Nonkonformismus als Lebenslinie
Zumindest gilt Hermanis auch in seinem Heimatland als jemand, der bei fast jeder öffentlichen Diskussion dabei ist - nicht nur wenn es um Kultur geht. 2007 weigerte er sich, zur Verleihung des "Dreisterneordens" (ähnlich dem deutschen Bundesverdienstkreuz) zu erscheinen, weil "es dort einige Personen gebe, denen er nicht die Hand geben wolle". Er schlug vor, man könne ihm den Orden ja auch per Post schicken, und erklärte gleichzeitig den Staat Lettland für "moralisch bankrott" (tvnet). Damals wurde heftig über die Art und Weise diskutiert, wie Präsident Valdis Zatlers ins Amt gekommen war; erst fünf Jahre später, als Zatlers Nachfolger Andris Berziņš das Amt übernommen hatte, erklärte sich Hermanis dann auch bereit, den Orden aus dessen Händen entgegenzunehmen (kasjauns).
Und als 2013 die damalige Kulturministerin Žaneta Jaunzeme-Grende die Leitung der Rigaer Oper lieber neu aussschreiben wollte, als weiter dem international bekannten und seit 1996 amtierenden Opernchef Andris Žagars zu vertrauen (siehe Blogbeitrag), stellte sich auch Hermanis, zusammen mit vielen anderen lettischen Kulturschaffenden, dagegen. "Wenn wir nicht aufpassen, kommt es in Lettland auch so wie in Ungarn, wo Nationalradikale versuchen die Kulturlandschaft in ihrem Sinne zu säubern", sagte Hermanis damals (lsm), wohl wissend, dass Jaunzeme-Grende von der nationalradikalen Partei (Nacionālā Apvienība) in die Regierung berufen war. In Deutschland vielleicht unvorstellbar, aber das Faktum eines ins Abseits gestellten Operndirektors veranlasste den damaligen Regieungschef Dombrovskis, die Kulturministerin kurzerhand zu entlassen (lsm). Aus lettischer Sicht ungewöhnlich waren die offenen Protestmethoden im Kulturbereich - T-Shirts, Facebook-Gruppen und Demos mit dem Slogan "Grende, atkāpies!" (Grende, tritt zurück).
"Graue Eminenz des europäischen Theaters", so bezeichnete ein Kritiker der FAZ 2010 Hermanis: auch wenn man das gelten ließe, ein "Mentor des lettischen Kulturlebens" ist er wohl auch.
Generationen, Nationen, Heimat und Familie
Viele von Hermanis' Inszenierungen drehen sich um die essentiellen Lebensfragen wie Liebe, Tod, Identität und Selbstbehauptung. In seiner Anfangszeit als Chef beim JRT sagte er einmal in einem Interview: "Nach meinen ersten Aufführungen hielten sie mich für einen sexuellen Maniak, nach der zweiten für einen Homosexuellen, nach der dritten schimpften sie mich als dekadent." (KasJauns) Er hatte vieles ausprobiert vorher, nachdem er in den 80iger Jahren nach eigener Aussage darauf gewartet hatte, irgendwie dem Sowjetsystem zu entkommen; Anfang der 1990iger ging er zunächst in die USA - anfangs mit der Absicht, nicht mehr zurückzukehren.
Spätestens seit der Inszenierung von Gogols "Revisor" bei den Salzburger Festspielen 2003 (er gewann dort den "Young directors Award") wurde Hermanis international bekannt und gefragt; er ging jedoch keinesfalls als Eremit oder Einzelgänger durch die Welt. Alvis Hermanis ist gegenwärtig Vater von sieben Kindern: mit seiner zweiten Frau, der Schauspielerin Kristīne Krūze-Hermane hat er drei Kinder, weitere drei stammen aus erster Ehe mit der Estin Merle Kiiver, eines aus einer vorehelichen Beziehung. Gar nicht so einfach, als Vater für diese Kinder zu sorgen: gegenwärtig lebt eines in Deutschland, drei in Estland und drei in Lettland. Auch beruflich hielt sich Hermanis oft in Deutschland auf - eines kann ihm also nicht vorgeworfen werden: die Situation in Deutschland nicht zu kennen. Bei so viel Vaterschaft liegt nahe, dass er auch mit seinem Stück "Väter" irgend etwas von sich selbst mit auf die Bühne brachte (siehe Burgtheater, Hebbel am Ufer), und dies dann sogar noch um zwei Dimensionen - die Generationen, verschiedene Nationalitäten - erweitert. Wen wird es noch wundern, wenn er auch jede seiner Inszenierungen mal als seine "Kinder" bezeichnet hat? "Jede Aufführung hat eine eigene Seele, und sie sind wie Spiegel deiner selbst."
Auch in Russland war Hermanis oft zu Gast, inszenierte dort erfolgreich sein Stück "Langes Leben" ("Gara dzīve"), erhielt dafür 2007 die "Goldene Maske", und wiederholte das 2010: "Goldene Maske" für "Shukshins Geschichten", ein Stück, das er auch in New York (in russischer Sprache) auf die Bühne bringen wird. "Zwar gehen wir jeden Abend ins Theater, aber etwas besseres haben wir nie gesehen!" jubelte damals die russische Fachpresse (zitiert nach "KasJauns") Und Perestroika-Held Mihail Gorbatschow, bei der "Golden Maske" unter den Organisatoren, soll gesagt haben, das Stück habe ihn "emotional sehr bewegt und zum Weinen gebracht, wie ein Kind."
Doch 2014 setzte Putin höchstpersönlich Hermanis auf eine "schwarze Liste" von in Russland unerwünschter Personen - wohl als "Revanche" dafür, dass in Lettland einigen russischen Künstlern die Einreise verweigert worden war, die sich allzu offen zugunsten der russischen Seperatisten in der Ukraine geäussert hatten. - Der Freundschaft Hermanis mit einigen russischen Kollegen schadete das offenbar nicht, Hermanis erklärte lediglich seine "physische Präsenz in Russland" als "gegenwärtig nicht nötig", forderte aber Putin auf, dann konsequenterweise auch das Theaterstück zu verbieten (lsm). Schon 2012 hatte Hermanis zur Uraufführung der Oper "Die Soldaten" an die "Pussy Riot" erinnert, die in Russland verhaftet worden war (KasJauns).
Sowjetische Vergangenheit, erweiterter Horizont
Hermanis, aufgewachsen im Rigaer Stadtteil Ķengarags, schöpft daraus, einen Teil der Sowjetvergangenheit mit anderen Lebensrealitäten zu verknüpfen: das Resultat auf der Bühne erscheint auch lettischen Zuschauern oft paradox, grotesk, absurd, voller Seltsamkeiten. “Als in der Sowjetunion die Veränderungen anfingen, war ich ungefähr 20 Jahre alt," sagte Hermanis einmal (KasJauns). "Ich habe nicht mehr unter diesem Regime gelitten, ich kam da raus wie trocken aus dem Wasser. Das erlaubt mir heute, auch etwas melancholisch über die Vergangenheit nachzudenken. Aber ohne Nostalgie - wohl aber über meine Jugend. Als ich Aufführungen in Westeuropa machte, begann ich zu verstehen, dass man mich wegen dieser Erfahrungen auch beneiden könnte; sie erweitern meinen Horizont."
Hermanis gesteht sich zu, dass manche seiner Inszenierungen ortsgebunden sind: was in Berlin inszeniert wird, könnte in Moskau schwierig zu verstehen sein, und "Shukshins Geschichten" waren nur für Moskau gedacht. In Lettland muss Hermanis manchmal erklären, warum die Aufführungen des Jaunais Rīgas Teātris gerade im deutschsprachigen Raum so gut ankamen, und er erklärt das so: "Das deutsche Theater hat es schon immer vermocht, Ästetik, Intellektualität und meisterhafte Darstellerkunst zu vereinen." (KasJauns)
Danach gefragt, welche Fähigkeit ihm selbst die beste Grundlage bei seiner Arbeit sie, kommt wieder eine erstaunliche Antwort: "der Sport". In seiner Jugend habe er zunächst Eishockey, dann Fußball gespielt; der Held seiner Kindheit sei Helmūts Balderis gewesen, der zunächst Eiskunstläufer, dann Hockeyspieler war. In der lettischen "Yellow Press" ist Hermanis selten zu finden; während andere scheinbar gern Auskunft darüber geben, welche Schokolade ihnen am besten schmeckt, mit welchen Möbeln sie die eigene Wohnung einrichten, oder welche Wiskeysorte sie trinken - Hermanis überlässt die Pressearbeit oft der Marketingabteilung seines Theaters. Auch ein auffälliger Kleidungsstil ist seine Sache nicht. Gefragt danach ob es stimme, dass er am liebsten eine Wand um sich herum bauen würde, sagte er: "Ich bin eben ein typischer Lette, eher zurückhaltend. Alle Emotionen kommen auf der Bühne zum Ausdruck." Aber er sagt auch: "Jeder Künstler hat die Illusion, irgendwann weltberühmt und reich zu werden. Wenn du aber qualitatives Arbeiten wählst, dann isoliert dich das nur; es besteht die Gefahr, dass dich eine immer kleinere Gruppe von Menschen versteht."
Allzu viel Ehrfurcht vor gesellschaftlich scheinbar Bessergestellten kann Hermanis nicht nachgesagt werden. Interessant seine Geschichte über eine Opernaufführung in Salzburg, zu der viele Adelige aus ganz Europa angereist seien. "Plötzlich verstand ich, dass nahezu die Hälfte dieser Personen chronische Alkoholiker mit roten Gesichtern, schlechten Leberwerten und kranken Nieren sind", erzählte Hermanis. "Das ist doch eine traurige Geschichte: all diese reichen Alten, die mit ihren Brillianten spielen, und jeden Tag Champagner trinken." (KasJauns)
Das Theater sei keine gesunde Umwelt, von Zeit zu Zeit muss jeder da raus, sagt Hermanis. Vom Honorar gutbezahlter Aufführungen kaufte er sich ein Haus mit 40 ha Wald drumherum, der nächste Laden 20 km entfernt. Dort verbringt er eigenen Angaben zufolge drei bis vier Monate im Jahr.
Flucht vor den Flüchtlingen? Oder vor den Flüchtlingsfreunden?
Alvis Hermanis also nun plötzlich ein Fremdenfeind, Menschhasser, Antihumanist? Das mögen so ohne weiteres nur diejenigen glauben, die nie etwas mit Hermanis zu tun hatten - zugegebenermaßen viele. Wer Fragen habe, meint er selbst, solle den Text seiner persönlichen Erklärung ganz lesen, unverkürzt, aus erster Hand. Das sei zugestanden.
Aber manchem wird es gehen wie mir: auch wenn ich mir die Zeit nehme alle Einzelheiten seiner Stellungnahmen in Ruhe durchzulesen, auch wenn ich alles über seine Arbeit und seinen verschiedenen künstlerischen Arbeiten und Ausdrucksweisen dazunehme: seine pauschale Verknüpfung von Flüchtlingsschicksalen mit Terroristen kann ich nicht teilen - allenfalls aus einer spontanen persönlichen Befindlichkeit heraus, die dann durch spätere Äußerungen zum Thema wieder relativiert werden könnten. Doch Hermanis schweigt.
Verhältnismäßig differenziert zeigen sich auch die Reaktionen in den deutschen Kulturspalten und Feuilletons - auch wenn Hermanis es anders darstellt, und einzig die NZZ lobt (da diese ihn ausführlich wörtlich zitiert). Populistisch beifallheischend reagierte lediglich die TAZ, die einen recht schlichten, sachlichen Kurzbeitrag schrieb, um dann in der Überschrift eben noch mal den Begriff "rassistischer Regisseur" draufzusetzen. Wobei man wohl richtigstellen muss: nicht die Hilfe für Flüchtlinge hatte Hermanis kritisiert, sondern lediglich die Begeisterung dafür (und für die Grenzöffnung). Ein Theater vor allem zum Refugees-Welcome-Zentrum machen zu wollen, damit will Hermanis nichts zu tun haben, zumal dies seiner Meinung nach gleichzeitig bedeutet, dass andere Meinungen nicht gelten gelassen werden.
Andere Einordnungen muss Hermanis wohl verdauen - wenn er schon eine öffentliche Distanzierung für wichtiger hält, als seine persönlichen Auffassungen eben in Form von Theaterstücken zu verarbeiten. Er ist zu gut mit den Diskussionen innerhalb der deutschen Gesellschaft vertraut, um als "ahnungsloser Idiot" abgekanzelt werden zu können. Aber Begriffe wie "flüchtlingsfeindlicher Regisseur" (Die Welt) oder der Satz von "zu kurz gedachten Wutreden und pauschale Tiraden" (Süddeutsche) sind verständlich. "Auf diesen Regisseur kann das Theater gut verzichten", schlußfolgert sogar "DeutschlandradioKultur", und Jan Küveler legt in der Welt nach: "So paranoid sind ja nicht mal die von Pegida".
Nur schwarz oder weiß?
Es gibt auch andere Stimmen. Was Hermanis in seiner auf der Homepage des Jaunais Rīgas Teātris veröffentlichten Gegenstellungnahme unterschlägt ist, wie wenig "propagandamaschinenhaft" die deutsche Kulturszene reagiert. Das deutsche Theater habe sich "im Konformismus eingerichtet", schreibt der "Tagesspiegel". Bühne und Parkett, im Aktionismus vereint - da setze Hermanis zu recht etwas dagegen. Die "FAZ" konstatiert, Thalia-Indendant Lux habe seinen Regisseur "zum Abschuß freigegeben". Nun ja, offenbar stammte die ganze Auseinandersetzung, die im Ergebnis in der Presseerklärung des Thalia-Theaters resultierte, lediglich aus verschiedenen Emails. Theaterindendant Lux zog seine Schlüsse offenbar nur daraus, was Hermanis ihm schrieb, und machte das Surrogat dann öffentlich. Im Magazin "Kulturzeit" bei 3sat sagte Lux es zwei Tage später dann so:
"Ich habe verstanden, dass das Jaunais Rigas Teatris das einzige Theater ist, wo ich mich wirklich zu Hause fühle", eine Hermanis-Aussage aus einem neuen Dokumentarfilm von Mārīte Balode, Andis Mizišs und Aldis Šēnbergs für das lettische LTV |
"Der Reflex, jetzt wieder nationaler zu denken - der sich in der Flüchtlingsfrage ein Ventil sucht - der beruht auch darauf, dass nachdem man jahrzehntelang fremdbeherrscht war jetzt plötzlich in das westliche System hineinkommt, und man sich darauf besinnt zu sagen: nein, wir sind unter anderem auch Letten. Und das sind natürlich Bewegungen, die man auch ernst nehmen muss. Das sind Bewegungen die letztendlich globalisierungskritisch sind." (3sat) Jan Küveler sagt es kürzer und direkter: "Der Lette an sich mag keine Fremden" (Welt), und versucht dort zu treffen, wo Hermanis zu Hause ist: tatsächlich steht zu vermuten dass dort, wo gerade mal einige einzelne (handverlesene!) Familien zur Aufnahme in den Flüchtlingsstatus zu erwarten sind (im Laufe der nächsten zwei Jahre!), es mit der innenpolitischen Debatte um das Zusammenleben mit unterschiedlichen Kulturen, Mentalitäten und Glaubensrichtungen nicht weit her sein kann.
Das alles könnte auch eine sehr interessante Kulturdebatte sein - wenn da nicht die tatsächliche Gefahr der Rassisten, Fremdenfeinde und Deutschtümler wäre, Pegida-Verblendete und AfD-Zündler eingeschlossen, die offenbar jederzeit bereit sind, Flüchtingsheime entweder selbst anzuzünden oder das zu tolerieren. Zurecht wies Frieder Reinighaus in seinem Beitrag für die "Neue Musikzeitung" darauf hin, dass offensichtlich auch sehr viele Muslime unter den Sicherheitskräften in Paris gewesen seien, die Alvis Hermanis und die Besucher des „La Damnation de Faust“ geschützt haben. Angesprochen auf die Buh-Rufe, die nach den Aufführungen der vergangenen Woche mehrfach in Richtung Hermanis zu vernehmen waren, meinte der Betroffene übrigens in der lettischen Presse, man müsse verschiedene Aufführungen sehen. In der Uraufführung seien übermäßig viele sehr alte Leute gewesen - im Schnitt über 70 Jahren. Bei der Generalprobe dagegen seien es zumeist junge Leute unter 28 gewesen, und diese hätten mit stehenden Ovationen reagiert ("IR").
Nun ja, wir hoffen, dass der Herr Regisseur sich nicht doch noch im Nachhinein zu "Realitätsverschiebung" hinreißen läßt, die schon der polnische Schriftsteller Andrzej Stasiuk attestierte, und den Osteuropäern eine "Quarantäneunion" empfiehlt. Gleichfalls ist zu hoffen, dass Lux' These vom "Auseinanderbrechen Europas" falsch ist. "Wer Ärger vermeiden will, muss nur das Vorgegebene nachplappern" wirft Regiekollege Leander Haußmann ein (Welt). Während Alvis Hermanis tatsächlich meinte, sich bereits in "Zeiten des Krieges" zu befinden, wo "man sich für die eine oder die andere Seite entscheiden" müsse, sagt Haußmann: "Ja, es ist die Zeit der Ideologien. In solchen Zeiten heißt es: Nerven behalten." Wir hoffen das beste - im Sinne der Meinungsvielfalt, der notwendigen Unterstützung für Notleidende, und für ein gemeinsames Europa.
Erklärung des THALIA-Theaters vom 4.12. / Jaunais Rīgas Teātris
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