29. Mai 2014

Wadim aus Europa

10 Jahre EU-Mitgliedschaft feierte Lettland Anfang Mai. 25 Jahre Baltischer Weg werden es im August sein. Nur 30% Wahlbeteiligung bei den Europawahlen, das ist die Gegenwart. Doch trotz scheinbar herausragender politischer Ereignisse, die Staaten, Gesellschaften, Lebensumstände und Wirtschaftssysteme verändern können - manchmal gibt es Dinge, die alle Wertsysteme zweifelhaft und demokratische Grundsätze beliebig erscheinen lassen. Zwei Journalisten haben es geschafft mit ihrem Film deutlich zu machen wie wichtig es manchmal ist, außerhalb von Schablonen und eingefahrenen Sichtweisen zu handeln - und die Augen zu öffnen für Sicht- und Lebensweisen anderer. Der Film "Wadim - Tod nach Abschiebung" erhielt am Montag den Medienpreis des Roten Kreuzes (DRK).

die beiden Preisträger, mit Urkunde und dem
Bremer DRK-Vorsitzenden René Benkenstein (links)
Vielleicht wäre diese Preisverleihung allein keine längeren Bemerkungen wert, denn immerhin ist dieser 2011 fertiggestellte Film bereits mehrfach mit anderen Preisen ausgezeichnet. Ich fühlte mich aber, mitten unter den fein gekleideten und von Maybritt illner moderierten Ehrengästen ein wenig erinnert an 1992, das Jahr als Wadims Eltern sich entschieden, von Lettland nach Deutschland zu gehen. Damals, im ziemlich von Gorbi-Manie beseelten Deutschland, wären sicher viele gern bereit gewesen, gesundheitliche Schäden an aus Lettland flüchtenden Russen pauschal dem (aus scheinbar rein nationalistischen Gründen wieder unabhängig gewordenen Lettland) zuzuschieben. Die gedankliche Brücke baute mir Gaby Schuylenburg in ihre Laudatio, die dem Riga von 1992 "Spuren von Straßenschlachten, mit denen sich die Letten aus dem russischen Joch zu befreien versuchten" zuschrieb. Was schrieb die Laudatorin 1992 über Lettland? Wir wissen es nicht und hoffen, dass hier lediglich das "sowjetische Joch" gemeint ist, von dem sich befreit werden musste - und was glücklicherweise weitgehend friedlich verlief (unwillkürlich kommen ja bei dem Wort "Straßenschlachten" aktuelle Bilder aus der Ukraine in den Sinn).

Das Schöne an guten Filmen (und guter journalistischer Arbeit) ist ja, dass sie auch abseits wechselnden Rahmenbedingungen und tagesaktuellen Trends gleich gut bleiben. Am Film von Carsten Rau und Hauke Wendler wurde zu Recht vor allem die journalistische Qualität gelobt, und die verlangt eine gewisse Distanz zu den beschriebenen Gegenständen. Nein, es kann nicht von "Wahrheit" die Rede sein über die man berichten möchte, auch wenn eine gewisse Sympathie zu den gezeigten und beschriebenen Menschen von Nutzen sein kann. Oder ist es sogar anders herum - sind es die gezeigten Menschen (im Fachjargon auch "Protagonisten" genannt), die erst durch ihre starken Charaktäre den Filmemachern den Weg weisen, was sich zu filmen und festzuhalten lohnt?

Es gibt keine platten Schuldzuschreibungen im Film, mit denen die beiden Filmemacher ihre Zuschauer vielleicht auf den "richtigen Weg" bringen wollten. "Spurensuche mit der Kamera" wäre schon besser gesagt: auf der Spur nach den eigentlichen Wünschen und Träumen der Protagonisten, ihren Lebens- und Überlebensstrategien, auf den Spuren der Mechanismen innerhalb der Gesellschaft. Auch auf der Spur verborgener oder verdeckt gehaltenen Zusammenhängen zwischen Ländern und politischen Systemen. Aufmerksam zuschauen und zuhören ist hier angesagt - auch für Liebhaber eines friedlichen und möglichst gemeinsam gestalteten Europa. In einem Film bei dem soviel von dem gezeigt wird, was wirklich "schief geht", und der am Ende so traurig endet, sind viele Gedanken möglich die sich auf "hätte man doch" oder "sollte man doch" reimen. Carsten Rau und Hauke Wendler treten persönlich entschieden für eine entgegenkommendere deutsche Asylpolitik ein, wie die der Preisverleihung anschließende Diskussion zeigte (siehe Ausschnitte unten). Aber nicht nur für Kritiker deutscher Behörden ist dieser Film zu empfehlen - auch gleichermaßen für Letten wie für Russen.

Webseite zum Film  / Pier 53 Filmproduktion


Vadim - Tod nach Abschiebung from Albert Caspari on Vimeo.

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