Tja, ist das nun ein Beispiel von Blitz-Integration, vom falschen und dem richtigen Fuß, oder ein Beweis für die vielen ungenutzten Möglichkeiten, die sich in Lettland bieten? Jöran Steinhauer, Pfarrerssohn aus Bochum, geboren in Witten an der Ruhr, eigentlich Student der Europastudien, studiert gerade Lettland am praktischen Beispiel die Möglichkeiten ein neues, fremdes Land für sich zu erobern. Mit dem Lied "Paldies Latinam" (Danke, kleiner Lat) traf er in den vergangenen Monaten schon sehr gut die lettische Stimmung - derart gut, wie es wohl lange kein Deutscher mehr geschafft hat. Nun ja, über etwas, dass scheinbar unvermeidlich ist, wird eben in Lettland selten nachgedacht, geschweige denn geredet, diskutiert oder gesungen - erst "Aarzemnieki" haben das verändert.
Nun wird ihr neuestes Werk "Cake to bake" (ein Kuchen zu backen) der lettische Beitrag zur Eurovision 2014 sein, der Anfang Mai in Kopenhagen ausgetragen wird.
Ein Deutscher, der Lettinnen und Letten begeistert? Ja, das kann dann doch wohl nur singend erreicht werden.
Jöran S. auf der Werder-Weihnachtsfeier 2011 |
Ein Auftritt vor 6 Jahren - aber ob das Stadium "mehr als 27" erreicht wird, entscheidet sich wohl erst in Kopenhagen |
Gepostet, gesimst, gevotet
Kurz vor dem entscheidenden Auftritt, dem lettischen "Eirovizija"-Vorentscheid am 22.Februar in der Ventspils, witzelte der lettophile Barde mit den Radiojournalisten auch in Niederländisch, Spanisch, Französisch und Italienisch. Vor allem seiner offensiven Kommunikationsstrategie ist es wohl zu verdanken, dass seine Chancen als Deutscher "Lettland" vertreten zu dürfen, permanent hoch gehalten wurden. Ungeachtet aller möglichen Fehler, die Sprachanfänger eben so machen spricht Jöran in seinen selbstproduzierten, größtenteils auf Youtube und Facebook eingestellten Filmchen offenbar alles an, was ihm spontan durch den Kopf geht. "Hilfe, macht mich zum Letten!" ist dabei genauso ein Motto wie "Deutsche Schlager, Lettisch" oder ein Lied über die deutsche Sehnsucht nach Currywurst. Um einen Werbeclip aufzunehmen lädt Jöran seine lettischen Fans kurzerhand zu einem Flashmob auf den Bastejkalns ein.
Dennoch klingt das lettische Medienecho auf den Vorentscheidungs-Sieg der "Ausländer" vorwiegend nach einer nur langsam abklingenden Überraschung. Einhellige Begeisterung liest sich anders. Und wer Gründe finden möchte, dass der "Kuchensieg" doch nicht ganz "normal" war, könnte sie auch im Abstimmungsmodus suchen: es gab sowohl eine Jury, eine Telefonabstimmung, und eigentlich auch eine Internetabstimmung - letzteres aber mit technischen Schwierigkeiten. Abstimmen konnte bei der lettischen Endausscheidung jede und jeder, der und die über einen Facebook- oder Twitter-Account verfügt - also auch Deutsche aus Deutschland. Lettische Prognosen hatten vorher zwei andere Favouriten ausgemacht: "Dons" mit „Pēdējā vēstule” ("Im letzten Brief") und Samanta Tīna mit "Stay". Beide standen zum Schluß auch mit ganz oben - nur eben nicht auf der obersten Stufe.
Deutsch-europäisch-erfolgreich?
"Der Lat geht - Jöran bleibt" wusste schon die lettische Frauenzeitschrift "Una" in ihrer Februarausgabe |
Günstig für die "Aarzemnieki" wirkte sich im diesjährigen lettischen Finale auch aus, dass einige Beiträge noch viel mehr zwiespältige Reaktionen bei Jury und Publikum hinterließen. So versuchten Ralfs Eilands, Valters Pūce und Nelli Bubujanca mit ihrem Lied "Revelation" offenbar, den Kiewer Maidan live auf eine lettische Bühne zu bringen, mit ukrainischen Armbändern, gruseligen Melodien und am Schluß zertrümmerten Instrumenten. Liedtexte wie "Demokratie hat unsere vergifteten Körper mit Wahnsinn überschüttet." Ist es das, was Europa bewegt? Samanta Tīna's "Stay" wiederum wirkte ein wenig in Sound und Inszenierung wie der dritte Aufguß des 2012 erfolgreichen "Euphorija" (Laureen, Schweden).
Straßenmusiker im besten Sinne
Andere Reaktionen auf lettischer Seite schieben das Resultat der diesjährigen Auswahl auch darauf, dass junge Leute in Lettland eben eher für die üblichen Talentwettbewerbe abstimmen als für die Eurovision ("Talantu fabrika" heißt das in Lettland). "Und wenn man dann Geld dafür ausgeben soll für einen Anruf oder eine SMS, es anderswo aber auch kostenlos per Internet geht, dann ist klar: das Geld wird gespart," so einer der Kommentare in den einschlägigen Foren. "Dann gewinnen am Ende eben Dilettanten und Amateure". Harte Vorwürfe, aus denen klar wird, dass offenbar besonders die lettische Musikszene und Fachpresse nicht unbedingt Freunde der "Aarzemnieki" sind. Beim Vorentscheid hatte die Jury eher dem Sänger Don den Vorzug gegeben, und nachdem auch die Internetstimmen keinen entscheidenden Vorsprung erbrachten entschieden die "Telefonstimmen", wo "Aarzemnieki" mit mehr als 100 Stimmen vor den Konkurrenten lagen.
Der Spruch "die Lieblingsspeise der Letten ist .... ein anderere Lette" war ja schon bekannt - ob er sich auch gegen lettisch integrierte Ausländer richtet? Vielleicht dann doch lieber nicht, denn schon lassen sich Stimmen vernehmen über die in Kopenhagen zu erwartende internationale Konkurrenz a la "Conchita Wurst" aus Österreich. "Ein Mann in Frauenkleidern!" (apollo.lv) ist hier aus lettischer Sicht offenbar schon abschreckende Überschrift genug.
Raimonds Pauls, als einer der anerkanntesten bekanntesten Kulturmenschen Lettlands regelmäßig nach Kommentaren befragt, äußert sich da schon differenzierter. Zwar sei Samanta Tīna seine diesjährige Favouritin gewesen, aber beim Eurovisions-Finale seien "Wunder jeder Art möglich." Und Vorjahresteilnehmerin Annmary meint, man solle doch "savējie" (die unsrigen) unterstützen im großen Finale. Samanta Tīna selbst, im "Superfinale" auf Platz 3 und damit im dritten Jahr in Folge nur auf "ferner liefen", will in Zukunft nie mehr an der "Eirovizija" teilnehmen. "Ich hätte ja nichts gesagt, wenn Don gewonnen hätte", sagte sie der Presse, "er ist mein guter Freund, und ich bewundere ihn." - Wesentlich abgeklärter beurteilt da die Kommentatorin der Tageszeitung DIENA den Erfolg der "Aarzemnieki" - allerdings verbunden mit dem Wunsch nach besserer Show: "Lasst sie doch in Kopenhagen auf der Bühne Kuchen backen!"
PeR
"Letztes Jahr ging es mir nicht gut, und ich wusste nicht was ich weiter machen sollte." Auch solche Sätze hört man von Jöran - wenn man genau hinhört.
"More than 27" hieß sein Lied, mit dem er es 2008 bei der lettischen Vorentscheidung schon einmal versuchte. Singen als Krisenbewältigung - im oft ach so melancholischen Lettland keine unbekannte Beschäftigung. Eigentlich waren damals die 27 EU-Mitglieder gemeint: ich fahre ein deutsches Auto, mag russische Filme, griechische Tänze, spanische Malerei - aber ich spreche "europäisch". Also doch gesungene Europastudien? Inzwischen ist Jöran 27 Jahre alt, vielleicht war es also zunächst eine Wunsch-Prophezeihung für sich selbst.
Die kommenden Wochen bis zum Mai werden sicher "Grenzerfahrungen" sein - für "Ausländer" ja gewohnte Erlebnisse, aber das Ergebnis könnte auch sein sich wie ein "Außerirdischer" zu fühlen, der nach diesem Höhenflug lieber wieder sicher landet. Aber wo? "Es labāk gribu palikt Latvijā!" (ich will lieber in Lettland bleiben) war vom Exil-Bochumer zu hören und zu lesen, wenn lettische Journalisten fragten. Ob er eher in Richtung lettische Ehrenbürgerschaft oder in andere Richtungen geht, wird interessant zu beobachten sein. Jedenfalls wird das Eurovisions-Halbfinale und Finale Anfang Mai dadurch nicht uninteressanter.
Facebook-Seite der "Aarzemnieki" / Youtube-Filme von "Aarzem nieki" / Lettischer Vorentscheid (Aufzeichnung)
(Nachtrag April 2014) und nun auch noch dies: einigen Lettinnen und Letten war der Song offenbar zu "nett" gemacht, und so singen sie nun "Steak to make"
fabelhaft lustige Folknummer
fabelhaft lustige Folknummer
fabelhaft lustige Folknummer
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen