25. Juli 2012

Jenseits von Olympia ...

Während in London die Olympiade beginnt, ist für den Letten Alexandrs Briedis die Organisation von Sportaktivitäten bereits seit Jahrzehnten Alltag. Wer den rüstigen 74-jährigen zum ersten Mal sieht mag vielleicht für einen Moment lang denken: was macht so ein alter Herr unter so vielen jungen Leuten? Aber wer genauer hinsieht, wird schnell feststellen: mit allen Anwesenden gleich welchen Alters geht Briedis vertraulich um, ist stets als erster am Ort des Geschehens, informiert nachsichtig, aber mit fester Stimme Regelunkundige, und so wird klar: es muss sich hier wohl um einen echten "Spiritus rector" handeln.

Aleksandrs Briedis im Einsatz
Treffen wird man Alexandrs Briedis in diesem Sommer vielleicht in einem der Parks oder den angrenzenden Erholungsgebieten in und rund um Riga: montags auf der Kartbahn im Wald von Biķernieki, mittwochs im Uzvaras Park, donnerstags im Park von Bieriņi am Flüsschen Mārupīte, und freitags im Mežapark. Briedis organisiert Fahrrad-Wettbewerbe für Kinder und Jugendliche, und hat ein einzigartiges Motto dafür gefunden: "Nekur Eiropā – tikai Latvijā Riteņvasara visdemokrātiskākās sacensības" (nirgendwo in Europa - die aller-demokratischten Wettbewerbe, nur in Lettland). Wer Briedis beim Organisieren zusieht, bekommt bald einen Eindruck davon, was er unter "demokratisch" versteht: jede und jeder bekommt eine Chance, die Antrittsgelder sind gering oder ganz erlassen (die Siegerpreise entsprechend von Firmen gesponsert), kleinere Kinder bekommen es nur mit etwa gleichstarken Altersgenossen zu tun. Und sind einmal nicht genug ehrenamtliche Helfer an den Stellen wo sie gerade gebraucht werden, ist Aleksandrs Briedis auch schon mal mit Trillerpfeife, Magaphon, Start- und Zielflaggen und mehreren Taschen gleichzeitig beladen zu sehen. Der Wettbewerb muss schließlich weitergehen - und ordnungsgemäß zu Ende geführt werden.

lettischer Sportlernachwuchs
Briedis' Einsatz hat inzwischen bereit mehrere Jahrzehnte Tradition. Nachdem er 1962 an der Universität in Riga seinen Abschluß als Jurist gemacht hatte, begann er seine Arbeit beim Auto-Motor-Klub in Bieriņi (einem Stadtteil im südlichen Riga). Außerdem arbeitete er in der heute legendären Mopedfabrik des "Sarkana Zvaigzne" ("Roter Stern", ehemals Ērenpreiss", dann Rīgas velosipēdu rūpnīcu RVR). Bereits zu Schulzeiten hatte Briedis sich als Bastler an Mopeds und Fahrrädern hervorgetan, als Student organisierte er Lettlands ersten Moto-Ball Wettbewerb (Ballspiel mit Mopeds, siehe auch www.motoball.de). Unter dem Dach der DOSAAF (eine Art "Armeesportklub" der technischen Hochschulen) gelang es Briedis zusammen mit einigen Freunden schon 1958 einen Motorsportklub in Riga zu gründen.
ein Fotos aus der lettischen Sportgeschichte

Seit 1961 gibt es Wettbewerbe auch für Geländemotorräder, seit 1964 die Wettbewerbe auf den Trassen von Baldone und Bieriņi für Kinder und Jugendliche. Und gleichzeitig wurde auch "Skijoring" wiedergelebt (von „Skijöring“ / Skikjøring aus dem Schwedischen / Norwegischen) - Skifahren mit Seil angespannt an Autos, Motorräder oder Pferde. Etwa 1000 Skijoring-Sportlerinnen und -Sportler soll es in den 80er Jahren in Lettland gegeben haben.

"Aleksandrs kontrolliert die Mopedmanie" schrieb die Zeitschrift SPORTS einmal über die vielen Aktivitäten von Aleksandrs Briedis."Er hätte auch ein berühmter Anwalt werden können", spekulierten die lettischen Sportjournalisten, "statt dessen feiert auch der von ihm ins Leben gerufene Wettbewerb des 'Goldenen Mopeds' in diesem Jahr schon ihr 40.Jubiläum." Das war 2011. Briedis meinte einmal zu seiner möglichen juristischen Karriere dass die entsprechenden Kenntnisse ihm damals sicherlich auch geholfen haben, Genehmigungen für die verschiedenen bis dahin nicht praktizierten Sportarten und eingesetzten Maschinen zu bekommen. Wechselweise seien den Gründern damals mal anti-sowjetische Aktivitäten, mal unmoralische Angebote für die Jugend mit kapitalistischer Charakteristik vorgeworfen worden, erzählt der Sportveteran. Auch heute noch sei es wichtig, Kindern und Jugendlichen etwas anzubieten, wo wie sich köperlich draußen bewegen können, oder wo sie eben ihre Fahrsicherheit testen können.

Gebt mir ein Sportgerät!
 Auch mit dem Jugendhaus "Anna 2" arbeitet er inzwischen zusammen und organisiert Fahrrad- und Moped-Wettbewerbe. Und wer so bekannt ist, darf sich auch nach Jahrzehnten voller Aktivitäten nicht vor allerlei Anfragen scheuen. "Neulich nahm mein sechsjähriger Junge an dem Radrennen im Uzvaras-Park teil", fragt eine besorgte Mutter auf dem Portal "Ritenvasara" an, "wie kann es sein, dass er in der Erwachsenengruppe starten musste?" - Nein, alles wird seine Ordnung haben. Solange Alexandrs Briedis dabei ist, werden die Fragen beantwortet werden, Teilnehmer gesichtet und zum Start bereit gemacht, und alle Rennen gerecht für alle durchgeführt. Fast jeden Tag an einem anderen Ort in Riga, Woche für Woche. Lai veicas!

Mehr über Aleksands Briedis (engl.) / Zelta mopēds / Fahrradwettbewerbe "Riteņvasara"

19. Juli 2012

Im Ausland arbeiten, zu Hause verarzten

Alte Zeiten
Über das lettische Gesundheitssystem ließe sich manches erzählen, und das hat auch mit dem Wandel der Zeiten zu tun. In den stürmischen Zeiten der lettischen Unabhängigkeitsbewegung war es noch möglich, lettische Gäste zum deutschen Hausarzt zu schicken, wenn der Gastgeber dafür bürgte: Gast auf Gastgebers Krankenschein, sozusagen.
Inzwischen schauen deutsche Ärzte ihre Kunden schon sorgenvoll an, wenn sie von Reisen nach Osteuropa erzählen - denn manche Dienstleistung ist dort weitaus preisgünstiger zu haben als bei Ärzten in Deutschland.
Und auch die Fälle lettischer Patienten im Ausland sind inzwischen nichts ungewöhnliches mehr - einer der bekanntesten war im vergangenen Jahr der Rigaer Bürgermeister Nils Ušakovs, der nach einem Marathonlauf zusammenbrach und sich anschließend in der Berliner Charité einer teuren Spezialbehandlung unterziehen musste (zur Kostendeckung wurden Spenden gesammelt). Auch Ex-Präsident Zatlers nach einer in den vergangenen Monaten bekannt gewordenen Erkrankung  wahrscheinlich ähnliche Dienste in Anspruch nehmen.

Unterschiedliche Reiseziele: der Weg zur Arbeit,
der Weg zum Arzt
Neue Trends
Was nun aber in der lettischen Presse bekannt wurde, ist als Massenphänomen noch neu in Lettland (siehe IR, . Ärzte in Lettland sollen bei ihren Abrechnungen über 200.000 behandelte Patienten mehr angegeben haben, als in Lettland überhaupt noch gemeldet sind. Die im Jahr 2011 durchgeführte Volkszählung wies eine Bevölkerungszahl von 2.070.371 in Lettland gemeldeten Einwohnern aus. Auch das könnte schon möglichst positiv gerechnet sein, denn Lettland hat kein Interesse, die eigene Einwohnerzahl möglichst kleinzurechnen.
Lettische Ärzte bekommen ihr Entgelt pro Patient, plus Art der Behandlung, mulipliziert mit einem festgelegten Faktor. Die jetzt bekannt gewordenen ärztlichen Abrechnungen sind aber keineswegs gefälscht - die Patienten existieren tatsächlich. Wie es aussieht, lassen sich viele Lettinnen und Letten, die mangels Jobmöglichkeiten in Lettland als Arbeitsmigrant/innen ins Ausland gehen, weiterhin "zu Hause" bei Ärzten in Lettland behandeln. Momentan sieht die lettische Gesetzgebung noch vor, dass für die Gesundheitsversicherung lettischer Bürger ihr Staat zuständig ist, erläutert die lettische Gesundheitsministerin Ingrīda Circene. Im Gegensatz zum Beispiel zum Nachbarland Estland, das mit Finnland Abkommen über den Ausgleich finnischer Arztrechnungen geschlossen hat, ist in dieser Hinsicht in Lettland bisher noch nichts geschehen. Am liebsten würde sie, so verrät die Ministerin, die fälligen Arztrechnungen denjenigen Ländern schicken, in denen die Letten legal (als versichert) arbeiten. Aber ob sich das realisieren läßt?

Wem der gegenwärtige Zustand nutzt? Den Ärzten in Lettland schadet es wohl kaum - und kaum ein Arztbesuch ist kostenfrei, für vieles sind Zuzahlungen fällig (diese machen rund 20% der Gesamtfinanzierung aus, so ist es auf einer Infoseite der AOK nachzulesen). Aber das Gesundheitsministerium arbeitet derzeit an Gesetzesänderungen, die eine staatlich finanzierte Gesundheitsvorsorgen, gekoppelt an die Einkommenssteuer vorsehen (siehe Pressemitteilung). Alle, die davon nicht erfasst werden, sollen dann monatlich etwa 20 Lat (ca. 30 Euro) zusätzlich zahlen. Dieses neue System könnte dann im Juli 2013 in Kraft treten, denn die jährlichen Datenübersichten werden bis zum 1.April des jeweils kommenden Jahres erhoben, also bis zum Juli könne man startklar sein, meint die Ministerin, sofern das Finanzministerium diesem Vorschlag zustimme. Natürlich stünde es denjenigen, die im Ausland arbeiten auch frei, sich privat zu versichern, meint Ministerin Circene. In den lettischen Medien sind allerdings auch Leserreaktionen zu lesen, die befürchten, alle Bemühungen die im Auslnad arbeitenden und lebendeen Letten zur Rückkehr zu bewegen seien umsonst, wenn der Staat andererseits dann solcherart Verbindungen zur Heimat zu kappen bemüht sei.

Infoquellen zum lettischen Gesundheitssystem:
Infoseite der AOK / Deutsches Ärzteblatt / Bundesgesundheitsministerium /
Gesellschaft für Außenwirtschaft /

18. Juli 2012

Diplomatisches Wiedersehen

Für Hagen Graf Lambsdorff, den ersten deutschen Botschafter in Riga nach Wiedererlangung der Unabhängigkeit Lettlands, war es 1991 ein Wiedertreffen mit einem Land, in dem ein Teil seiner Vorfahren lebte. Der nächste Generationswechsel ist hier wohl schon vollzogen: inzwischen ist Sohn und EU-Abgeordneter Alexander Graf Lambsdorff wohl in der Öffentlichkeit bekannter als der Vater.
verblichene Fotos & aufpolierte Aufgaben
Aber in Riga gibt es auch einen Generationswechsel: neue deutsche Botschafterin ist eine Frau, die als Kulturattaché am Aufbau der Botschaft in Riga zwischen 1992 und 1995 beteiligt war: Andrea Wiktorin.
Ob die Ex-Kulturbeauftragte nun in Riga auch über "alte Zeiten" nachsinnen wird? Das jetzige schmucke, aber auch abgeriegelte Botschaftsgebäude am Raina Bulvaris 13 wurde erst 1997 bezogen. Davor - das waren die Zeiten eines ersten Provisoriums im Hotel Ridzene (heute: Radisson Blu Ridzene), wo Botschaftsmitarbeiter Gäste auch schon mal auf dem Hotelbett sitzend empfingen, und später dann im dritten Stock eines Gebäudes am Aspazijas bulvaris, als zeitweise Hunderte von Metern über Treppen und Bürgersteige Menschen nach begehrten Visumstempeln anstehen mussten. 
Auch die Altstadt in Riga sah damals noch anders aus: kaum Edelrestaurants und Nachtbars, dafür aber noch Galerien (M6 !) und Buchläden.
Aber ich denke, Riga empfängt "Wiederholungstäter" gern - denn mit Zwischenstationen in Belarus und Armenien, im Auswärtigen Amt teilweise zugeordnet dem Referat "Russland und GUS", oder als Jurymitglied zur Verleihung eines Preises für deutsch-russisches Bürgerengagement (Robert-Bosch-Stiftung) wird der Blick auf Lettland heute sicherlich durch vielfältige Fassetten inzwischen angereichert sein. In Armenien ist Frau Wiktorin unter anderem "Baumspenderin" geworden (20 Bäume für den Erhalt der Natur Armeniens) - dieses Maß an Engagement sollte sich doch für die kommende Zeit in Lettland mindestens auch erreichen lassen.

13. Juli 2012

Bahnfahren durchs Politikgestrüpp

Als Anfang der 90er Jahre - kaum war der "eiserne Vorhang" gefallen - der von Estland mitfinanzierte "Balti Express" von Berlin über Warschau und Vilnius nach Tallinn fuhr, da hielten viele diese Reiseform um den Nordosten Europas kennenzulernen für ideal. Die gesellschaftlichen Unterschiede waren noch groß, die Menschen lebten in Stadt und Land noch völlig anders als in Westeuropa.
Allerdings war es damals noch schwierig, im Lande und auf Bahnhöfen weiterzukommen: kaum jemand konnte Englisch oder Deutsch Auskünfte geben, ein Fahrplanaushang war nur schwer zu finden, und vor den Schaltern standen die Wartenden manchmal in langen Schlangen - oft ohne leicht erkennbaren Grund. Mit dem Zug von Deutschland nach Lettland fahren hieß damals, sich ganz allmählich, von Bahnhof zu Bahnhof, anzunähern.
Ein Bild aus alten Tagen:schwerfällige Züge, energie-
fressender Betrieb, hohe Einstiege: die lettische Bahn
bedarf derModernisierung (Abb.:Bahnhof Tuckums 1996)

Die Bahn fährt hinterher
Wer seit damals jetzt zum ersten Mal wieder eine Zugverbindung nutzt, wird große Veränderungen feststellen. Der Hauptbahnhof Riga ist mit mehren Einkaufsmeilen verknüpft, der Weg zum Gleis manchmal schwer zu finden. Wer mit dem Schiff kommt - beispielsweise nach Ventspils oder Liepaja - wird staunen, dass dort so gut wie gar kein Bahnanschluß mehr zu finden ist. Und selbst wer von den einzeln noch in Betrieb befindlichen Schmalspurbahnen Lettlands mal gehört hat, wird wahrscheinlich Staunen an lettischen Bahnschaltern erregen, wenn auf einer Zugfahrkarte bestanden würde um deren Ausgangsbahnhöfe zu erreichen.

Valmiera, Sigulda, Salacgriva? Pärnu, Šiauliai,
Kaunas? Eigentlich möchten alle dabei sein - aber beim
Thema Bahnverkehr eilt es offenbar niemand
Dennoch ist das Netz der lettischen Bahnbetriebe ("Latvijas dzelzceļš") dieser Tage zu einem großen Thema der lettischen Politik geworden. Die Schienenstrecken müssen modernisiert werden, neue Waggons und Lokomotiven angeschafft, und auch die Wiedereröffnung guter internationaler Verbindungen zu den Nachbarländern ist längst überfällig. Allerdings gibt es in Lettland keine "Pro Bahn"-Kampagnen - auch wenn sich seit der Wirtschaftskrise nicht mehr jeder unbedingt ein Auto leisten möchte. Vielmehr sind hinter den verschiedenen öffentlich geäußerten Meinungen vermeintlich leicht entweder eigene (Geschäfts-)Interessen, oder diejenigen starker Lobbygruppen zu erkennen. So stritten noch im vergangenen Jahr die politischen Parteien über die Prioritäten: sollen zuerst die Bahnverbindungen nach Tallinn und Vilnius bzw. Kaunas - und damit innerhalb der EU - modernisiert und ausgebaut werden, oder sehen starke Interessenvertreter der Wirtschaft ihre Vorteile eher an einer besseren Verbindung nach Moskau?

Bahnfahren - auch eine Frage der Perspektive
Als sich im November 2011 die Regierungschefs der drei baltischen Staaten anläßlich eines Arbeitstreffens auf die Verwirklichung der Ziele des EU-weiten Projekts "Rail Baltica" verständigten, waren dennoch manche grundlegenden Fragestellungen noch gar nicht entgültig entschieden. Für welche Geschwindigkeit soll die Strecke ausgelegt werden, und soll auf der bisherigen breiten Spur (1520 mm) ausgebaut werden, oder die in Westeuropa übliche schmalere Spurbreite (1435 mm) eingeführt werden? Polen, Litauen, Estland und Lettland sind in das Projekt direkt involviert. Und während für Helsinki sich mit einer direkten Zugverbindung nach Berlin ein weiteres "Tor nach Europa" öffnen würde (über die konkrete Schienenverbindung zwischen Tallinn und Helsinki wird noch gegrübelt), steht aus Berliner Sicht das Projekt offenbar unter dem Schlagwort "von Berlin nach St.Petersburg". Ein möglichst attraktives Ziel "am anderen Ende" benennen zu wollen, das ist offenbar allen Akteuren gemeinsam.

die momentan wahrscheinlichste
Trassenvariante der "Rail Baltica"
Offiziell werden meist die europaweiten Ziele von "umweltfreundlichen Verkehrsformen", Verminderung des CO2-Gehalts in der Luft, und Vermeidung von zuviel Auto- und LKW-Verkehr als Begründung für das Projekt genannt. Jahrelang haben allerdings die politische Verantwortlichen der Region östlich der Ostsee die Bahn vernachlässigt: in Lettland ist gerade mal noch die Nahverkehrsverbindung zwischen Riga und dem Badeort Jurmala gut mit Passagieren ausgelastet. Längst hat das Streckennetz mit dem, was vor 20 Jahren mal nutzbar war, nicht mehr viel gemeinsam. Es fehlt auch wahrscheinlich das Gefühl, im Sinne starker Bürgerinteressen handeln zu können, wenn lettische Politiker vor der Frage stehen, sich für die Bahn als Verkehrsmittel einzusetzen. Als allerdings wegen der Vulkanasche aus Island im Frühjahr 2010 der Luftraum auch über Lettland tagelang nicht nutzbar war konnte jeder leicht erkennen, wie einseitig die Verkehrsströme ausgelegt sind - abseits von Flug, LKW, PKW und Bus hat die Bahn stark an Bedeutung verloren.

Dieser Waggon wurde von der EU mitfinanziert - zu sehen
auf der Bahnfahrt von Riga nach Tukums
Welche Streckenführung nutzt wem?
Nachdem bereits 2007 eine erste Machbarkeitsstudie erstellt worden war, gewann im Jahr 2010 die britische AECOM Ltd. eine Ausschreibung, um verschiedene Streckenvarianten zu untersuchen. Nachdem zunächst 20 Varianten in der Diskussion waren, wurden dann vier ernsthafte Varianten erwogen (sogenannte "rote", "orange", "gelbe" und "grüne" Route).Die "rote" Variante wurde als die beste ermittelt; falls diese so realisiert wird, wird es auf der "Rail-Baltica"-Route nur wenig Haltestellen geben: Tallinn Flughafen, Tallinn Stadt, Pärnu, Riga, Panevėžys und Kaunas. Insgesamt 728 km wäre diese Strecke lang: 229 km in Estland, 235 km in Lettland und 264 km in Litauen. Die Kosten für diese bis 2014 zu bauende neue "Schmalspur"-Schnellstrecke werden auf 3,68 Milliarden Euro geschätzt, der in Lettland zu bauende Teil soll 1,27 Milliarden Euro (889 Millionen Lat) kosten, wobei eine Mitfinanzierung durch die EU von mindestens 56% als gesichert gilt. Eine mögliche stärkere Mitfinanzierung durch die EU (bis zu 85%) hängt vor allem davon ab, ob Lettland diesem Bahnprojekt Vorrang gegenüber anderen Infrastrukturprojekten einräumt - zum Beispiel der Elektrifizierung der Bahnstrecke nach Moskau. Nach der Inbetriebnahme soll die Strecke sich für 30 Jahre selbst finanzieren - gerechnet wird vor allem mir einem starken Wachstum im Güterverkehr. Bahnreisende werden dann mit einem Grundpreis von 8 Cent pro Km rechnen müssen. 

Wem kommt da etwas Spanisch vor?
Gegner des Projekts rechnen für Lettland größere Möglichkeiten im Ost-West-Geschäft aus - also in der Elektrifizierung der Bahnstrecke Richtung Moskau. Aber das "Rail-Baltica-Projekt" ist nicht der einzige Diskussionsgegenstand, wenn es um die lettischen Bahnstrecken geht. Zum einen müssen natürlich auch die anderen existierenden Bahnstrecken modernisiert werden, und zum anderen wird der Ankauf neuer Loks und Waggons geplant. "Der Zugankauf könnte zum größten Finanzgeschäft in Lettlands Geschichte werden" meint der lettische Journalist Aivars Ozoliņš. Zum Politikum wurde es aber vor allem dadurch, dass dieses Projekt noch an "Oligarcheninteressen" zu hängen schien, während die Regierung Dombrovskis ja mit dem Motto der Zurückdrängung dieser großen Geldgeber (sogenannten Oligarchen) auftritt. Lange war das Verkehrsministerium von der ZZS (Zaļo un zemnieku savienība) und damit von deren Finanzgeber Aivars Lembergs beherrscht. Der von der vorigen Regierung bereits abgeschlossene Vertrag mit der spanischen CAF ("Construcciones y Auxiliar de Ferrocarriles SA") über den Ankauf von 34 Elektro- und 7 Dieselloks wurde als "für Lettland ungünstig" in Frage gestellt. Partner wäre die lettische Firma "Pasažieru vilciens" (PV), bzw. deren Waggonbaufirma RVR ("Rīgas vagonbūves rūpnīca").
Als die Europäische Union Druck machte - denn 100 Millionen Lat an EU-Unterstützung der 144 Millionen an Gesamtkosten waren bereits zugesagt - wurde im April 2012 ein neuer Vertrag unterschrieben, der aber auch nur dann in Kraft tritt wenn das Minsterkabinett ihn innhalb von sechs Monaten bestätigt. Das lettische Finanzministerium äußerte Einwände vor allem gegen den zweiten Teil des Vertrag, bei dem es nicht um den Ankauf, sondern um die Wartung der neuen Züge geht: auf 30 Jahre soll dies 280 Millionen Lat wert sein. Auch den Rücktritt von Justizminister Gaidis Bērziņš brachten einige politische Beobachter mit den Verhandlungen um eine Neufassung der Verträge in Zusammenhang, denn Bērziņš galt manchen als Vertreter der Interessen von Lembergs.

Werbeaussage im Bahnhof Riga:
"Zum Frühstück in Moskau, zum Abendessen in Riga"
Inna Šteinbuka, Lettlands Vertreterin bei der Europäischen Kommission, erneuterte kürzlich ihre Bedenken, Lettland könne die EU-Unterstützung in dieser Sache verlieren, wenn sich die Regierung nicht sehr bald mit den spanischen Partnern in allen Punkten einige. Der Gesamtwert des Vertragsumfangs soll sich auf 600 Millionen Euro belaufen. Noch immer wurden Einzelheiten zu den angeblichen Änderungen im Vertrag mit der CAF nicht veröffentlicht - die ja angeblich längst als Gewinnerin der Ausschreibung zu dem Projekt galt (und dabei den ursprünglichen Favoriten, die Firma "Bombardier", verdrängte). Wie kann man eine Ausschreibung als beendert erklären, danach aber vertraglich zugesagten Bedingungen als "ungünstig" für die lettische Seite erklären? Das ist wohl nur mit der lettischen Art des Bahnfahrens - mit vielen Zwischenstopps und Wechsel der Lokführer sozusagen - zu erklären.
Aus lettischer Sicht wichtig wird es sein, dass RVR weiterhin Züge und Waggons in Lettland bauen kann, und diese auch dem osteuropäischen Markt anbieten kann - in den vergangenen Jahren hatte RVR ähnliche Projekte mit Finnland, Georgien, Litauen, Estland, Russland und Georgien erfolgreich durchführen können. Die nächsten Monate werden zeigen, ob diese Arbeitsplätze und damit die lettische Waggonbautradition gesichert werden können.

11. Juli 2012

Ein Umzugsjahr

Das Richtfest ist längst gefeiert, aber auf die Inbetriebnahme im neuen Gebäude muss die Lettische Nationalbibliothek noch eine Weile warten.
Für den Nationalfeiertag dieses Jahres (18.November) ist die Beendigung aller Arbeiten am Gebäude vorgesehen. Aber erst ein Jahr später, Ende 2013, wird das neue Haus dann fertig zur Eröffnung sein: ein ganzes Jahr lang wird umgezogen - aus fünf bisherigen Gebäuden hinein ins neue Domizil.
Langsames Werden:
"Gaismas Pils"
nimmt
Gestalt an
Erst kürzlich durften sich interessierte Vertretern der lettischen Regierung von den Bibliotheks-Verantwortlichen erzählen lassen, alles sei vorbereitet für den Ortswechsel: Tausende Bücher mussten abgestaubt und gesäubert, manche restauriert, Inhalte erfasst und Kataloge elektronisch erstellt werden. Sorgen bereitet noch die verfügbare Finanzierung: zwischen 1998 und 2008 waren es 170.000 Lat pro Jahr (245.000 Euro), seit 2008 wurde diese Summe um 52% zusammengestrichen; unter anderem der Ankauf fremdsprachiger Literatur sei von den Kürzungen betroffen, heißt es.Auch die Arbeiten an der Fassade des neuen Gebäude mussten 2009 zwischenzeitlich schon einmal für eine kurze Zeitspanne eingestellt werden.

In der Zeitschrift IR ist eine Aufstellung nachzulesen, die noch mehr Zahlen zusammenzufassen versucht: 637 Lastwagenladungen würden demnach für die geschätzten 3,8 Millionen einzelne Einheiten und deren Umzug nötig sein, dazu weitere 66 Ladungen für Dokumentation und Archiv. Auf die 328 Angestellten der Nationalbibliothek (30% weniger als noch im Jahr 2008) kommen geschätzte 176 Arbeitstage allein für den Umzug zu.
Der 29.August 1919 gilt als Gründungstag der Lettischen Nationalbibliothek - an welchem Datum genau der erste Besucher oder die erste Besucherin über die Schwelle des neuen Gebäudes treten wird, scheint momentan aber noch nicht endgültig festgelegt. Aber alle werden froh sein, wenn das Projekt zum Kulturhauptstadtjahr 2014 in Funktion sein wird.

Webseite der Lettischen Nationalbiliothek / Webseite des Neuen Bibliotheksgebäudes

6. Juli 2012

Lüneburg lettisch

Sehr stark repräsentiert zeigte sich Lettland auf dem Internationalen Hansetag in Lüneburg. Gleich sieben lettische Städte mit Hansetradition (Cēsis, Koknese, Kuldīga, Limbaži, Riga, Straupe, Valmiera) waren in Lüneburg vertreten - nur Ventspils war diesmal offenbar nicht dabei. Gute Gelegenheit sich gerade gegenüber den Deutschen mal ins rechte Licht zu setzen, denn unter den etwa 100 möglichen deutschen Mitgliedern der Neuen Hanse (nicht alle Städte mit Hansetradition sind aktiv dabei) bieten sich den lettischen Gästen reichlich Möglichkeiten, neue Kontakte zu knüpfen und sich bekannter zu machen.

Harmony4Riga - Hansetage Lüneburg 2012 c/o Albert Caspari on Vimeo.
Während es deutsche Zuhörer bei der Musik des Barbershop-Quartetts "Harmony4Riga" relativ leicht gemacht wurde (Lieder in Deutsch und Englisch, kleine, gut moderierte Bühne), hatten es die Musikgruppen aus Koknese und Limbaži schon etwas schwerer. Auf riesigen Bühnen, ungewohnt hoch und weit weg vom Publikum gebaut, fanden sich Musiker/innen und Tänzer/innen platziert. Aber siehe da, "inter-lettische" Unterstützung nahte! Während oben das Programm lief, brachen unten die übrigen Lettinnen und Letten aus Straupe, Riga oder Valmiera die Hemmschwellen und griffen sich deutsche Tanzpartner/innen.
Insgesamt war die starke lettische Repräsentanz auffällig für alle Lettland-Fans. Auch die Musikerinnen und Musiker hatten offenbar Spaß am Ereignis: immer wieder waren sie entweder in den Lüneburger Altstadtstraßen oder an den Infoständen der lettischen Hansestädte musizierenderweise anzutreffen.

mehr Fotos  /  Webseite Hansetag 2012

hansetage lueneburg 2012 lemisele von Albert Caspari on Vimeo.