhricht herauszuschwimmen versuchen, nahen sofort die Möven heran, laut rufend, fliegen auf sie zu und versuchen sie zurückzutreiben. Es sieht so aus, als ob das ein alter Streit ist, dessen Ursache heute nicht mehr gefunden werden kann.




Bolderāja ist ein Wunderland: ein unbedachter Schritt: und du bist verloren.
Ein der stärksten Mythen über Bolderāja ist derjenige über die schlechte kriminologische Situation. Die Zeitungen schreiben in regelmäßigen Abständen über die in Bolderāja begangenen Verbrechen, über die Drogensüchtigen, die angeblich einen großen Teil der Bevölkerung ausmachen, und über die an schlechten Drogen gestorbenen Jugendlichen. Die Menschen in Bolderāja selbst empören sich darüber: nichts dergleichen ist bei uns, Bolderāja ist überhaupt nicht gefährlich – nicht anders als zum Beispiel in Rigas Altstadt! Doch das übrige Riga schaut zurückhaltend auf Bolderāja und hat es auch nicht eilig, dort etwa Wohnungen zu kaufen. Die Wahrheit liegt – sehr wahrscheinlich – in der Mitte. Meine Freundin, die beim ärztlichen Rettungsdienst arbeitet, sagt, dass es Drogensüchtige in Bolderāja nicht mehr als in Riga gibt – aber Fälle von betrunken aufgefundenen Menschen wesentlich häufiger.

Interessant ist der für Bolderāja typische Patriotismus. Wer nach Irland, England oder Russland auswandert, der sehnt sich nicht nach Lettland oder Riga zurück – aber speziell nach Bolderāja. Im Internet kann man Gedichte finden, geschichtliche Abhandlungen, Gruppierungen, speziell Daugavgrīva und Bolderāja gewidmet.
Es ist überwiegend ein russischer Bezirk. Zum einen, weil wenn ich irgendein Mütterchen auf der Straße auf Lettisch anspreche, dann sehe ich in ihren Augen ein derartiges Erstaunen und Unverständnis, wie es sonst wohl nur vorkommt, wenn ich Chinesisch gesprochen hätte.
Früher gab es in Daugavgrīva eine Bibliothek und in verschiedenen Klubs gab es Schauspielproben nach Gedichten von Sergej Jessenin. Die Bibliothek ist geschlossen, die Klubs wurden zu Nachtklubs.

Es wurden Sozialwohnungen für diejenigen Menschen gebaut, die ihre bisherigen Wohnungen aus verschiedenen Gründen verloren haben: wegen eines Brandes, oder wegen Schulden. Die Bewohner solcher Häuser sind sehr unterschiedlich. Die Häuser ebenfalls. Einige sind gewöhnliche Wohnungen, andere bestehen nur aus einem Korridor und einer gemeinsamen Etagenküche. Tuberkulose und Trunksucht. Sozialarbeiter und die Polizei besuchen solche Häuser oft. Die blauen Autobusse, in denen die Sozialarbeiter des Bezirks der Kurzeme-Vorstadt herumfahren, werden von den Einwohnern treffend als „blaue Pfeile“ bezeichnet - wie die Spielzeugeisenbahn aus den populären Märchen von Gianni Rodari, die kommt um den armen Kindern zu helfen, dort wo die Eltern kein Geld für Geschenke haben.


Die „Aborigines“ von Bolderāja wollen ihren Wohnbezirk nicht wechseln oder gegen irgend welche Güter eintauschen. Sie achten nicht auf die Armut und die komplizierte kriminologische Situation. „Das ist hier doch das Meer!“ – herzlich wundern sie sich über die Zeichen des Unverständnisses bei ihren Gästen.
Wem sonst, aber für mich ... Bolderājas – so sagte es mein völlig des Lebens überdrüssiger Großvater. Iļģuciems, Imanta, Zolitūde und dann noch weiter dorthin. Es rauschen die Kiefern über den neuen Gräbern von Bolderāja, gerade auf halbem Weg von Bolderāja zum übrigen Riga. Dorthin ist für jeden der Weg gleich.

Die Autorin dankt der Webseite
http://boldes.ucoz.ru - eine der besten Quellen für Information und neue Ideen!

Wer diesen Text in russischer Sprache lesen möchte, kann dies hier

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