24. November 2006

NATO-Gipfel: mit den "Dialogen von Jurmala" fing es an

In den Tagen kurz vor Beginn des NATO-Gipfels in Riga wird häufig betont, dass dies das erste Treffen des nordatlantischen Militärbündnisses in einer früheren Sowjetrepublik sei. Schon am 11.Oktober hatte aber die lettische Tageszeitung DIENA zurecht auch an den Beginn ernsthafter Dialoge zwischen Vertretern der USA und der damaligen Sowjetunion erinnert.Vom 15.-19.September 1986 - also vor ziemlich genau 20 Jahren - hatten die "Dialoge von Jurmala" für internationales Aufsehen gesorgt. Erstmals trafen damals sogenannte "Vertreter der Gesellschaft" aus den USA und der Sowjetunion aufeinander. Auf beiden Seiten waren die Repräsentanten sicherlich "handverlesen" - aber heute wird das damalige Ereignis im großen "Dzintars"-Konzertsaal des lettischen Badeortes offensichtlich auch als Beginn eines Prozesses gesehen, der Offenheit, Demokratie und Redefreiheit auch in Lettland wieder zur Geltung verhalf. (Fotos: Archiv INFOBALT, Bremen)

Es war die Regierungszeit von Ronald Reagan und Michael Gorbatschow. Die Abrüstungsfrage zwischen den Großmächten (Stichwort "Rüstungswettlauf") wurde dabei 1986 "als die unschuldigste Frage aller Fragen" behandelt - so sieht es Jurist Aloizs Stepēns in seinem Rückblick heute (DIENA 11.10.06). Das Verständnis zu Menschenrechtsfragen sei damals zwischen den beiden an den Gesprächen beteiligten Großmächten diametral e
ntgegengesetzt gewesen, so sieht es Stepēns heute. Trotz gut vorbereiteter Inszenierungen der Sowjetführung seien damals dennoch einige Themen in die lettische Öffentlichkeit gelangt, die in der Art der Diskussionsweise vorher unbekannt gewesen seien. So habe der damalige Reagan-Mitarbeiter und späterer US-Botschafter in Moskau, Jack Matlock, bereits 1986 in Jurmala offen angesprochen, dass die USA den erzwungenen Verlust der Unabhänggikeit Lettlands nach dem 2.Weltkrieg niemals offiziell anerkannt hätten.

Die Veröffentlichung einer öffentlichen Dokumentation der "Jurmalas Dialogi" fiel dann 1987 bereits in eine Zeit, als die lettische Volksfront, die Unabhängigkeitsbewegung,
die Umweltbewegung, sich bereits ebenfalls stark genug für ein öffentliches Auftreten fühlten. („Jūrmalas dialogi – PSRS un ASV sabiedrības pārstāvju tikšanas“. Verlag Avots, Riga, 1987, 327 Seiten).
Diese Konferenz 1986 in Jurmala war das erste öffentlich dokumentierte Aufeinandertreffen von hochrangigen Vertetern der USA und der damaligen Sowjetmacht. Ein Versuch des Austausches, der natürlich seine Grenzen in den damaligen Möglichkeiten hatte. Etwas Ähnliches hatte es damals bis dahin auf dem Gebiet der Sowjetunion nie gegeben - der Anfang zu selbstständigem Nachdenken von lettischer Seite, das Schicksal in die eignene Hände zu nehmen. Politisch interessierte Menschen in Lettland blicken heute Richtung Ukraine, Weißrussland oder Georgien, wenn sie sich dieser Zeiten erinnern.




2 Kommentare:

lacplesis hat gesagt…

Ja, ich kenne dieses Buch auch. Da hauen sich Jack Matlock und der stellvertr. russische Aussenminister Vladimir Petrovskis die Ideologien um die Ohren - wobei die US-amerikanische Seite von den Herausgebern der lettischsprachigen (Sowjet-)Dokumentation immer hübsch in extra Fußnoten "korrigiert" wird.
Dennoch ist die dort dokumentierte Rede Matlocks interessant: ER traf voll den Puls der Zeit, fing erstmal mit ein paar Worten Lettisch an, entschuldigte sich dann dass er nun in Russisch weiterspreche, und redete immer nur von "Lettland", niemals von "Sowjetlettland". Aber er verteidigte auch den Koreakrieg und die US-Intervention auf Grenada mit sehr schrägen Argumenten. Gründe für angeblich unvermeidliches militärische Eingreifen sind eben immer ziemlich absurd! (siehe auch Bush und der Irak)

Petrovskis wurde übrigens nur 5 Jahre nach dem "Jurmals Dialog" Representant Russlands beim NATO-Kooperationsrat. Auch da eine Kontinuität - seine ideologischen Verteidigungsreden "historischer Fakten" ("Bolschewiken wollen nur den Weltfrieden, und sonst nichts") sind bei "Jurmalas dialogi" lesenswert für alle, denen später der Wechsel der politischen Sprachregelung nicht mehr in Erinnerung ist ...
(leider gibt es, soweit ich weiß, keine englischsprachige Dokumentation von "Jurmalas dialogi"). Oder, wer weiß mehr?

Albert Caspari hat gesagt…

Die "Open Society archives" sagen dazu (übersetzt aus dem Englischen):

"die Konferenz im Herbst 1986 in Jurmala trug dazu bei, Themen der baltischen Staaten in der Welt bekannt zu machen - besonders duch die Beibehaltung der US-Politik, die Einverleibung Estlands. Lettlands und Litauen in die UdSSR nicht anzuerkennen. In Vorwegnahme der Konferenz kritisierten "Pravda", "Izvestiya" und das Magazin "Padomju Latvijas Komunists" die USA scharf dafür. Das hielt US-Botschafter Matlock allerdings nicht davon ab, diese Haltung öffentlich während der Eröffnungsrede zur Konferenz in Jurmala zuwiederholen. Diese Nachrichten verbreiteten sich schnell in Lettland, und über Nacht wurde Matlock so etwas wie ein Held für national gesinnte Letten.
Weiterhin versuchten im Verlauf der Veranstaltung immer mehr Leute in den Veranstaltungssaal hineinzukommen, um die Debatten zwischen den US-Repräsentanten und den Sowjetfunktionären dort zu verfolgen. Einigen gelang es an den Wachen verbei zu kommen, anderen nicht. Der Dissident und Dichter Alfreds Zarins wurde in Vorbeugehaft genommen vom 13. bis 19.September, und konnte daher nicht an den Treffen teilnehmen.
Die Frauen der inhaftierter Menschenrechtsaktivisten Gunars
Astra und Janis Rozkalns wurde plötzlich Besuchserlaubnis erteilt zu den weit entfernt gelegenen Arbeitslagern, wo beide ihre Strafe abbüßten - aber beide konnten natürlich ebenfalls nicht in Jurmala teilnehmen.
Andere Letten, die privat sich mit einigen US-Amerikanern lettischer Abstammung getroffen hatten, wurden peinlichst vom KGB befragt, um zukünftige Kontakte auszuschließen.
Paradoxerweise erhöhten aber solche Vorfälle noch das öffentliche Interesse an der Jurmala-Konferenz: die Leute redeten darüber und hofften, dass das geplante Buch mit den Ergebnissen alles unverfälscht wiedergeben würde."